Ditte Menschenkind (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
731 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1249-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ditte Menschenkind -  Martin Andersen Nexø
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Ein grandioser Roman der Weltliteratur. 'Ein Geschenk war sie, von der Leere geboren und zwei verbrauchten Alten an den Strand geworfen'. Ihr Herkommen verliert sich in einer Vorzeit, als Land und Hof dem Meer noch trotzten. Jetzt sind Sören und Maren allein geblieben in ihrer Kate auf der Landspitze und gewinnen durch Ditte, das Enkelkind, für eine kurze Zeit die Kraft der jungen Tage zurück. Doch auch Dittes Weg führt nach unten. Ihr starkes, frohes Leben ist bedroht und erliegt schon bald den Gewalten, die gleich dem Meer alles verschlingen: der Heimatlosigkeit, dem Fluch des Ausgestoßenseins, der Anfeindung durch die Umwelt, dem Neid der Mitmenschen. 'Literatur, die bewegt, ohne zu beschönigen, die das Herz erreicht, ohne den Verstand zu beleidigen.' Tilman Spreckelsen.



Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexø am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.

1
Dittes Stammbaum


Es hat allzeit als Zeichen einer guten Abstammung gegolten, wenn man seine Ahnen bis weit zurück aufzählen konnte. Und danach ist Ditte Menschenkind ein sehr vornehmes Wesen. Sie gehört dem ältesten und verbreitetsten Geschlecht im Lande an, dem Geschlecht Mann.

Eine Stammtafel der Familie findet sich nicht, und sie wäre auch nicht leicht auszuarbeiten, da die Familie zahlreich ist wie der Sand des Meeres. Alle anderen Geschlechter lassen sich auf dieses zurückführen; hier tauchten sie auf im Laufe der Zeiten – und sie kehrten wieder dahin zurück, wenn ihre Kraft verbraucht und ihre Rolle ausgespielt war. Das Geschlecht Mann gleicht gewissermaßen dem großen Meer, von wo die Wasser in lichtem Flug zum Himmel aufsteigen – und wohin sie schwer rinnend zurückkehren.

Der Überlieferung nach soll die Stammutter des Geschlechts eine Feldarbeiterin gewesen sein, die mit dem nackten Gesäß auf der feuchten Erde ausruhte. Davon wurde sie schwanger, und sie brachte einen Knaben zur Welt. Dies blieb später ein eigentümlicher Zug des Geschlechts: seine Frauen trugen nicht gern Unterzeug und bekamen Kinder für nichts und wieder nichts. Noch heißt es von ihnen, daß sie bloß in einer Tür im Zugwind zu stehen brauchen, um ein Mädchen unterm Herzen zu tragen. Um einen Knaben zu bekommen, brauchen sie bloß an einem Eiszapfen zu lutschen. Wunderlich ist’s nicht, daß ein zahlreiches, abgehärtetes Geschlecht entstand, dessen Hände Wachstum schufen. Es wurde das eigentümlichste Kennzeichen des Geschlechts Mann, daß alles, was es anrührte, lebte und gedieh.

Der Knabe trug lange das Merkmal der lehmigen Erde; als kleines Kind war er ein klammes Würmchen mit krummen Beinen. Aber er wuchs sich heraus und wurde ein tüchtiger Erdarbeiter; mit ihm nimmt die Beackerung des Landes ihren Anfang. Der Umstand, daß er keinen Vater hatte, beschäftigte ihn sehr und wurde das große, fruchtbare Problem seines Lebens. In seinen Mußestunden machte er eine ganze Religion daraus.

Es war draußen im Freien nicht gut mit ihm auszukommen; in der Arbeit hatte er nicht seinesgleichen. Aber seinem Weibe unterlag er. Der Name Mann soll daher rühren, daß er, wenn sein Weib ihn mit ihrem scharfen Mundwerk aus dem Hause getrieben hatte, fluchend umherzugehen und zu schwören pflegte, er sei Mann im Hause. Noch heutigentags fällt es manchen aus dem Geschlecht Mann schwer, sich ihren Frauen gegenüber zu behaupten.

Ein Zweig des Geschlechts ließ sich an der öden Küste am Kattegatt nieder und gründete das Dorf. Das war in jenen Zeiten, als noch Wald und Sümpfe das Land unwegsam machten; und dieser Zweig kam seewärts heran. Das Felsenriff, wo die Männer mit dem Boot anlegten und Frauen und Kinder von Bord hoben, liegt noch da; weiße Seevögel bezeichnen abwechselnd Tag und Nacht die Stelle – und haben das durch Jahrhunderte getan.

Dieser Zweig hatte in hervorragendem Grade die typischen Kennzeichen des Geschlechts: zwei Augen und eine Nase mitten im Gesicht, einen Mund, der küssen und beißen konnte, und ein Paar Fäuste, die gut am Schaft saßen. Außerdem glich er dem Geschlecht darin, daß die meisten seiner Mitglieder besser waren als die Verhältnisse. Man konnte die Manns überall daran erkennen, daß ihre schlechten Eigenschaften sich meist auf bestimmte Ursachen zurückführen ließen, während das Gute in ihnen sich nicht begründen ließ, sondern angeboren war.

In eine öde Gegend waren sie gekommen. Aber sie nahmen sie, wie sie war, und ließen sich unverdrossen mit dem Dasein ein, bauten Hütten, zogen Gräben und schlugen Wege. Sie waren genügsam und hart und hatten den unersättlichen Drang der Manns, sich fleißig zu tummeln; keine Arbeit war ihnen zu mühselig oder zu schwer, und bald war es in der Gegend zu merken, daß sie sich dort niedergelassen hatten. Aber sie waren nicht geschickt darin, den Ertrag ihrer Arbeit festzuhalten, und ließen andere damit davonlaufen; so kam es, daß sie trotz all ihrem Fleiß nach wie vor arm blieben.

Vor gut fünfzig Jahren, noch bevor die Nordküste von den Kurgästen entdeckt wurde, bestand das Dorf immer noch aus einigen krummrückigen, stockfleckigen Hütten, die recht wohl die ursprünglichen sein konnten, und es glich überhaupt einem uralten Wohnplatz. Gerät und an Land gezogene Boote füllten den Strand; das Wasser in der kleinen Bucht stank nach weggeworfenen faulenden Fischen, Seehasen, Aalmüttern und anderem Meeresgetier, das auf Grund seines seltsamen Aussehens als von Geistern bewohnt galt und darum nicht gegessen wurde.

Eine Viertelstunde Wegs vom Dorf, draußen auf der Landspitze, wohnte Sören Mann. Er war in seinen jungen Jahren wie alle anderen zur See gefahren und hatte sich später daheim als Fischer niedergelassen – wie es Sitte und Brauch war. Aber eigentlich war er Bauer. Er gehörte zu demjenigen Zweig des Geschlechts, der sich daran gemacht hatte, das Land zu bestellen, und der dadurch über das Übliche hinaus zu Ansehen gelangt war. Sören Mann war ein Hüfnerssohn; als er aber das Mannesalter erreichte, heiratete er ein Fischermädchen und begann neben dem Ackerbau wieder Fischerei zu treiben, wie es die ersten Bauern des Geschlechts getan hatten.

Mit dem Ackerbau hatte es nicht viel auf sich: ein paar Tonnen Dünenland, wo einige Schafe kümmerliche Nahrung fanden, das war alles, was von dem großen Hof übriggeblieben war, der dort gelegen hatte, wo jetzt die Möwen schreiend über der weißen Brandung umherirrten. Das übrige hatte das Meer verschlungen.

Es war Sörens und besonders Marens armseliger Stolz, daß seine Vorfahren Hofbesitzer gewesen waren. Vor drei, vier Generationen lag der Hof gut und wohl da, mit vollwertigen Ländereien, ein ins Meer vorgeschobener Lehmknoten. Mit vier Flügeln, aus angetriebenem Eichenholz erbaut, lag er da und war weithin zu sehen, ein Bild der Dauerhaftigkeit. Aber da begann plötzlich das Meer an dieser Stelle zu nagen. Drei Generationen hintereinander mußten den Hof weiter landeinwärts rücken, um ihn nicht im Meer verschwinden zu sehen, und jedesmal machte man ihn um einen Flügel kleiner, um sich die Übersiedlung zu erleichtern; man hatte ja doch keine Verwendung für soviel Räumlichkeiten, wenn das Meer die Äcker wegfraß. Nun war nur noch das alte Wohngebäude aus Fachwerk übrig, das man aus Vorsicht an der Innenseite des Küstenwegs angelegt hatte, und dann ein paar Dünen.

Hier fraß das Meer nicht weiter. Es hatte den Boden des Geschlechts Mann satt bekommen, da das Beste genommen war, und suchte sich anderswo seine kostbare Nahrung; hier fing es obendrein an zuzulegen. Es warf Sand an Land, der sich wie ein breiter Vorstrand um den Hang legte und an windigen Tagen zu stieben und den Rest der Felder zuzudecken begann. Unter der dünnen, struppigen Pflanzenwelt der Dünenerde konnte man noch die Züge alten Pfluglandes erkennen, das draußen am Abhang quer abgebrochen war, und alte Räderspuren, die nach draußen liefen und jäh in der blauen Luft überm Meer verschwanden.

Viele Jahre lang war es, nach bösen Nächten mit Sturm von See her, der regelmäßige Morgenspaziergang der Manns gewesen, hinauszugehen und zu schauen, wieviel das Meer nun wieder genommen hatte. Es kam vor, daß ganze Stücke Ackerland mit Saat darauf auf einmal abbrachen und mit den Merkmalen von Eggen und Walzen und einem grünen Wintersaatschimmer darüber dort unten lagen in dem mahlenden Meer.

Den Manns griff es ans Herz, Zeugen des Unabwendbaren zu sein. Denn sooft ein Stück ihres Landes mit ihren Anstrengungen und ihrem täglichen Brot auf dem Rücken ins Meer wanderte, wurden sie selbst auch kleiner. Mit jedem Zollbreit, den das Meer sich näher an ihre Türschwelle heranfraß, ihre gute Ackererde benagend, verringerten sich ihr Ansehen und ihr Mut.

Sie wehrten sich bis aufs äußerste, hingen am Boden mit harten Fäusten und fuhren nur notgedrungen wieder aufs Meer hinaus. Sören war der erste, der sich ganz ergab; er nahm sich eine Frau aus dem Dorf und wurde selber Fischer. Aber an der guten Stimmung fehlte es stets. Maren konnte nicht vergessen, daß ihr Sören einem Geschlecht angehörte, das einen Hof besessen hatte; und das steckte auch den Kindern im Kopf. Die Söhne machten sich nichts aus der See; in den Fäusten saß ihnen der Drang, den Acker zu bestellen, und sie strebten nach den Höfen hin. Sie wurden Tagelöhner und Grabenarbeiter; und als sie nach und nach etwas Geld erübrigen konnten, wanderten sie nach Amerika aus. Vier Söhne arbeiteten drüben in der Landwirtschaft. Sie ließen selten etwas von sich hören; das Familiengefühl schien während des Niedergangs verbraucht worden zu sein. Die Töchter gingen in Dienst, und allmählich verloren Sören und Maren auch sie aus den Augen. Nur die jüngste, Sörine, blieb zu Hause über die Zeit hinaus, wo sonst bei den armen Leuten die Jungen das Nest zu verlassen pflegen. Sie war schwächlich, und die Eltern hielten sie – als die einzige, die ihnen geblieben war.

Es war eine weite Reise für Sörens Geschlecht gewesen, vom Meer vorzudringen zum bestellten Acker; verschiedener Generationen hatte es bedurft, den Hof auf der Landspitze zu schaffen. Die Fahrt bergab ging, wie immer, schneller; Sören mußte das schlimmste Stück davon auf sich nehmen. Als er hinzukam, waren nicht nur die Äcker, sondern auch die letzten Reste ersparten Erbguts draufgegangen; nun waren nur noch Armeleutereste übrig.

Das Ende war in mancher Hinsicht dem Anfang gleich. Sören glich den ursprünglichen Manns auch darin, daß er wie sie ein Amphibium war. Er verstand sich auf alles, Landwirtschaft, Fischfang und Handwerk. Und doch war er nicht geschickt genug, seinen...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2016
Übersetzer Herrmann Kiy, Hermann Kiy
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abstieg • Armut • Ausgestoßene • Dänemark • Ditte • Ditte Menschenind • Enkelkind • Heimatlosigkeit • Junge Frau • Klassiker • Neid • Nexö • Roman • Unmenschlichkeit
ISBN-10 3-8412-1249-2 / 3841212492
ISBN-13 978-3-8412-1249-8 / 9783841212498
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