Wer's findet, dem gehört's (eBook)
608 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-18983-9 (ISBN)
In Wer's findet, dem gehört's gewährt Sedaris der Welt zum ersten Mal Einblick in seine privaten Aufzeichnungen - eine persönliche Erzählung davon, wie ein drogensüchtiger Schulabbrecher mit dem Talent, jeden Job zu verlieren, zu einem der lustigsten Menschen auf dem Planeten wurde. Die meisten Tagebücher - sogar die großer Schriftsteller - sind unvorstellbar dröge, weil sie von Gefühlen, Träumen, dem Innenleben handeln. Sedaris' Tagebücher sind einzigartig, weil sie sich nach außen wenden. Er erklärt uns nicht, wie sich die Welt für ihn anfühlt, er zeigt uns die Welt, und damit auch, was ihn wirklich ausmacht.
Wer's findet, dem gehört's belegt, dass Sedaris - mit seinem scharfen Blick und offenen Ohr für das Bizarre, das Schöne und das Unbequeme und mit seiner Großherzigkeit, die nicht einmal sein misanthropischer Sinn für Humor ganz verbergen kann - zu einem unserer besten Beobachter gehört.
David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt in England. Er schreibt u. a. für den New Yorker und BBC Radio 4. Mit seinen Büchern Naked, Fuselfieber, Ich ein Tag sprechen hübsch und Schöner wird's nicht wurde er zum Bestsellerautor. Zuletzt erschienen im Blessing Verlag Das Leben ist kein Streichelzoo. Fiese Fabeln (2011), Sprechen wir über Eulen - und Diabetes (2013), Calypso (2018) und Bitte lächeln! (2023) sowie seine vielbeachteten Tagebücher Wer's findet, dem gehört's (2017) und Kleine Happen (2023).
1977
5. September 1977
Sacramento, Kalifornien
Ronnie und ich wurden von Lonnie und Tammy mitgenommen, die zum Mount Shasta wollen. Die State Fair ist in der Stadt, und Shari Lewis tritt auf. Wir schliefen im Freien am Ufer des American River.
8. September 1977
Mount Hood, Oregon
Abstecher auf dem Weg nach Yakima. Wir trafen ein Paar namens Pops und Jeannie, die uns morgen früh um sechs zu einer Obstplantage mitnehmen wollen. Pops, der sich selbst als »Obst-Tramp« bezeichnet, meint, Ronnie und ich könnten bis zum Ende der Saison zusammen $300 verdienen.
Wir übernachten auf einem Golfplatz. Ich fühle mich wie immer vor Beginn eines neuen Jobs – nervös.
11. September 1977
Odell, Oregon
Ich frage mich, wie lange drei Minuten sind? Auf dem Holzofen steht ein kleiner Topf mit weich gekochten Eiern. Heute ist Sonntag, unser freier Tag. Es regnet. Ronnie und ich wohnen in einer Blockhütte mit einem durchgelegenen Bett mit Messinggestell, einem Kühlschrank, vier Stühlen, einem Tisch und jeder Menge Holzscheite. Manchmal kommt eine Katze vorbei und ich füttere sie (oder ihn?) mit Hot Dogs. Meine Socken trocknen, der Boden müsste gefegt werden, und das Paar im Wohnwagen nebenan sitzt beim Essen. Heute Morgen habe ich die Frau im Bademantel zum Klohäuschen schlurfen sehen.
Wir arbeiten für einen Mann namens Norm. Seine Freunde nennen ihn Peewee. Es ist so kalt, dass ich meinen Atem sehe. Eicheln prasseln auf unser Dach.
20. Oktober 1977
Vancouver, British Columbia
Nach einem Hotel für $8.50 die Nacht haben Ronnie und ich ein Apartment für uns beide für $30 die Woche gefunden. Ich mache mir Sorgen ums Geld, aber was weg ist, ist weg. Ich habe meine erste Zigarette geraucht. So peinlich es ist, aber einem wird davon schwindlig. Zumindest mir, auf der Davie Street.
25. Oktober 1977
Vancouver
Ich habe jetzt eine schwarze Jacke und eine schwere braune Wollhose, die mir bis über den Nabel reicht und unten an den Knöcheln zugeknöpft wird. Eine kanadische Armeehose? Was Kleidung angeht, braucht mir nur jemand zu sagen, »Das steht Ihnen gut«, und schon kaufe ich es. Als ich nachher glücklich mit meiner neuen Uniform die Straße entlanglief, starrte ein Typ mich an und sagte zu seinem Kumpel: »Was ist das für eine Schwuchtel?«
Im gleichen Moment kam ich mir wie ein Idiot mit bescheuertem Outfit vor. Ronnie und ich fahren morgen weiter. Ich bin froh wegzukommen.
Die Trockner kosten in Kanada 10 Cent für eine Viertelstunde.
26. Oktober 1977
Everett, Washington
Im Beehive Café kostet ein Ei 25 Cent. Bei Denny’s kostet ein Ei $2.
Gestern trampten wir mit zwei Fischern, Ed und Reilly. Anschließend wurden wir von Mark mitgenommen, der uns in seinem Wohnwagen übernachten ließ. Um sechs Uhr früh sprang er nackt in den Wohnraum und sagte: »Auf geht’s!«
Er befand sich auf der Rückfahrt vom Klassentreffen seiner Highschool. Er hat dort in der Kapelle mitgespielt.
27. Oktober 1977
Blaine, Oregon
Irgendein Arschloch blieb gestern Abend stehen, zeigte auf Ronnie und sagte: »Ich nehme das Mädchen.«
29. Oktober 1977
Portland, Oregon
Ronnie und ich sind im Broadway Hotel untergekommen, einer billigen und deprimierenden Absteige. Beängstigend. Es gibt echte Armut und funky Armut. Das hier ist die echte Sorte. Die Lobby ist voll von sterbenden alten Leuten, Krüppeln und einem Mädchen, das einen Hamburger nach dem anderen aß und sich auf jeden Bissen Ketchup spritzte. Die Toiletten befinden sich am Ende des Flurs. Auf unserem Teppich sind Kotzflecken. Wir haben einen zerfetzten Küchenstuhl und ein widerliches Bett. Im ersten Stock riecht es nach Doughnuts, aber bei uns stinkt es nach Kotze und Pisse. Unsere Zimmernachbarn, allesamt Penner und Gestrandete, sind diejenigen, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.
6. November 1977
San Francisco, Kalifornien
Ich habe zu Hause angerufen und mit Mom gesprochen. Es war schön, ihre Stimme zu hören, und ich wollte nicht wieder auflegen. Sie sagte, Paul sei gekränkt, weil ich ihm nicht geschrieben habe, dabei habe ich das erst vor ein paar Tagen gemacht.
9. November 1977
Bakersfield, Kalifornien
Endlich haben wir es bis Bakersfield geschafft. Die Landschaft ist flach und voller struppiger Büsche. Ein Typ namens Doug nahm uns ein gutes Stück mit und erzählte uns von seinem Cousin, der niedergestochen wurde.
Gestern Nacht, als wir in unseren Schlafsäcken auf einer Weide lagen und zu den Sternen hinaufsahen, habe ich mein Herz ausgeschüttet und Dinge gesagt, die ich kaum mir selbst einzugestehen wagte. Aber es fühlte sich gut an und ganz und gar nicht so hoffnungslos, wie ich befürchtet hatte. Alles das steckte schon viel zu lange in mir drin.
11. November 1977
Kingman, Arizona
Gestern Nacht krochen wir zum Schlafen in das trockene, sandige Flussbett neben der Texaco-Tankstelle gegenüber der Liberty Bell Lounge. Die Luft ist warm, und wir warten auf Al, den Apachen, der uns vom Hoover-Damm gerettet hat. Ronnie und ich hingen für Stunden da rum. Einmal hielt ein Polizist und sagte, das sei ein ungünstiger Platz zum Trampen. Ach ja?
Es wurde dunkel. Um einen Schlafplatz zu finden, mussten wir über lauter scharfkantige Felsen klettern. Neben dem Cola-Automaten am Mead-Lake-Aussichtspunkt aßen wir eine Dose Kidneybohnen. Ich weiß nicht mehr, von welcher Firma. Kein Kleingeld, also keine Cola. Dann hielten Al und Phil an. Ihr Wagen war bis oben hin bepackt, aber Al sagte, er könne es nicht ertragen, jemanden an einem so gottverlassenen Ort gestrandet zu sehen. Sie verbrachten die Nacht im B&R Motel, versprachen aber, uns am nächsten Morgen abzuholen und mit nach Phoenix zu nehmen.
Vor ein paar Tagen sagte jemand, »Was auch immer ihr macht, bleibt bloß nicht in Kingman hängen«, aber Phil meint, »Man soll nicht alles glauben, was man hört, und nur die Hälfte von dem, was man sieht.«
12. November 1977
Tuscon, Arizona
In Tuscon treiben sich jede Menge älterer Tramper herum. Im Pissoir traf ich Jimmy Buck. Er bot uns eine Fahrt nach Texas an – knapp eintausend Kilometer –, wenn wir ihm helfen würden, einen Lkw mit Trauben zu entladen. Das taten wir und sind nun unterwegs.
16. November 1977
Temple, Texas
Zivilisation heißt, nicht fünf Stunden auf die nächste Mitfahrgelegenheit warten zu müssen. Round Rock ist zivilisiert, Austin auch, aber bei Temple bin ich mir nicht so sicher.
Gleich nachdem ich das aufgeschrieben hatte, hielt ein Scientologe in einem Rambler an, ein Wandmaler aus Dallas. Ein netter Typ. Ronnie ließ nachher ihre Gitarre im Wagen liegen. Tschüss, Gitarre. Der Scientologe hörte Kassetten beim Fahren. Wir rauchten Gras. In Austin wurden wir von einem Alkoholiker mitgenommen. Er war schon viermal wegen Trunkenheit am Steuer im Gefängnis. »LMAA«, sagte er, »Leck mich am Arsch.« Er sagte, im Augenblick wäre er nicht betrunken, aber wenn er jetzt pusten müsste, würden sie ihn garantiert wieder einbuchten.
21. November 1977
West Virginia?
Ronnie und ich haben uns in Cullowhee getrennt. Sie ist unterwegs nach Raleigh, während ich unter einer Autobahnbrücke darauf warte, dass der Regen aufhört. Schon mehrmals haben heute Fahrer angehalten und sind dann lachend weitergefahren, wenn ich mich dankbar und erleichtert ihrem Wagen näherte. Hier unten gibt es jede Menge toter Vögel. Ich fühle mich kribbelig.
23. November 1977
Kent, Ohio
Ich bin gestern Nachmittag hier angekommen. Dann haben Todd und ich je drei Zuckerwürfel mit Acid eingeworfen. Zu viel. Es war ein echt beschissener Trip, der reinste Horror, und hätte ausgereicht, sich zum Christentum zu bekehren. Ich bin seit zwei Tagen auf den Beinen.
Beim Trampen von Cullowhee hierher bin ich zum ersten Mal ins falsche Auto gestiegen – zu einem Fünfunddreißigjährigen mit Flaggenstickern auf der Windschutzscheibe seines Pick-ups. Ray T. war sein Name. Er lud mich in Knoxville ein und sagte, er würde mich gut sechzig Kilometer weit mitnehmen. Zuerst spielte er drei Stunden lang Billard und trank Bier. Ich saß draußen in einem Schaukelstuhl und rauchte einen Joint. Ich hätte verschwinden sollen, aber der Highway war gottverlassen. Kein Auto weit und breit, und bis zur nächsten Interstate waren es dreißig Kilometer.
Als Ray T. aus der Bar kam, torkelte er und konnte nicht mehr klar reden. Ich beschloss, an der nächsten belebten Straße auszusteigen, schließlich fährt niemand gerne mit einem Betrunkenen. Es war schwierig, seiner Unterhaltung zu folgen, und alle paar Kilometer hielt er an, um zu pinkeln oder eine Zigarette zu rauchen. Zwischendurch entdeckte er zwei Anhalterinnen am Straßenrand und brachte sie bis vor ihre Haustür. Dann aß er einen Cheeseburger. Es fing wieder an zu regnen. Als wir die Interstate erreichten, sagte ich: »Sie können mich hier rauslassen.«
Er weigerte sich und sagte, er könne mich unmöglich bei diesem Wetter trampen lassen. Stattdessen sollte ich die Nacht mit ihm verbringen. Er war betrunken und grölte: »Ray T. bekommt immer, was er will, und genau das will ich.«
Ich bat ihn erneut, mich aussteigen zu lassen, doch wieder lehnte er ab. Dann begann er mir Fragen zu stellen. »Wann hast du dir zuletzt einen runtergeholt? Kriegst du schon mal einen Steifen, wenn du bloß dran denkst?« Er forderte mich auf, näher zu ihm zu rücken, und als ich mich weigerte, packte er mich,...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2017 |
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Übersetzer | Georg Deggerich |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Theft by Finding. Diary |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | 1977 • Biografie • Biographien • eBooks • Fundunterschlagung • Künstlerleben • Naked • Tagebuch • Tagebuchnotizen |
ISBN-10 | 3-641-18983-7 / 3641189837 |
ISBN-13 | 978-3-641-18983-9 / 9783641189839 |
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