Dubliner (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
256 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-7306-9155-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dubliner - James Joyce
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Lässt sich eine Stadt durch die Menschen beschreiben, die in ihr leben? Und umgekehrt ein Mensch durch die Stadt, aus der er kommt? James Joyce ist dies mit seinem Reigen von Erzählungen über die Seele Dublins und seiner Bewohner auf bahnbrechende Weise gelungen. 'Dubliner' porträtiert in berührenden Menschenschicksalen eine Metropole zwischen Kleinmut und Aufbruch. Der erste Wurf des jungen Joyce fasziniert durch die andeutende und doch tiefenscharfe Zeichnung der Figuren und ihrer Konflikte. Es verschafft den besten Zugang in das Werk des großen irischen Schriftstellers.

James Joyce (1882-1941) gilt als einer der einflussreichsten Vertreter der literarischen Moderne in Europa. Wenige Autoren haben stärker auf das 20. Jahrhundert eingewirkt als der revolutionäre irische Sprachmagier. Besonders sein Erfindungsreichtum fasziniert: Wie kein Zweiter beherrschte Joyce das Spiel der Wortschöpfungen und poetischen Lautmalereien.

Die Schwestern


Diesmal gab es keine Hoffnung mehr für ihn: Es war der dritte Schlaganfall. Abend für Abend war ich am Haus vorbeigegangen (es waren Ferien) und hatte das erleuchtete Fensterquadrat betrachtet, und Abend für Abend leuchtete es für mich auf die gleiche Weise, schwach und gleichmäßig. Wäre er tot, dachte ich, würde ich den Widerschein von Kerzen auf dem verdunkelnden Vorhang sehen, denn ich wusste, dass man neben den Kopf einer Leiche zwei Kerzen stellen musste. Oft hatte er zu mir gesagt: Ich werde nicht mehr lange leben, und ich hatte seine Worte für unnütz gehalten. Jetzt wusste ich, sie waren wahr. Jeden Abend, wenn ich das Fenster hinaufblickte, sprach ich leise das Wort Paralyse vor mich hin. Es hatte in meinen Ohren immer sonderbar geklungen, wie das Wort Gnomon bei Euklid oder das Wort Simonie im Katechismus. Nun klang es für mich wie der Name eines übelwollenden, sündigen Wesens. Es entsetzte mich, doch zugleich zog es mich an, sein todbringendes Werk zu betrachten.

Der alte Cotter saß rauchend am Feuer, als ich zum Abendessen herabkam. Während meine Tante mir eine Kelle Haferbrei gab, sagte er, als greife er eine zuvor von ihm geäußerte Bemerkung auf:

– Nein, ich würde nicht sagen, dass er wirklich … aber er hatte so was Seltsames … so was Unheimliches an sich. Ich sag’ dir meine Meinung …

Er zog an seiner Pfeife, zweifellos legte er sich dabei seine Meinung zurecht. Dummer alter Langweiler! Als wir ihn kennenlernten, war er ganz interessant, er erzählte von Brennblasen und Nachlauf, doch bald war ich von ihm und seinen endlosen Destillerie-Geschichten gelangweilt.

– Ich habe eine eigene Theorie dazu, sagte er. Ich meine, es war einer dieser … sonderbaren Fälle … Und doch kann man kaum sagen …

Er zog erneut an seiner Pfeife und behielt seine Theorie für sich. Mein Onkel sah, wie ich vor mich hinblickte, und sagte zu mir:

– Also, du wirst es nicht gern hören, aber dein alter Freund ist nicht mehr.

– Wer?, fragte ich.

– Father Flynn.

– Ist er tot?

– Mr Cotter hier hat es uns eben gesagt. Er ist am Haus vorbeigekommen.

Mir war bewusst, dass ich unter Beobachtung stand, also aß ich weiter, als wäre die Nachricht für mich nicht von Interesse. Mein Onkel erklärte dem alten Cotter:

– Der junge Mann und er waren dicke Freunde. Der alte Bursche hat ihm viel beigebracht, muss man sagen; und es heißt, dass er ihn sehr gern hatte.

– Gott sei seiner Seele gnädig, sagte meine Tante andächtig.

Der alte Cotter sah mich eine Weile an. Ich spürte den prüfenden Blick seiner kleinen schwarzen Knopfaugen, doch ich wollte ihm nicht den Gefallen tun, von meinem Teller aufzuschauen. Er widmete sich wieder seiner Pfeife und spuckte schließlich barsch in den Kamin.

– Mir wäre das nicht recht, sagte er, wenn meine Kinder sich allzu sehr mit so einem Mann einließen.

– Wie meinen Sie das, Mr Cotter?, fragte meine Tante.

– Was ich meine, ist, sagte der alte Cotter, es ist schlecht für Kinder. Ich sehe das so: Junge Leute sollen rumlaufen und mit jungen Leuten ihres Alters spielen und nicht … Stimmt’s, Jack?

– Ganz meine Auffassung, sagte mein Onkel. Er soll lernen, sich durchzusetzen. Ständig sage ich unserem Rosenkreuzer hier: Treib Sport. In seinem Alter habe ich jeden, wirklich jeden Morgen kalt gebadet, winters wie sommers. Und das nützt mir bis heute. Bildung ist ja schön und gut … Vielleicht will Mr Cotter mal von der Hammelkeule probieren, fügte er an meine Tante gewendet hinzu.

– Nein, nein, für mich nicht, sagte der alte Cotter.

– Meine Tante holte den Teller von der Anrichte und stellte ihn auf den Tisch.

– Aber warum finden Sie, dass es nicht gut ist für Kinder, Mr Cotter?, fragte sie.

– Es ist schlecht für Kinder, sagte der alte Cotter, weil sie so leicht zu beeinflussen sind. Wenn Kinder solche Sachen sehen, nicht wahr, dann wirkt sich das aus …

Ich stopfte mir den Mund mit Haferbrei voll aus Angst, meinen Ärger nicht länger zurückhalten zu können. Beschränkter, alter, rotnasiger Schwachkopf!

Spät schlief ich ein. Obwohl ich wütend war auf den alten Cotter, weil er mich wie ein Kind behandelte, zerbrach ich mir den Kopf auf der Suche nach einem Sinn in seinen nicht beendeten Sätzen. Im Dunkel meines Zimmers stellte ich mir vor, ich sähe erneut das Gesicht des Gelähmten. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf und versuchte an Weihnachten zu denken. Doch das graue Gesicht verfolgte mich weiter. Es nuschelte, und ich begriff, dass es etwas beichten wollte. Ich fühlte, wie meine Seele in einen angenehmen, lasterhaften Bereich entwich, und sah, wie es auch dort auf mich wartete. Es begann mir mit nuschelnder Stimme etwas zu beichten, und ich fragte mich, warum es ständig lächelte und warum die Lippen vor Speichel so feucht waren. Doch dann fiel mir ein, dass es an Paralyse gestorben war, und ich bemerkte, dass ich selbst leicht lächelte, wie um den Simonisten von seiner Sünde loszusprechen.

Am nächsten Morgen ging ich nach dem Frühstück los, um nach dem kleinen Haus in der Great Britain Street zu sehen. Es war ein bescheidener Laden, der etwas ungenau als Textilien firmierte. Die Textilien umfassten im Wesentlichen Babyschühchen und Schirme, und an normalen Tagen hing ein Zettel im Fenster mit der Aufschrift: Neubespannung von Schirmen. Jetzt war kein Zettel zu sehen, weil die Fensterläden geschlossen waren. Ein Trauersträußchen war mit einem Band am Türklopfer befestigt. Zwei arme Frauen und ein Telegrammbote lasen die Karte am Sträußchen. Auch ich trat näher und las:

1. Juli 1895

Reverend James Flynn

(ehemals S. Catherine’s Church, Meath Street),
im Alter von 65 Jahren.

R.I.P.

Was auf der Karte zu lesen war, machte mir seinen Tod zur Gewissheit, und es störte mich, dass ich nun nicht weiter wusste. Wäre er nicht tot, ich wäre in das kleine dunkle Zimmer hinter dem Laden gegangen, wo er in seinem Armsessel beim Feuer gesessen hätte, fast vollständig bedeckt von seinem Überzieher. Meine Tante hätte mir vielleicht ein Päckchen Schnupftabak für ihn mitgegeben, und diese Gabe hätte ihn aus seinem Schläfchen gerissen. Meine Aufgabe war es stets, das Päckchen in seine schwarze Schnupftabaksdose zu füllen, denn seine Hände zitterten zu sehr, als dass er es geschafft hätte, ohne die Hälfte des Tabaks auf dem Boden zu verstreuen. Selbst wenn er seine große zitternde Hand an seine Nase führte, rieselten ihm kleine Tabakwölkchen durch die Finger auf seinen Mantel. Es mochte dieser beständige Niederschlag an Schnupftabak gewesen sein, der seiner alten Priesterkleidung ihre grünlich-verblichene Erscheinung verliehen hatte, denn das rote Taschentuch, ganz schwarz von den Tabakflecken einer Woche, mit dem er die herabgefallenen Krümel fortzuwischen versuchte, war keine große Hilfe.

Ich wollte hineingehen und nach ihm sehen, doch mir fehlte der Mut, anzuklopfen. Langsam lief ich weiter auf der sonnenbeschienenen Seite der Straße und las im Vorübergehen all die theatralische Werbung in den Schaufenstern. Mich befremdete, dass weder ich noch der Tag in Trauerstimmung zu sein schien, und es verärgerte mich regelrecht, in mir ein Gefühl von Freiheit zu entdecken, als sei ich durch seinen Tod von etwas befreit worden. Das überraschte mich, da doch am Abend zuvor mein Onkel über ihn gesagt hatte, er habe mir viel beigebracht. Er hatte am Irish College in Rom studiert und mich die richtige Aussprache des Lateinischen gelehrt. Er hatte mir Geschichten über die Katakomben erzählt und über Napoleon Bonaparte, und er hatte mir erklärt, was die verschiedenen zeremoniellen Handlungen während der Messe bedeuteten und was die unterschiedlichen Gewänder des Priesters. Manchmal erlaubte er sich den Spaß, mir schwierige Fragen zu stellen, etwa, was man in bestimmten Situationen tun sollte oder ob diese oder jene Sünde eine tödliche sei oder eine verzeihliche oder einfach nur eine Unzulänglichkeit. Seine Fragen zeigten mir, wie vielschichtig und geheimnisvoll gewisse Institutionen der Kirche waren, die ich für ganz simple Handlungen gehalten hatte. Die Pflichten des Priesters im Zusammenhang mit dem Abendmahl und dem Beichtgeheimnis erschienen mir so bedeutsam, dass ich mich fragte, wie jemals einer den Mut hatte aufbringen können, sich diese zu seiner Aufgabe zu machen, und es überraschte mich nicht, als er mir sagte, dass die Kirchenväter Bücher so dick wie das Dubliner Adressverzeichnis und eng gesetzt wie die Bekanntmachungen in der Zeitung geschrieben hatten, um all diese vertrackten Fragen zu erläutern. Wenn ich daran dachte, konnte ich oft keine Antwort geben oder nur eine sehr dümmliche und zögerliche, woraufhin er lächelte und zwei, drei Mal den Kopf schüttelte. Manchmal...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2016
Reihe/Serie Edition Anaconda
Edition Anaconda
Übersetzer Jan Strümpel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bürgertum • Dublin • eBooks • Erlebte Rede • Irland • Kurzgeschichten • Kurzgeschichten-Zyklus • Prosa • Ulysses • Vorläufer Ulysses • Zyklus
ISBN-10 3-7306-9155-4 / 3730691554
ISBN-13 978-3-7306-9155-7 / 9783730691557
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