Bornholmer Novellen (eBook)

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2017 | 1. Auflage
200 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1250-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bornholmer Novellen -  Martin Andersen Nexø
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Eine kleine Insel und große Naturgewalten.

Die »Bornholmer Novellen« sind Martin Andersen Nexøs populärste Sammlung. Er kannte die Insel und seine Bewohner wie kein anderer. Hier hatte der gebürtige Kopenhagener seine Kindheit und Jugend verbracht. In seiner unverwechselbaren, bildhaften Sprache erzählt er von Alten und Jungen, Abenteurern und Sesshaften, Seefahrern und Dörflern. Kopfüber stürzen sie sich in den Lebensstrudel, denn die ungestüme Natur hat sie gelehrt, für eine Brise Glück alles zu riskieren ...

Eine Reise in eine untergegangene Welt - und bestechende Beobachtungen darüber, was uns zu den Menschen werden lässt, die wir sind. 

»Stücke, die einen kleinen Strahlenkranz der Ewigkeit um sich tragen, wenn etwa Nexø von den Küsten seiner Kindheit spricht, ... von den starken, schrecklichen Menschen, die zu seiner Kinderzeit umhergingen, unendlich trinken, aber auch zaubern und hexen konnten.« Hans Fallada.



Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexø am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.

Fränke


Ein dicker, behaarter Arm kam unter dem schweren Oberbett hervor, faßte die Bettkante und stemmte den wuchtigen Körper empor. Bett und Boden knackten unter dem Gewicht, und durch die Bretter der Stubendecke rieselte Staub herab; sie schob die Unterlippe breit vor und pustete über das Gesicht, um ihn zu entfernen.

Hockend saß sie da und starrte gedankenlos in das Dunkel, gähnte einige Male langgezogen und schmatzte mit den breiten Lippen. Sie sann darüber nach, warum sie eigentlich aufgewacht war. Die Laterne draußen auf der Straße brannte noch, es konnte also nicht einmal Mitternacht sein. Oder war es etwa doch die Zeit, um die sie aufzustehen pflegte? Schläfriger als sonst war sie ja nicht. Der Laternenanzünder war vielleicht gestern abend betrunken gewesen und hatte vergessen, das Licht auszulöschen.

Aus dem Stroh unter dem Kopfpolster scharrte sie die Streichhölzer hervor und zündete eins an, um zu sehen, wieviel Uhr es sei. Halb zwölf! Sonderbar, daß sie so früh munter geworden war, wo sie doch sonst nie vor fünf aufwachte, außer wenn sie sich’s bestimmt vornahm. Hatte sie am Ende gar nicht geschlafen?

Ob der Mieter inzwischen heimgekommen war? Sie hatte ihn nicht durch die Stube gehen hören. Also hatte sie wohl doch geschlafen? Ja freilich, geschlafen hatte sie. Und der Alp hatte sie gedrückt, obwohl ihre Schuhe so vor dem Bett standen, wie sie stehen sollten: mit den Spitzen nach außen. Sie hatte so garstig geträumt – daß man sie mit Petroleum übergoß und anzündete.

Sie fror im Rücken und kroch unter die Decke zurück, um weiterzuschlafen, aber wieder tauchte die Frage nach dem Mieter auf. War er am Ende doch daheim? Leise stand sie auf, stahl sich im bloßen Hemd zu seiner Tür und lauschte. Es war kein Schnarchen zu hören, und aus dem Schlüsselloch fiel kein Licht. Da, nun wußte sie es, sie hatte abends nachgedacht, um welche Zeit er eigentlich heimkomme. Sie machte leise die Tür auf und sah hinein: Er war nicht da – gottlob! Ganz mechanisch zog sie sich an: Unterröcke und Kleid, gestrickte Jacken und Tücher. Während des Ankleidens wurde sie nach und nach steif und unbeholfen; sie pustete schwer, und zwei lange weiße Dampfstreifen zogen aus ihren Nasenlöchern in den feuchtkalten Raum. Zuletzt hüllte sie sich den Kopf mehrmals ein, so daß nur die Augen frei blieben, steckte ein Bund Schwefelhölzer zu sich, löschte das Talglicht aus und ging fort.

Es war Frost und Windstille, die Sterne funkelten wie fröhliche Kinderaugen um ein Feuer, und zur Rechten über dem See lag eine dünne singende Decke – das erste Eis. Auf der anderen Seite ruhte das Meer und schickte von Zeit zu Zeit eine lange Dünung über die Ufersteine herein. Es klang wie das Atmen der schlafenden Vorsehung.

Fränke nahm den Weg, der aus dem Ort hinausführte. Sie hatte die Bettwärme noch in sich und zog die Luft wie eine Schlafende langsam und hörbar ein. Nur auf das eine achtete sie: sich stets in Dunkeln längs der Häuserreihe zu halten; sonst schlief alles in ihr.

Am Bach setzte sie sich aus alter Gewohnheit nieder, zog Stiefel und Strümpfe aus und knüpfte sie in ein Tuch. Dann ging sie mit bloßen Füßen auf der Landstraße weiter. Ihr Tritt war breit und derb, ihre Gestalt bewegte sich während des Gehens langsam auf und nieder wie ein Stempel – ein großer, schwer arbeitender Stempel, der lieber alles auf seinem Weg zermalmen als seitwärts ausbiegen würde. Die gefrorene Erde brannte ihr in den Fußsohlen, aber sie trat fest auf, und bald wurden sie warm.

Bald erreichte sie den schwarzen Fichtenwald. Ein langer gerader Pfad führte durch ihn hindurch, eine tiefe Spalte mit einem Band matten Himmels darüber. Es war pechfinster da drinnen und ein endloses Sausen und Flüstern von den Baumwipfeln. Sie hörte es und wußte, was es bedeutete, denn sie war abergläubisch. Aber sie fürchtete sich nicht.

Drinnen stand sie plötzlich still. Sie hatte beim Aufstehen das Talglicht ganz unter das Bett gehalten, um die Stiefel hervorzusuchen. Wie, wenn nun das Bettstroh Feuer gefangen hätte? Sie setzte sich auf das Moos, um darüber nachzudenken. Aber sie dachte gar nicht darüber nach, dachte überhaupt an nichts, als erwarte sie von außen her die Entscheidung, ob das Bett Feuer gefangen hatte oder nicht. Irgendwo tief in ihr, jenseits von Vernunft und Überlegungen, arbeitete es jedoch; ihre Hände holten die Streichhölzer hervor, schütteten sie in den Schoß und zählten tastend nach. Es waren dreizehn. Dreizehn war eine böse Zahl – am besten, man strich eins an. Es flackerte auf und warf ein rasches Licht um sich; dicht herum standen die nackten, geraden Fichtenstämme Seite an Seite wie die Orgelpfeifen in der Kirche. Als das Schwefelholz erlosch, überkam sie plötzlich ein Verlangen nach Feuer, und sie kroch auf allen vieren unter den Fichten herum, sammelte Nadeln und Zapfen und trug sie zu einem Haufen zusammen. Während das Feuer flackerte und knisterte und ihren Schatten nach allen Seiten hinaus- und emporwarf, ihn zusammenfaltete und wieder aufrollte wie ein mächtiges schwarzes Flügelpaar, saß sie unbeweglich da und starrte ohne Ausdruck und ohne Gedanken in die Flamme hinein, bis diese erstorben war.

Und wieder war sie auf der Wanderung, halb schlafend wie vorhin. Ab und zu erwachte sie und wunderte sich, daß sie diese und jene Stelle schon passiert hatte, ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein. Und wieder versank sie.

Ein Wagen kam herangesaust. Der Hufschlag der Pferde sang auf der gefrorenen Landstraße, und der Schall fuhr in langen Rillen über das dünne Eis des Moores. Das Moor pfiff vom einen Ende bis zum anderen, gurgelte im Schilf und gab ein langes, zitterndes Gekreisch von sich. Rasch stieg Fränke in den Straßengraben hinunter, warf sich hinter einige Schlehenbüsche und blieb dort liegen, bis der Wagen ein gutes Stück vorbei war. Der Doktor – oder die Hebamme, dachte sie, und bei dem letzten Gedanken verzog sich ihr Gesicht träge zu einem schwachen Grinsen.

Wieder rückte das Meer näher, diesmal mit weißem Sandufer. Sie war bereits weit südwärts über Land gewandert, fort von den Felsen. Nun verließ sie die Straße und schritt auf den Sand hinunter; es ging sich hier so fest und behaglich. Da und dort lagen hochgezogene Boote kieloben. Unter einem schlief ein Mann; sie hörte ihn stöhnen. Er war wohl betrunken!

An einer Stelle mündete ein Bach; dort war die Sprengelgrenze. Sie watete durch die breite Mündung und bog in die Dünen ein. Ihre Füße waren jetzt kalt und empfindlich vom Waten, und das Strandgras schnitt sie; sie mußte sich setzen und Strümpfe und Schuhe wieder anziehen, ob sie dies auch sehr über ihre Verhältnisse dünkte.

Landeinwärts der Dünen lagen von hohen schwarzen Pappeln überschattete Höfe und Häuser. Überall war man zur Ruhe gegangen. Sie hörte das Vieh in den Ställen mit den Ketten rasseln, und an einem Stall stand die Hintertür offen; man war drinnen eben dabei, eine Kuh zu entbinden. Zwei Männer standen da, die Füße gegen den Boden gestemmt, und zogen an einem Seil, das um Kopf und Vorderbeine des Kalbes gelegt war; die Kuh sträubte sich, um nicht mit hinuntergezogen zu werden. Da heißt es wohl Pferdekraft gebrauchen, ehe es gelingt, die Kuh zu entbinden, dachte Fränke. Fünische Rasse war es, soviel sie im Vorbeigehen hatte sehen können. Natürlich war das Tier erkältet; dieses fremde Vieh konnte ja das Klima nicht vertragen. Die Bauern sollten sich doch lieber an das heimische Vieh halten – das sollten sie! Aber heutzutage war ja alles auf das Fremde erpicht.

Hinter den Hügeln lagen der Reihe nach drei Höfe, schiefe, verfallene Fachwerkgebäude mit Düngerhaufen auf allen Seiten. Hier war das Ziel ihrer nun bald dreistündigen Wanderung.

Das nachlässige Schleppen verschwand nun aus ihrem Gang; sie kam langsam zum Bewußtsein und schritt vorsichtig weiter, den großen Körper behend hin und her werfend. Ein Zaunstecken packte ihr Kleid und riß einen Stein mit. Sie blieb stehen, und ihr entfuhr unwillkürlich ein beschwichtigendes Tuscheln. Ein kurzes Anschlagen des Hundes aus dem Innern des Hofes war das einzige, was sich rührte.

Sie lauschte ein wenig, ging dann vorwärts, schlich um alle vier Ecken des Gehöftes und prüfte die Außentüren. Sie waren alle von innen versperrt. Es war ziemlich finster jetzt, aber sie kannte jede Einzelheit und ging ruhig weiter. An dieser Ecke lag gewöhnlich ein Pflug – richtig, da lag er auch dieses Jahr. Bruder Jens sollte doch sein Gerät im Winter hereinnehmen; da lag es nun und verrostete. Und hier war der Pferdegöpel – gerade so, daß man darüber stolpern mußte, wenn man es nicht wußte. Und ein wenig weiter vorn der Sumpf von Stalljauche. Man könnte kaum allein wieder herauskommen, falls man hineingeriete. Genau unter der Dachtraufe gab es freilich eine Steinkante, auf der man schlimmstenfalls balancieren könnte. Aber die gebrauchten sie für ihre Notdurft, ja, das taten sie! Daß sie sich dafür nicht ein Häuschen anschaffen konnten!

Dann stand sie vor dem Hoftor und faßte ganz leise nach dem Schloß; aber der Kettenhund fing sogleich heftig zu bellen an, und sie mußte es aufgeben! Ob der Hund wohl die Leute geweckt hatte?

Nun schlich sie in den Garten und zum Schlafstubenfenster hin, um zu horchen; sie legte das Ohr an die niedrige Scheibe und lauschte – alles ruhig da drinnen. Sie konnte sie atmen hören: lang hinein und in Stößen wieder heraus – sie schliefen. Das langgezogene Rasseln, das war der Alte – er hatte Schleim auf der Brust. Und dieses Schnarchen, das wie ein...

Erscheint lt. Verlag 1.5.2017
Übersetzer Karl Schodder, Emilie Stein, Ellen Schou
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Bauern • Bornholm • Dänemark • Erzählungen • Fischer • Geschichten • Geschichtensammlung • Inselleben • Novellen
ISBN-10 3-8412-1250-6 / 3841212506
ISBN-13 978-3-8412-1250-4 / 9783841212504
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