Der Freund der Toten (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
384 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8938-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Freund der Toten -  Jess Kidd
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Ein kleines Dorf, sein dunkles Geheimnis und eine gefährliche Begegnung mit der Vergangenheit ... Der charmante Gelegenheitsdieb Mahony glaubte immer, seine Mutter habe ihn aus Desinteresse 1950 in einem Waisenhaus in Dublin abgegeben. Sechsundzwanzig Jahre später erhält er einen Brief, der ein ganz anderes, ein brutales Licht auf die Geschichte seiner Mutter wirft. Mahony reist daraufhin in seinen Geburtsort, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Sein geradezu unheimlich vertrautes Gesicht beunruhigt die Bewohner von Anfang an. Mahony schürt Aufregung bei den Frauen, Neugierde bei den Männern und Misstrauen bei den Frommen. Bei der Aufklärung des mysteriösen Verschwindens seiner Mutter hilft ihm die alte Mrs Cauley, eine ehemalige Schauspielerin. Furchtlos, wie sie ist, macht die Alte nichts lieber, als in den Heimlichkeiten und Wunden anderer herumzustochern. Sie ist fest davon überzeugt, dass Mahonys Mutter ermordet wurde. Das ungleiche Paar heckt einen raffinierten Plan aus, um die Dorfbewohner zum Reden zu bringen. Auch wenn einige alles daran setzen, dass Mahony die Wahrheit nicht herausfindet, trifft er in dem Ort auf die eine oder andere exzentrische Person, die ihm hilft. Dass es sich dabei manchmal auch um einen Toten handelt, scheint Mahony nicht weiter zu stören ... »Ein umwerfendes literarisches Debüt voll beißendem Humor« DAILY EXPRESS

JESS KIDD, 1973 in London geboren, hat Literatur an der St. Mary's University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman >Der Freund der Toten<, der auf der Krimibestenliste stand, sowie 2018 und 2019 die Romane >Heilige und andere Tote< und >Die Ewigkeit in einem Glas<. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.

1

April 1976

Mahony schultert seinen Rucksack, steigt aus dem Bus und steht genau in der Mitte des Dorfes Mulderrig.

Heute ist Mulderrig nur ein freundliches Fleckchen Erde, entspannt und lässig in der Sonne ausgestreckt. Scheinbar harmlos.

Könnte Mahony sich an das Dorf erinnern, was er natürlich nicht kann, würde er feststellen, dass sich seit seinem Fortgang nicht viel verändert hat. Mulderrig verändert sich nicht, weder schnell noch langsam. Sechsundzwanzig Jahre machen da keinen Unterschied.

Mulderrig ist ein Dorf wie kein anderes. Hier sind die Farben ein kleines bisschen leuchtender, und der Himmel ist ein kleines bisschen weiter. Hier sind die Bäume so alt wie die Berge, und ein klarer Fluss fließt ins Meer. Seine Einwohner bleiben von Geburt an hier, bis sie sterben. Sie wollen nicht weg. Wieso sollten sie auch, wo doch alle Straßen, die nach Mulderrig führen, bergab gehen, sodass das Fortgehen anstrengend und mühsam wäre?

Um diese Tageszeit sind die wenigen Geschäfte verrammelt und verriegelt, die Ladenschilder pendeln in einem munteren Feierabend-Rhythmus, und die Reklamen über den von der Sonne erwärmten Schaufenstern leuchten auf und verblassen. Auf der ganzen Hauptstraße, von Adairs Apotheke bis zu Farrs Bekleidungsgeschäft, von der Rechtsanwaltskanzlei Gibbons & McGrath bis zum Gemischtwarenladen mit Postschalter rührt sich nichts.

Zwei Alte sitzen an der bemalten Wasserpumpe mitten auf dem Dorfplatz. Heute ist kein Wort aus ihnen herauszubekommen: Das Wetter hat ihnen die Sprache verschlagen, denn es hat seit Tagen und Tagen und Tagen nicht geregnet. Es ist der heißeste April seit Menschengedenken. So heiß, dass den Krähen beim Fliegen die Zunge raushängt.

Der Busfahrer nickt Mahony zu. »Es ist, als würde das Dorf hundert Sommer gleichzeitig erleben, und dabei schüttet es gerade mal eine Meile von hier an der Küste wie aus Kübeln, und es pfeift ein Wind, von dem einem der Hintern abfriert. Wenn Sie mich fragen«, sagt der Fahrer, »verheißt das einen Riesenhaufen Ärger.«

Mahony sieht dem Bus hinterher, der in einer brütend heißen Sandwolke vom Dorfplatz rollt. Er fährt ohne Passagiere zurück über die schmale Steinbrücke, die einen apathischen Fluss überspannt. Bei diesem Wetter wird alles, was sich bewegt, mit einer feinen Membran aus Staub überzogen. Aber im Moment bewegt sich bloß eine Schar Kinder, die verspätet nach Hause rennen und deren helle Rufe ihnen nachhallen. Die Mammys sind drinnen und machen Abendessen, und die Daddys sind drinnen und können es nicht erwarten, auf ein Bier in den Pub zu gehen. Somit ist Tadhg Kerrigan die erste lebende Seele im Dorf, die Mahonys Rückkehr mitbekommt.

Tadhg macht gerade die Tür zu Kerrigan’s Bar auf, nachdem er ein schweres Fass ausgetauscht und eine Kellerratte mit messerscharfer Zunge bedroht hat. Er hält sein rotes Gesicht hoch, um ein wenig Sonne zu tanken, und kratzt sich derweil konzentriert am Hintern. In Gedanken ist er bei der Witwe Farelly, ihrem neuen Bungalow, ihren wunderbar weißen Gardinen und ihrem verlockend fülligen Busen.

Tadhg beäugt Mahony, der über den Dorfplatz auf den Pub zusteuert. So, wie der aussieht, denkt Tadhg, ist er entweder ein Dichter oder ein Großmaul, mit den langen Haaren und der Lederjacke und diesem Gang, als könnte ihm keiner was.

»Alles klar?«

»Bestens«, sagt Mahony, stellt seinen Rucksack ab und lächelt durch seine Haare hindurch, die ungewaschen aussehen und ihm ein ganzes Stück über die Ohren gewachsen sind.

Tadhg befindet, dass der Bursche ganz sicher ein Großmaul ist.

Ob die Toten von Mulderrig derselben Meinung sind oder nicht, ist schwer zu sagen, aber sie werfen erste vorsichtige Blicke aus Schlafzimmerfenstern oder schweben zaghaft aus kleinen Gassen hervor, verharren jäh und gaffen.

In einem Leben wie dem von Mahony sind die Toten nämlich stets ganz in der Nähe. Die Toten zieht es zu den Verwirrten und Ungeschriebenen, den Beschädigten und Gebrochenen, zu denen mit großen Rissen und Lücken in ihren Geschichten, die die Toten furchtbar gern füllen würden. Denn die Toten haben gebrauchte Geschichten für dich, wenn du sie hereinlassen würdest.

Aber die Toten können beobachten. Und sie können warten.

Denn Mahony sieht sie jetzt nicht.

Er sieht sie schon lange nicht mehr.

Jetzt sind die Toten darauf beschränkt, kurz durch den Raum zu huschen, wenn das Licht ausgeschaltet ist, oder mitunter am Rande seines Gesichtsfeldes zu flattern. Jetzt kann Mahony sie ausblenden, etwa so, wie du das Ticken einer überlauten Standuhr ausblenden würdest.

Daher übersieht Mahony die tote alte Frau, die neben Tadhgs rechtem Ellbogen den Kopf durch die Wand steckt. Und auch Tadhg übersieht sie, weil er wie die meisten von uns mit einem beruhigenden Mangel an Visionen gesegnet ist.

Die tote alte Frau öffnet ein Paar fahle Augen, so rund wie Soleier, und sieht Mahony an, und Mahony schaut weg und lächelt Tadhg voll ins breite Gesicht. »Kann man hier im Ort irgendwo ein Zimmer mieten, Kumpel?«

»Hier gibt’s keine Arbeit.« Tadhg verschränkt die Arme hoch auf der Brust und schnieft traurig.

Mahony holt eine halb volle Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche, und Tadhg nimmt eine. Sie stehen eine Weile da und rauchen, Tadhg in die Sonne blinzelnd, Mahony mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht. Die tote Alte gleitet ein paar Zentimeter oberhalb des Bürgersteigs aus der Wand und deutet rätselhafterweise nach unten Richtung Keller, brabbelt dabei undeutlich vor sich hin.

Mahony intensiviert sein Lächeln, und sein Gesichtsausdruck ist so natürlich offen und liebenswert, dass er selbst den härtesten Kerl der Welt bezaubern könnte. »Tja, Arbeit ist das Letzte, was ich brauche. Ich will mich bloß ein Weilchen von der Großstadt erholen.«

»Aus der Großstadt also, was?«

Die tote Alte rückt Mahony dicht auf die Pelle und flüstert ihm etwas ins Ohr.

Mahony zieht an seiner Zigarette und pustet den Rauch aus. »Genau. Mit dem Krach und den Autos und den Ratten.«

»Da gibt’s Ratten?« Tadhg kneift die Augen zusammen.

»So groß wie Schafe.«

Tadhg bleibt äußerlich ungerührt, obwohl er tief in seiner Seele mitfühlt. »Ratten sind ein Riesenproblem weltweit«, sagt er weise.

»Auf jeden Fall in Dublin.«

»Und was führt dich hierher?«

»Ich wollte mal ein bisschen Ruhe und Frieden. Weißt du, dass auf der Landkarte um euch herum nichts ist?«

»Du willst also zum Arsch der Welt?«

Mahony blickt nachdenklich. »Ganz ehrlich? Ich glaube, ja.«

»Glückwunsch, du hast ihn gefunden. Bist du hier im Wilden Westen auf der Flucht?«

»Könnte man so sagen.«

»Vor einer Lady oder vor der Polizei?«

Mahony nimmt seine Kippe aus dem Mund und schnippt sie in Richtung der toten Alten, die ihm einen zutiefst angewiderten Blick zuwirft. Sie hebt ihren schattenhaften Rock und huscht zurück durch die Wand des Pubs.

»Eine Lady war sie nicht.«

Tadhgs Gesicht zuckt, als er sich ein Lächeln verkneift. »Wie ist denn der Name?«

»Mahony.«

Tadhg registriert einen guten, festen Händedruck. »Na dann, Mahony.«

»Also, finde ich heute Abend noch irgendwo ein Bett oder muss ich mich zu den alten Herrschaften da auf die Bank legen?«

Tadhg hält einen Furz zurück, aber nur solange er nachdenkt. »Shauna Burke vermietet Zimmer an zahlende Gäste im Rathmore House oben im Wald. Das wär’s auch schon so ziemlich.«

»Würde mir reichen.«

Tadhg mustert Mahony eingehend. Er muss zugeben, der Mann macht was her. Stattliche Größe, und er sieht kräftig aus, wie einer, der zupacken kann. Er ist keine zwanzig mehr, wird aber auch mit dreißig noch jungenhaft wirken, weil er so ein Gesicht hat, das irgendwie jung bleibt. Aber er müsste sich dringend mal waschen; sein Kinn hat seit Tagen keinen Rasierer mehr gesehen. Und die Hose, die er da anhat, ist lächerlich: eng im Schritt und unten so weit, dass er damit die Hauptstraße fegen könnte.

Tadhg deutet mit dem Kinn darauf. »Sind die jetzt in Mode?«

»Sind sie, ja.«

»Kommst du dir nicht ein bisschen bescheuert vor, so rumzulaufen?«

Mahony schmunzelt. »In der Stadt laufen alle so rum. Es gibt welche, die sind noch weiter.«

Tadhg zieht leicht die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Aber ein kräftiger Windstoß könnte dir glatt die Beine wegziehen.«

Tadhg ist sicher, dass die jungen Frauen hin und weg wären, wenn dieser Bursche sich mal rasieren oder ein Stück Seife in die Hand nehmen würde. Und Mahony weiß das auch. Das verraten die Art, wie er lächelt, und das Licht in seinen dunklen Augen. Und die Art, wie er sich bewegt, als wäre er völlig mit sich im Reinen.

Tadhg zieht die Mundwinkel hoch. »Du solltest dich vor dem anderen Gast im Rathmore House in Acht nehmen, Mrs Cauley. Die Frau hat es in sich.«

»Nach dem, was ich hinter mir habe, werd ich garantiert auch mit ihr fertig.« Und Mahony richtet seine lachenden Augen auf Tadhg.

Nun ist Tadhg wahrlich kein Mann, der zu tiefen Einsichten neigt, aber plötzlich ist er sich in zwei Dingen ganz sicher.

Erstens: Er hat diese Augen schon mal gesehen.

Zweitens: Ihn trifft sehr wahrscheinlich gerade der Schlag.

Denn schlagartig strömt Tadhgs Blut zum ersten Mal seit sehr langer Zeit rasend schnell durch seinen Körper, und er weiß, dass es nicht gut sein kann, einen Kreislauf, der auf ein behagliches Schneckentempo eingerostet ist, derart in Wallung zu bringen. Tadhg legt die Hände aufs Gesicht und lehnt sich schwer gegen die Pub-Tür. Er kann förmlich spüren, wie ein...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2017
Übersetzer Klaus Timmermann, Ulrike Wasel
Sprache deutsch
Original-Titel Himself
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Krimi / Thriller / Horror
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ISBN-10 3-8321-8938-6 / 3832189386
ISBN-13 978-3-8321-8938-9 / 9783832189389
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