Wien, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Der Glanz der ehemaligen Weltmetropole ist Vergangenheit, die Stadt versinkt in Hunger und Elend. Polizeiagent August Emmerich, den ein Granatsplitter zum Invaliden gemacht hat, entdeckt die Leiche eines angeblichen Selbstmörders. Als erfahrener Ermittler traut er der Sache nicht über den Weg. Da er keine Beweise vorlegen kann und sein Vorgesetzter nicht an einen Mord glaubt, stellen er und sein junger Assistent selbst Nachforschungen an. Eine packende Jagd durch ein düsteres, von Nachkriegswehen geplagtes Wien beginnt, und bald schwebt Emmerich selbst in tödlicher Gefahr...
Mord auf Wienerischem Pflaster - August Emmerich ermittelt:
Band 1: Der zweite Reiter
Band 2: Die rote Frau
Band 3: Der dunkle Bote
Band 4: Das schwarze Band
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Alex Beer, geboren in Bregenz, hat Archäologie studiert und lebt in Wien. Ihre spannende Krimi-Reihe um den Ermittler August Emmerich erhielt zahlreiche Shortlist-Nominierungen (u.a. für den Friedrich Glauser Preis, Viktor Crime Award, Crime Cologne Award) und wurde mit dem Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur 2017 und 2019 sowie dem Krimi-Publikumspreis des Deutschen Buchhandels MIMI 2020 prämiert. Auch der Österreichische Krimipreis wurde der Autorin 2019 verliehen. Neben dem Wiener Kriminalinspektor hat Alex Beer mit Felix Blom eine weitere faszinierende Figur erschaffen, die im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhundert ermittelt und für den sie mit dem silbernen Homer 2023 ausgezeichnet wurde.
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Rayonsinspektor August Emmerich saß in der Tramway, die von der Wiener Innenstadt in Richtung Hütteldorf fuhr, zog seine Schiebermütze ins Gesicht, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Er war müde – kein Wunder, immerhin war es schon spät, und er hatte in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan. Die Kinder seiner Lebensgefährtin Luise, die ihren Mann an den Krieg verloren hatte, waren jetzt, da es kaum gelang, die Wohnung ausreichend zu heizen, ständig krank. Sie husteten sich die Lunge aus dem Leib und weinten viel. Drei kleine Menschlein, die sich eine schlechte Zeit ausgesucht hatten, um geboren zu werden. Andererseits: Gab es je eine gute Zeit dafür?
Er erlaubte seinen schweren Lidern, sich kurz zu senken, und genoss die angenehme Temperatur. Seit Kurzem war es möglich, die Straßenbahnen durch Strom aus den Oberleitungen zu beheizen, und der Schaffner meinte es an diesem Tag besonders gut. Wahrscheinlich wusste er, dass auf die Mehrzahl der Fahrgäste ein kaltes Bett in einer kalten Wohnung wartete. Kohle war rar und Einfeuern ein Luxus, den nur die wenigsten sich leisten konnten. Umso willkommener war diese kurze, warme Auszeit.
Emmerich gähnte und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe, hinter der gerade das Casino Baumgarten vorbeizog, das mit seiner prunkvollen Fassade an bessere Zeiten erinnerte. Was die heutige Nacht wohl noch für Überraschungen bereithielt? Er warf einen Blick auf Veit Kolja, den Mann, dem er seit mehr als drei Monaten auf der Spur war und der jetzt zwei Reihen vor ihm saß – es würde einzig und allein von ihm, Inspektor Emmerich, abhängen, ob dem Ganoven endlich das Handwerk gelegt werden konnte, und es sah gut aus. Kolja hatte nämlich einen großen Jutesack auf dem Schoß liegen, und Emmerich hoffte, dass er zu einem seiner Lager fuhr.
Lebensmittel, Kleidung und Medikamente waren knapp, und Kolja war einer von denen, die aus der Not der Menschen Profit schlugen. Er war der Anführer eines Schleichhändlerrings, der an geheimen Orten Vorräte bunkerte und diese gegen Gold, Schmuck und andere Wertgegenstände tauschte.
Wenn diese Zeit der Not und Entbehrungen endlich zu Ende war, würde Kolja unsäglich reich sein oder aber, wenn es nach Emmerich ging, im Gefängnis sitzen. Im hintersten, dunkelsten, feuchtesten Loch. Für immer. Denn was gab es Schäbigeres, als sich an Leid und Elend zu bereichern?
In den vergangenen Wochen hatte er alles darangesetzt, Kolja und seine Männer dingfest zu machen. Er hatte sie verfolgt und observiert, sich bei Regen und Kälte die Beine in den Bauch gestanden, sogar den einen oder anderen Informanten geschmiert. Es war mühsam und anstrengend gewesen, doch es hatte sich rentiert. Er war ganz nah dran. Das spürte er. Die Sprengung des Schleichhändlerrings und die Verhaftung der Verantwortlichen standen kurz bevor und damit auch seine Beförderung … Wenn nicht irgendetwas den Fall in letzter Minute vermasselte. Oder besser gesagt, irgendjemand.
Denn sein neuer Vorgesetzter, Abteilungsinspektor Leopold Sander, ein ehemaliger hochdekorierter Offizier der K.-u.-k.-Armee, der viel Ahnung von Kriegsführung, aber keinen blassen Schimmer von Polizeiarbeit hatte, war auf die glorreiche Idee gekommen, ihm einen Assistenten beizustellen – Ferdinand Winter, einen Neuling, der seine Ausbildung gerade beendet hatte und mehr Bürde denn Entlastung darstellte.
Winter, der neben ihm saß, wie er selbst natürlich in Zivil, brachte mit seiner puren Anwesenheit alles in Gefahr. Er verbreitete eine Aura der Nervosität. Seine Beine zappelten, und seine Finger tippten auf das Holz der Sitzbank, als wollte er einen wirren Morsecode hinaus in die Nacht schicken. Das lenkte die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste auf ihn. Die meisten von ihnen waren Fabrikarbeiter, die sich nach einer langen und kräftezehrenden Schicht auf dem Heimweg befanden. Ein derartiges Übermaß an Energie, wie Winter es gerade an den Tag legte, fiel auf. Und Auffallen war bei der Überwachung eines Verdächtigen so ziemlich das Letzte, was passieren durfte.
»Sei ruhig«, zischte Emmerich, der sich weigerte, den Grünling zu siezen. Respekt musste man sich erst verdienen. Er warf dem jungen Mann einen bösen Blick zu.
Winter hatte große, strahlend blaue Augen, glänzendes blondes Haar, eine makellose Haut und weiche Hände. Er drückte sich stets gewählt aus. Solche wie er waren der Arbeit nicht gewachsen. Solche wie er waren der Zeit nicht gewachsen. Emmerich kannte derartig zarte, feine Burschen wie Winter aus dem Waisenhaus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Je lieber und unschuldiger sie waren, desto höher standen die Chancen, dass sie nicht überlebten.
Ferdinand Winter war ganz eindeutig einer von ihnen. Einer von den Lieben und Unschuldigen. Soweit er das mitbekommen hatte, war er noch dazu ein verhätschelter Sohn aus einer reichen Wiener Familie, deren Geld nun nichts mehr wert war. Die Inflation holte sich, was der Krieg übrig gelassen hatte, weshalb der Junge sich mit der Realität auseinandersetzen musste. Das war prinzipiell nichts Schlechtes, fand Emmerich – wenn es bloß nicht in seinen Zuständigkeitsbereich gefallen wäre.
»Satzberggasse«, kündigte der Schaffner die vorletzte Station an, doch Kolja blieb ungerührt sitzen. Wo wollte der Mistkerl hin?
»Beruhige dich endlich!«, flüsterte Emmerich, da Winter schon wieder hibbelig wurde. »Wir fahren an den Stadtrand, nicht an die Front.«
»Hütteldorf, Bujattigasse«, rief der Schaffner kurze Zeit später. »Endstation. Bitte alle aussteigen.«
Die verbliebenen Fahrgäste erhoben sich langsam und widerwillig. Die warme Auszeit war vorbei, und draußen wartete das Leben.
Die beiden Polizisten reihten sich in die Schlange ein, die sich schleppend durch die Schiebetür auf die hintere Plattform der Tramway schob und die zwei Stufen auf die Straße hinunterstieg. Von dort strömten die Menschen in alle Himmelsrichtungen.
Emmerich legte Winter von hinten eine Hand auf die Schulter, um ihn davon abzuhalten, sich zu nah an Koljas Fersen zu heften. »Langsam«, sagte er, nachdem der Verdächtige außer Hörweite war. »Der Kerl ist ein Profi. Am besten, du bleibst drei Schritte hinter mir.«
Aus sicherem Abstand folgten sie Kolja, der direkt auf das Gasthaus Prilisauer zusteuerte, was Emmerich entgegenkam, denn er konnte jetzt einen Schnaps vertragen. Gut und gerne auch zwei.
Doch der Schleichhändler hatte andere Pläne. Kurz vor dem Wirtshaus wandte er sich nach links, lief durch den Ferdinand-Wolf-Park am Halterbach entlang, bis zu dessen Mündung in den Wienfluss, passierte die Bräuhausbrücke und ließ jegliche Zivilisation hinter sich, indem er rechts abbog.
»Ist alles in Ordnung? Sie humpeln«, sagte Winter etwas zu laut von hinten. Emmerich stellte sich taub. »Hier ist ja nur Wald«, hielt Winter dann das Offensichtliche fest, und Emmerich musste sich zurückhalten, um ihm nicht an Ort und Stelle das Maul zu stopfen.
»Warte hier«, ordnete er an, nachdem Kolja samt Jutesack über die beschädigte Mauer geklettert war, die sich rund um den sogenannten Lainzer Tiergarten, ein weitläufiges Gebiet im östlichen Teil des Wienerwalds, erstreckte. »Und rühr dich nicht vom Fleck.« Er kam sich mehr wie eine Kinderfrau als wie ein Rayonsinspektor erster Klasse vor.
»Ist ja gu …«, setzte Winter an, hielt inne und presste die Lippen aufeinander.
Emmerich nickte. Zumindest lernte der Junge schnell.
Er kontrollierte seine Waffe, eine Steyr-Repetierpistole, vergewisserte sich, dass sein Schlagring griffbereit war, und sprang über die Mauer. Als er auf der anderen Seite aufkam, musste er sich zusammenreißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. In seinem rechten Bein steckte seit der Schlacht von Vittorio Veneto ein Granatsplitter, der nicht entfernt werden konnte und der ihm ständig Probleme bereitete. In den letzten Tagen war es so schlimm wie nie zuvor. Arthrofibrose hatten die Ärzte diagnostiziert. Ein elegantes Wort für einen kläglichen Zustand.
Emmerich massierte sein Knie, das sich durch die Vernarbung des Bindegewebes immer mehr versteifte, raffte sich hoch und stützte sich an der Mauer ab. Gut, dass er Winter zurückgelassen hatte. Niemand sollte etwas von seiner Behinderung merken, und der Kleine war schon misstrauisch geworden. Er konnte es sich nicht leisten, wegen erkannter Untauglichkeit in den Innendienst versetzt zu werden. Jetzt, da er sich um Luise und ihre Kinder kümmerte, brauchte er die Indagationszulagen. Dazu kam, dass er gerade erst sechsunddreißig Jahre alt geworden war und sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, den Rest seiner Karriere als Amtsdiener zu verbringen. Dafür war er nicht geschaffen. Er war Polizeiagent. Er jagte Verbrecher, und zwar in natura, nicht auf dem Papier. Außerdem war er nicht bereit, sein großes Ziel, eines Tages in die Abteilung »Leib und Leben« aufgenommen zu werden, aufzugeben. Die Männer, die dort unter der Leitung des berühmten Carl Horvat arbeiteten, waren die oberste Elite des Polizeiapparats. Sie ermittelten in sämtlichen Fällen, in denen es um Mord und schwere Delikte gegen die körperliche Integrität ging. Seit er denken konnte, wollte er zu ihnen gehören, und er würde sich so kurz vor dem Ziel nicht aufhalten lassen. Auch nicht durch sein Bein.
Emmerich fasste an seinen Glücksbringer, einen silbernen Anhänger, der an einer Lederschnur um seinen Hals hing, biss die Zähne zusammen und humpelte in den Wald. Kolja hatte zum Glück eine Lampe angezündet, von deren Schein er sich leiten lassen konnte, und gottlob dauerte die...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2017 |
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Reihe/Serie | Die Kriminalinspektor-Emmerich-Reihe | Die Kriminalinspektor-Emmerich-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | eBooks • Erster Weltkrieg • Gereon Rath • Geschenk Weihnachten • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Historischer Kriminalroman • Historische Romane • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Leo-Perutz-Preis • Lunapark • Österreich • Volker Kutscher • Wien • Wien-Krimi |
ISBN-10 | 3-641-19292-7 / 3641192927 |
ISBN-13 | 978-3-641-19292-1 / 9783641192921 |
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