Mein Abendland (eBook)

Geschichten deutscher Herkunft
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-376-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Abendland - Christoph Dieckmann
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Nichts, was Christoph Dieckmann schreibt, ist erfunden. Dieser unermüdliche Chronist der ZEIT erlebt sein »Abendland«. Ein Kind verschwindet, dann ein Staat. Die DDR-Nationalmannschaft ersteht neu, in Dresden demonstriert das Volk - wie 1989? Der greise Helmut Schmidt erklärt, er könne drei Jahrzehnte in die Zukunft blicken und ein Jahrtausend zurück. Auch Dieckmann erzählt Gegenwart als Herkunft aus Europas »Leitkulturen« Nationalismus und Krieg. Er führt nach Verdun, Exjugoslawien und an die Gräber der Roten Armee. Er folgt den Brüdern Grimm, Rosa Luxemburg und Willy Brandt. Er fährt mit der Eisenbahn ins »Morgenland«, von Istanbul bis Teheran. Und er predigt auf der Wartburg über das Fremde. »Mein Abendland« ist ein lebenspralles Buch über unsere Identitäten, deutschkundig und weltoffen.

Christoph Dieckmann, geboren 1956, Filmvorführer, Studium der Theologie, Vikar, Medienreferent, Publizist in Berlin. Seit 1990 Autor der ZEIT. 1992 Internationaler Publizistik-Preis von Klagenfurt, 1993 Theodor-Wolff-Preis, 1994 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1996 Friedrich-Märker-Preis für Essayistik. Dieckmann lebt in Berlin-Pankow. Buchveröffentlichungen u. a.: My Generation (1991), Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen (1993), Das wahre Leben im falschen (1998), Volk bleibt Volk (2001), Die Liebe in den Zeiten des Landfilms (2002, AtV 1349).

Jahrgang 1956, Filmvorführer, Studium der Theologie, Vikar, Medienreferent, Publizist in Berlin; 1990 Auszeichnung durch das World-Press-Institute in St. Paul/Minnesota mit einer halbjährigen USA-Erkundungsfahrt; seit 1990 Autor der ZEIT, 1992 Internationaler Publizistik-Preis von Klagenfurt, 1993 Theodor-Wolff-Preis, 1994 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1996 Friedrich-Märker-Preis für Essayistik. Zahlreiche Texte zu Musik, Literatur, Film und Politik.

Mein Abendland


Bleibe bei uns;
denn es will Abend werden,
und der Tag hat sich geneigt.
Lukas 24,29

1


Nur von ferne kannte ich den Jungen und seinen kleinen Bruder, der nun verschwunden war. Der Junge ging in die Sechste, zwei Klassen unter mir. Dem Kleinen, Schulanfänger, hatte ich unlängst »König Drosselbart« erzählt, als er mit der ganzen Zwergenbande über den Dachboden tobte, statt Mittagsruhe zu halten. Wo blieb die Hortnerin? Kurzentschlossen schwänzte ich Chemie und kommandierte: Legt euch hin! Die Knirpse parierten, geschmeichelt, daß sich ein Großer mit ihnen befaßte. Da lagen sie auf ihren Pritschen, lauschten, kicherten und jammerten im Chor: Ich arme Jungfer zart, ach hätt ich genommen den König Drosselbart.

Und jetzt war der Kleine fort, entführt am hellichten Tag. Ich hörte in der Schule: Gestern in der Dämmerung kam der Bruder heim, verstört und abgehetzt. Er berichtete, was ihnen zugestoßen sei. Sie hätten Versteck gespielt, bei der Koppel am Schachtwald. Dickicht und Hecken boten dort reichlich Unterschlupf, doch um zu siegen, mußte der Versteckte sein Asyl unentdeckt verlassen, zum Koppelpfahl rennen und dort den Freischlag landen. Das unterließ der Kleine. Er blieb verborgen. Der Ältere rief. Er erklärte das Spiel für beendet und den Kleinen zum Sieger. Keine Antwort, nichts geschah. Der Junge suchte weiter. Da traten aus dem Unterholz zwei Männer und befahlen: Verschwinde! Wir haben deinen Bruder, der kommt mit uns.

Was für Männer?

Zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, so erzählte es der Junge auch der Polizei. Die löste Fahndung aus. In der Hofpause besah ich den Jungen. Er hielt sich abseits, unscheinbar wie immer. Er aß sein Brot, er wirkte normal, doch umgab ihn etwas Unsichtbares: Schicksalsnähe. Am nächsten Tag erschien der Junge nicht zum Unterricht. Er kam nie wieder. Der Kleine war gefunden, getötet im brüderlichen Streit.

Die Schulleitung informierte – mit welchen Worten? Ich entsinne mich nur der allgemeinen Erleichterung, daß der Mörder, kaum enttarnt, nicht länger unter uns weilte. Ich spürte: Wer tötet, fällt aus der Welt. Die unsrige war nun vom Täter gesäubert. Aber blieb nicht der Tatort kontaminiert?

Die Koppel war im Winter ein wimmelnder Rodelberg, der Waldpfad zur Halde meine Langlauf-Loipe. Einsam schurrte ich bergan und dachte an die Ledermantel-Männer. Der Wald endete. Himmelhoch ragte die Kupferschiefer-Pyramide, schütter beschneit. Loren mit Taubgestein schwebten an stählerner Trosse zum Gipfel und schlugen dort um. Das Geröll kollerte zu Tal. Ein Brocken sprang bis in den Zaun, vor dem ich stand. Seit Urzeiten hatte diesen Stein das Erdinnere geborgen. Das war für immer vorbei. Und ewig würde dieser Flecken Heimat Mordort bleiben.

Ich war ein Kind der Provinz, noch unvertraut mit dem Zeitfluß, dem Wandel der Gefühle, den Putzmitteln der Ideologie. Frieden suchte ich innerlich und daheim, nicht im großen Ganzen der unheilbaren Welt. Deren Schrecknisse geschahen bislang anderswo – in Troja, Hitlerdeutschland, Dallas, Prag und Vietnam. Später, als Student, zog ich in die Mauerstadt Berlin mit ihren Brüchen und tagtäglichen Desastern. Auf einer Heimreise nach S. überfiel mich das Déjà vu. Im Zug saß ich zwei Männern gegenüber. Sie trugen keine Ledermäntel, sondern Grün: das sogenannte Ehrenkleid der Nationalen Volksarmee. Sie soffen. Trunkenheit war der Naturzustand reisender Soldaten in der DDR. Ständig drängten Uniformierte durch die überfüllte Deutsche Reichsbahn, um im MITROPA-Wagen Bier-Nachschub zu fassen. Diese beiden kübelten Klaren. Sie schwitzten, sie lallten mit rohen, roten Gesichtern. Sie waren Grenzer. Es gab was zu feiern. Einen »Hasen«, einen Flüchtling, hatten sie »von der Platte geputzt«. Solch trefflicher Schutz des Sozialismus wurde mit Sonderurlaub belohnt.

Hatten sie Bräute? Eltern, Kinder, Freunde? Wie empfing man sie daheim? Wie rühmten oder beichteten sie ihre Tat? Wie lebten sie damit weiter, und wie die Ihren, die es fortan wußten?

»Niemand kommt dem Damalsblut zu Hilfe, denn es ist schon geflossen«, schrieb die deutschkroatische Schriftstellerin Marica Bodrožić. »Es wundert mich nicht, schon als Kind wunderte es mich nicht, daß sie schießen, wenn sie schießen müssen. Sie üben das Sterben zuerst an sich selbst. Und wenn man so ein Toter ist, so ein Mensch, der längst an sich selbst gestorben ist, dann ist es einfach, im Grunde ein Spiel, ein schlichtes einfaches Spiel, einen anderen zu töten, damit auch er stirbt, so, wie man selbst längst gestorben ist. Sie denken nicht darüber nach. Und wenn, dann denken sie vielleicht, daß der andere auch nur an sich selbst stirbt. Und nicht an der Grenze, die sie hier beschützen und die es ohne sie nicht gäbe.«

Die es ohne sie nicht gäbe?

2


Am 13. November 2013 begegnete ich Helmut Schmidt zum letzten Mal. Das Hauptstadt-Büro der »Zeit« hatte etliche neue Mitarbeiter, der greise Herausgeber wünschte sie kennenzulernen. Unverändert kam er regelmäßig aus Hamburg und nutzte jenes Bundestagsbüro, das ihm als Altkanzler zustand. Im Vorzimmer empfing uns eine Photo-Galerie des Schmidtschen Jahrhunderts: Helmut Schmidt mit Hosni Mubarak, mit Moshe Dayan, mit Rosalyn Carter samt Hund. Josip Broz Tito schmunzelte vom Widmungsbild, zugeeignet »Gospodinu Helmut Schmidt«. Volksführerisch lächelten König Hussein II. von Jordanien, Assad senior und Anwar el Sadat. Liberal blickten Bruno Kreisky und Gustav Heinemann, erheitert Willy Brandt und Walter Scheel. Immanuel Kant posierte als weiße Marmorbüste, den Schreibtisch überschaute August Bebel, in Öl. Auch Thomas Mann schmückte die Wand, gezeichnet von Armin Müller-Stahl: ein Geschenk zu Helmut Schmidts 85. Geburtstag.

Der lag nun fast zehn Jahre zurück. Der Gastgeber begrüßte im Rollstuhl. Er reichte jedem seine große, glatte, kalte Hand. Er entzündete die erste von vielen Menthol-Zigaretten der Marke Rynio. Er sprach: Ich lebe im luftleeren Raum. Ich treffe keine Spitzenpolitiker. Ich bin kein Parteimensch, sondern über meine Partei hinausgewachsen. Mein verehrter Mentor war Fritz Erler, Jean Monnet hat mich zum Europäer gemacht. Seit wann sind Sie bei der »Zeit«?

Seit 1991, sagte ich. Damals wollte die Zeitung einen Redakteur aus Ostdeutschland.

Und wie wurden Sie aufgenommen?

Einprägsam. Sie haben mich angeschnauzt, gleich in der ersten Konferenz.

Oh!, rief Schmidt erfreut. Warum das?

Es ging um die Mauerschützen. Der erste Prozeß stand an. Sie meinten, man solle, statt die kleinen Muschkoten zu belangen, die Kommandeure anklagen, also die Spitze der Befehlskette.

Ja, sagte Schmidt. Und?

Ich verwahrte mich gegen das Gerede von den armen kleinen Mauerschützen. Niemand wurde in der DDR zum Grenzdienst gezwungen, es sei denn vom Wunsch nach Karriere. Und jeder Mensch, sofern er Mensch ist, weiß, daß man nicht auf andere Menschen schießen darf. Jeder muß seine Humanität dort bewähren, wo ihn der Herrgott hingestellt hat.

Schmidt erzeugte Rauch und sprach: Ich nehme stark an, daß Sie Ihre Meinung nicht geändert haben.

So ist es.

Ich meine auch nicht. Haben Sie gedient?

Nein, ich war Vikar. Manfred Stolpe hat mich vor der Nationalen Volksarmee bewahrt.

Wie denken Sie über Stolpe?, fragte Schmidt. Ich sagte: Er hat als Kirchenmann etliche Grenzen überschritten, aber wohl nicht die Grenze zwischen Kirche und SED-Staat. Diese wägende Würdigung stellte Schmidt zufrieden. Dann resümierte er: Ihnen allen fehlt eine Erfahrung. Der Krieg. Diese Scheiße. Was man da für Angst gehabt hat.

Der Krieg blieb über alle Zeiten der Bordun-Ton im Leben Helmut Schmidts. Der gewesene Wehrmacht-Leutnant fluchte der Menschheitskatastrophe, doch der Hamburger Innensenator und Sturmflut-Bekämpfer, der Bundeswehrminister, der Kanzler und »Macher« Schmidt kokettierte in puncto Disziplin und operativer Entschlossenheit durchaus mit militärischem Zack. Nicht ohne Genugtuung konstatierte er im sogenannten Deutschen Herbst 1977, die Terroristen der RAF hätten die Exoffiziere auf Seiten des Staates unterschätzt. Im Bundestagswahlkampf 1980 erledigte der Kanzler seinen barocken Herausforderer Franz-Josef Strauß durch die schneidige Durchsage ans Wahlvolk, als alter Soldat brauche er nur vier Stunden Schlaf, in Zeiten der Bewährung gar keinen. Jetzt pries er Willy Brandt, der sich den Russen angenähert habe, gegen den Instinkt der Amerikaner. Freilich, mit Europa gehe es abwärts: 28 Länder, früher sechs, und der Euro ersetze keine gemeinsame Finanzpolitik. Wir Deutschen haben einen weltgeschichtlich einmaligen Außenhandelsüberschuß, sagte Schmidt. Das werden uns die anderen Länder nicht durchgehen lassen. Unsere Beliebtheit in der Welt ist nur eine deutsche Illusion.

Gibt es eine unverlierbare europäische Errungenschaft?

Ein großer Krieg wird von Europa nicht mehr ausgehen, sagte Schmidt. Die Völker sind erschöpft. Zur Reproduktion brauchen sie pro Frau zwei bis drei Geburten, in Deutschland sind es heute 1,4.

Das ist eine statistische Antwort. Aber moralisch? Rührt die deutsche Unbeliebtheit wirklich aus unserer Wirtschaftsstärke?...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2017
Reihe/Serie Literarische Publizistik
Illustrationen Christoph Dieckmann
Zusatzinfo 34 s/w-Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Abendland • Baden • Bibel • Brüder Grimm • DDR • Friedrich II. von Preußen • Identität • Istanbul • Karl Liebknecht • König Gustav II. Adolf • Lübeck • Populismus • Rosa Luxemburg • Teheran • Thomas Müntzer • Usbekistan • Verdun • Wartburg • Willy Brandt
ISBN-10 3-86284-376-9 / 3862843769
ISBN-13 978-3-86284-376-3 / 9783862843763
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