Der Duft von bitteren Orangen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
448 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-21391-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Duft von bitteren Orangen - Claire Hajaj
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Kann Liebe wachsen, wo Hass gesät wird?
Jaffa, April 1948. Der siebenjährige Salim, Sohn eines palästinensischen Orangenzüchters, darf endlich die ersten Früchte des Orangenbaums ernten, der zu seiner Geburt gepflanzt wurde. Doch der Krieg bricht aus und seine Familie muss fliehen. Von nun an hat er nur noch einen Traum: eines Tages zu seinem Baum zurückzukehren. Zur selben Zeit wächst Judith mit ihrer jüdischen Familie in England auf - und sehnt sich nach einem Leben jenseits der dunklen Schatten der Vergangenheit. Als Salim und Judith sich im London der Sechzigerjahre begegnen und ineinander verlieben, nimmt das Schicksal seinen Lauf und stellt ihre Liebe auf eine harte Probe ...

Die Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel »Ismaels Orangen« bei Blanvalet.



Claire Hajaj, 1973 in London geboren, hat ihr bisheriges Leben zwischen zwei Kulturen, der jüdischen und der palästinensischen, verbracht und versucht, sie zu vereinbaren. In ihrer Kindheit lebte sie sowohl im Nahen Osten als auch im ländlichen England. Sie bereiste alle vier Kontinente und arbeitete für die UN in Kriegsgebieten wie Burma oder Bagdad. Sie schrieb Beiträge für den BBC World Service, außerdem veröffentlichte sie Artikel in »Time Out« und »Literary Review«. Ihren Master in Klassischer und Englischer Literatur hat sie in Oxford gemacht. Zuletzt lebte sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Beirut.

1948

»Yalla*, Salim, los! Die Juden werden dich holen, Bauernjunge! Sie schmeißen dich raus und verhauen dir den knochigen Hintern wie einem Esel.«

Zwei Jungen standen einander auf der Staubstraße zwischen Jaffas Orangenhainen und dem Meer gegenüber.

Der eine war älter, kräftig gebaut und schwarzhaarig. An Kinn, Armen und Bauch wabbelten Fettwülste wie an einem schlachtreifen Lamm. In einigen Jahren würden sie sich in die respekteinflößende Leibesfülle eines A’yan verwandeln – eines wohlhabenden Mannes, der im Kaffeehaus herumsaß, in einer weißen Villa wohnte und eine teure Ehefrau hatte. Doch bis jetzt brachte die Körpermasse nur den Vorteil der kräftemäßigen Überlegenheit. Ansonsten musste sich ihr Besitzer eben schwitzend durch die warme Frühlingsluft quälen.

Der Jüngere der beiden hatte sich dem sich allmählich verdunkelnden Wasser zugewandt. Er hatte einen Fußball in der Hand und trug geschnürte schwarze Schulschuhe und ordentliche braune Shorts. Das weiße Hemd war manierlich in den Hosenbund gesteckt und bis zum Kinn zugeknöpft; sein schmales, blasses Gesicht sei wie ein offenes Buch, pflegten die Frères zu scherzen, eine leere Seite, auf die jeder schreiben konnte.

»Nenn mich nicht Fellah«, erwiderte er zögernd und drehte den Fußball zwischen den Händen hin und her. Es war nicht ratsam, sich mit Masen anzulegen, der mit seinen knapp zehn Jahren schon ordentlich hinlangen konnte. »Ich bin kein Bauer.«

»Warum nicht? Du wohnst auf einer Farm, und dein Vater lässt dich Obst pflücken wie die Fellahin

Salim lag eine zornige Antwort auf der Zunge, doch er schluckte sie, plötzlich verunsichert, hinunter. Hatte er letzte Woche nicht selbst darum gebettelt, mit zu den Orangenhainen zu dürfen? Die Erntezeit neigte sich dem Ende zu, und die Arbeiter seines Vaters hatten das Obst auf der Farm der Familie gepflückt – fünfzehn ganze Dunums, fünfzehntausend Quadratmeter gutes Orangenland. Er hatte es sich zum Geburtstag gewünscht, bei der Ernte mithelfen zu können: Er war jetzt sieben, und eines Tages würde er sich die Haine mit Hassan und Rafan teilen. Lass mich mitkommen, hatte er gebeten. Aber sein Vater hatte Nein gesagt, und Salim hatte zu seiner Schande geweint.

»Mein Vater gibt Fellahin Arbeit, deiner steckt sie ins Gefängnis«, wechselte er die Strategie. Masens Vater war einer der obersten Richter von Jaffa, ein Kadi. Hassan sagte, dass er vor Geld stank. »Wenn die Juden kommen und in eurem Haus wohnen, kann dein Vater ihnen helfen, uns alle einzusperren.«

Masen grinste. »Keine Angst«, sagte er. »Wenn du mich nett bittest, kümmere ich mich um dich und deine hübsche Mama. Aber Hassan, dieser Blödmann, kann schauen, wo er bleibt.«

Er nahm Salim den Fußball weg und schlug den Weg zum Meer ein. Der kleine Junge folgte ihm, ohne nachzudenken, und schritt, die Arme seitlich herabbaumelnd, in den Sonnenuntergang hinein.

»Die Juden kommen sowieso nicht. Nicht, solange die Briten hier sind«, verkündete Salim, dem plötzlich einfiel, was Frère Philippe ihm heute Morgen in St. Joseph gesagt hatte. In der Pause war es zu einer Rauferei zwischen zwei Jungen gekommen: Der eine hatte den Vater des anderen als Verräter bezeichnet, weil er seine Dunums an die Juden verkauft hatte. Daraufhin hatte der andere zurückgebrüllt, zumindest sei er nicht wie ein Feigling aus seinem Haus geflohen. Die beiden schlugen sogar noch aufeinander ein, als sie an den Ohren gepackt und abgeführt wurden. Salim hatte dagestanden wie erstarrt, während Masen sie lachend angefeuert hatte. Danach hatte Frère Philippe ihm sanft die Wange getätschelt. »Keine Angst, Habibi« – mein Freund –, sagte er, während im Hintergrund das Schnalzen der Peitsche ertönte, als die beiden Raufbolde ihre Tracht Prügel bezogen. »Dieses ganze Gerede von den Juden und Armeen … Es sind nicht alle wild darauf zu kämpfen, nicht, solange die Briten hier sind und Gott über seine Schäflein wacht.«

»Gott hilft denen, die sich selbst helfen«, entgegnete ein anderer Frère mit finsterer Miene.

»Wollen wir es hoffen …«, meinte ein anderer. »Denn auf die Briten würde ich mich nicht verlassen.«

»Du bist ja so ein Esel, Salim«, höhnte Masen und holte ihn damit in die Gegenwart zurück. »Den Briten ist es egal, ob wir leben oder sterben. Sie wollen dieses Land zerteilen wie eine Orange und den Juden das größte Stück geben. Aber bei Gott, wir werden bereit sein. Sollen sie die Najjada nur herausfordern. Ich kann es kaum erwarten, einen Juden abzuknallen.«

Salim konnte es sich nicht vorstellen, auf einen Menschen zu schießen. Er hatte einmal miterlebt, wie ein britischer Polizist einen kranken Hund – einen Streuner – erschossen hatte. Das traurige Geräusch der in den Körper eindringenden Kugel hatte dafür gesorgt, dass Salim in die Knie gegangen war und sich übergeben musste. Und dann war noch die Sache letzten Monat gewesen – das Blut, das über die Pflastersteine auf seine Schuhe gelaufen war –, doch daran wollte er lieber gar nicht denken.

»Du darfst ja gar nicht zur Najjada«, verkündete er, steckte die Hände in die Hosentaschen und straffte die Schultern. »Du bist nämlich noch ein Junge. Mama sagt, die nehmen nur Männer.« Pfadfinder mit Gewehren hatte sie die Soldaten bei der Parade letzte Woche genannt, doch Salim hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und hinter Hassans Rücken hervorgespäht, um zu sehen, wie die jungen Männer auf dem Clock Tower Square strammstanden. Sie hatten lange Gewehre und trugen schneidige graue Uniformen. Er kannte einen von ihnen. Masens Clique nannte ihn Katzenarsch, weil er einen dunkelbraunen Pickel mitten auf dem Kinn hatte. Sie hatten ihn deshalb gehänselt, bis ihm die Tränen kamen. Doch an jenem Tag hatten seine Augen stolz geleuchtet. Hassan wäre auch gerne beigetreten, aber Mohammad Nimir al-Hawari nahm keine Jungen unter fünfzehn auf.

»Deine Mama hat eben den Verstand einer Frau«, höhnte Masen. »Al-Hawari ist ein Freund meines Vaters. Außerdem würde ich es dir sowieso nicht sagen, wenn ich mich freiwillig melde. Kleine Esel wie du dürfen da nicht mitmachen.«

»Ich bin kein Esel«, flüsterte Salim, als Masen vorauslief. Manchmal, in seinen kühnsten Träumen, malte Salim sich aus, dass er Masen zu Boden stieß und ihn trat wie einen fetten Fußball. Doch Masen war mit seinen riesigen Fäusten und seinem grausamen Spott sogar noch angsteinflößender als die Juden. Hoffentlich kriegen die Juden Masen, wenn sie kommen.

Und die Juden würden kommen. Das tuschelten die Frères in der Schule einander zu. Die Landbevölkerung floh vor den herannahenden feindlichen Kämpfern, sodass es in Jaffa von Flüchtlingen mit ihren schmutzigen Säcken und ihren quengelnden Kindern nur so wimmelte. Salims Vater hatte sich beim Bürgermeister über sie beschwert, doch seine Mutter ließ Lebensmittelpakete an die Frauen mit Kleinkindern verteilen. Salim begriff nicht, warum diese Leute lieber in Jaffas Moscheen und Kirchen schliefen anstatt bei sich zu Hause.

Doch heute, im strahlenden Sonnenschein und in einer Luft, die nach Meerwasser und Orangen duftete, brauchte man keine Angst zu haben. Die beiden Jungen jagten einander den Pfad entlang, rannten durchs Gestrüpp und riefen in die warme Meeresbrise hinein. Als der Ball aufs Wasser zuflog, lief Salim atemlos und aufgeregt voraus und schnappte ihn sich, bevor die Wellen ihn verschlucken konnten. Er wirbelte herum, um seinen Triumph zu feiern, stellte aber plötzlich fest, dass er allein war. Seine Wangen röteten sich, als er Masen entdeckte, der oben auf der Böschung stand und zu ihm hinuntergrinste.

»Immer wieder fällst du darauf rein«, sagte er lachend. Salim senkte den Kopf, um das peinliche Erröten zu verbergen. Warum lässt du dich dauernd von ihm austricksen, Idiot?, schienen die Steine auf dem Boden ihm zuzuflüstern.

»Komm, Fellah«, meinte Masen und wies auf Salims schmutzige Knie und sein verschwitztes Gesicht. »Ich habe Hunger. Lass uns in den Souk gehen.«

Von Al-Ajami gab es zwei Wege zu den Souks am Clock Tower Square von Jaffa.

Die Route von Salims Haus aus führte schnurstracks durch das stille Landesinnere, vorbei an von der Sonne ausgebleichten weißen Strandvillen, aus deren ummauerten Gärten prachtvolle Kaskaden roter Bougainvilleen und der intensive Geruch von Orangen quollen. Danach bog man links in die alte Al-Ajami Street ein, wo neue Automobile an Eseln vorbeisausten, die schwer mit Granatäpfeln und Zitronen beladen waren. Die Tür von Abulafias Bäckerei stand immer offen, selbst in den kühlen Wintermonaten. Hunderte von Malen hatte Salim schon dort gewartet, seine Sinne überflutet vom Duft nach Gebäck und Wolken von Zimt und Piment. Seine Mutter liebte Manakisch, mit Thymian und Sesam bestreute Brotfladen. Er hatte sich von ihr mit kleinen Stücken davon füttern lassen, während sie durch Jaffas Altstadt mit ihren Kaffeehäusern geschlendert waren, aus denen der gelbliche Rauch der Wasserpfeifen wehte.

Der andere Weg zum Clock Tower Square gehörte den Jungen von Jaffa. Ihn zu nehmen bedeutete sozusagen eine Mutprobe. Sobald ein Junge gehen konnte, wurde er herausgefordert, ihn auszuprobieren, was hieß, die wilden Strände zu überqueren, glitschige Felsen zu überwinden und sich dann, Schritt für Schritt, unter der alten Hafenmauer entlangzutasten.

Heute brannte die Sonne auf den gewaltigen...

Erscheint lt. Verlag 19.12.2016
Übersetzer Karin Dufner
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Ishmael's Oranges
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Familiensaga • Frauenromane • Großer Familienroman • Israel • Judentum • Liebesromane • London • Orangen • Palästina • Romane für Frauen • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Vergebung • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-641-21391-6 / 3641213916
ISBN-13 978-3-641-21391-6 / 9783641213916
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