Keinen Bissen mehr - Das Spiel mit dem Hunger-Tod - Autobiografisches Tagebuch über eine Magersucht (eBook)
236 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-342-5 (ISBN)
Kapitel 12
„Beurteile deinen Tag nicht nach der Ernte, die du einfährst, sondern nach der Saat, die du pflanzt.“
Eines Tages betätigte meine Mom die Reißleine und sagte mir, dass ich in der Ananke-Klinik ein Vorstellungsgespräch hatte. Ich konnte nicht glauben, was ich da soeben gehört hatte, doch innerlich wusste ich, dass auf jeden Fall endlich etwas passieren musste. Ich hatte ja selbst davor schon in meiner freien Zeit teilweise nach Kliniken in meiner Umgebung gesucht, weil ich wusste, dass eine ambulante Therapie nie und nimmer helfen würde. Ich wusste auch, dass meine Eltern die ganze Zeit über Angst hatten, dass ich es gar nicht schaffen würde und die Krankheit meinen Tod bedeutete. Ehrlich gesagt, hatte ich es manchmal sogar wirklich gehofft, dass ich eines Tages nicht mehr aufwachen würde, weil ich einfach solche Schmerzen hatte und mein Leben nur noch die reinste Hölle war. Mir war ständig kalt und selbst ein „Zwiebellook“ mit drei dicken Decken über mir konnte nichts ausrichten. In der Schule hatte ich die Pausen auch immer dafür genutzt, meine kalten Finger, die ich teilweise nicht mehr richtig spürte, an dem Heizkörper auf der Toilette zu wärmen, damit sie nicht mehr gar so blau waren.
Voller Angst fuhren meine Eltern und ich dann eines Nachmittags im Sommer 2015 nach Freyung in diese Klinik für Psychosomatik und Essstörungen. Ich war so wütend und traurig zugleich, dass sie einfach etwas beschlossen, ohne vorher mit mir geredet zu haben und dass sie mich einfach so wegschieben würden. Ich war verletzt deswegen und wollte ihnen das umso mehr zeigen, indem ich kein Wort mehr mit ihnen redete. Ich dachte mir nur, dass ich wie eine Aussätzige wäre, die man endlich loshaben würde und damit sie daheim wieder ein normales Leben hätten. Ich konnte sie natürlich gut verstehen, weil ich ihnen wirklich eine große Last war, andererseits war ich doch auch ihr Kind und das kann man doch nicht einfach so weggeben? Ich weiß aber auch, dass sie aus reiner Verzweiflung gehandelt haben, weil mich nichts auf die richtige Bahn brachte und sie sich so große Sorgen um mich machten.
Sie ließen mich deswegen sogar von der Schule daheim, dem einzigem Ort, an dem ich wirklich gerne war und der mir einen Trost gab. Sie alle hofften endlich auf einen Neuanfang und ich willigte wegen dem Gedanken an meine Familie und aus Trotz auf einen Aufenthalt ein. Ich tat es nicht für mich. Ich wollte es auf keinen Fall. Allein schon das Wort „zunehmen“ schürte in mir eine Angst, die Gänsehaut erzeugte. Ich war nicht bereit, ganz und gar nicht. Schon da überlegte ich mir, wie ich schummeln konnte und es schaffte, so viel heimlichen Sport wie möglich machen zu können. Und das ganze Essen, das mich erwarten wird? Es spukte die Vorahnung in meinem Kopf herum, die mich verrückt zu machen drohte. Ich werde „normales“ Essen essen müssen, ich würde zunehmen und dick werden können. Ich würde unter permanenter Beobachtung stehen und ich hätte keinen Rückzugsort für mich. All meine Befürchtungen hatten sich nicht bestätigt.
Dann war der Tag gekommen: 06.07.2015. Meine Eltern schienen sehr froh darüber zu sein, aber ich machte ihnen meine „Gedankenwechsel“ ja doch nur vor.
Ich bereute es, als ich im Auto saß, da ich daran dachte, wie ich es nur mit meinem Sportzwang hinbekommen sollte. Ich hasste mein Leben nur noch und sah nicht, dass ich sehr dringend etwas ändern müsse. Ich ging also mit einer sehr negativen Einstellung heran und die Tatsache, dass ich die Jüngste in der Einrichtung sein würde, lag mir auch schwer im Magen. Ich war 16, doch die Klinik war für Erwachsene. Wie sollte ich mich denn dort wohlfühlen? Ich heulte auf der Autofahrt schon vor mich hin und dachte mir, wieso diese ganze Anstrengung gut war. Ich war ein hoffnungsloser Fall, ich würde es nie schaffen, jemals ein normales Leben führen zu können. Ich würde an dieser Krankheit bestimmt eines Tages sterben müssen. Dann ging das alles auch noch ins Philosophische mit: Warum ich? Warum meine Familie? Warum?
All das kreiste in meinem Kopf herum und ich verzweifelte nur noch mehr. Würde ich abhauen können? Würde ich die Möglichkeit haben, unterzutauchen und gar nicht mehr aufzutauchen? Dann hätte jeder endlich seine Ruhe. Ich will niemandem Sorgen bereiten, ich wollte niemandem das Leben ruinieren, ich wollte auch selbst doch nur eine normale Kindheit haben … Was habe ich nur falsch gemacht, wofür hatte ich das verdient, warum, weshalb, wieso …
Ich war der festen Überzeugung, dass ich nie wieder gesund werden würde. Aber ich konnte der Aufnahme nichts entgegensetzen und musste der Tatsache ins Auge blicken, dass ich nun für eine Zeit lang dort gefangen sein würde und es mein neues Zuhause für einige Wochen war. Ich war so traurig und wütend zugleich. Ich würde meine Familie über lange Zeit nicht sehen und auch nicht in meine geliebte Schule gehen können. Ich hatte Angst, dass ich dumm werden könnte, weil ich mein Gehirn nicht anstrengte, denn ich forderte mich geistig und körperlich sehr gerne.
Das Allerschlimmste war der Gedanke an meinen Sportzwang und die voraussichtliche Zunahme. Alles Horrorvorstellungen, die ich meinen Eltern anlastete, doch insgeheim wusste ich, dass sie einfach aus Sorge um mich und meine Gesundheit gehandelt hatten. Ich gab ihnen trotzdem die Schuld daran, dass ich für Wochen dort nur noch unglücklicher sein würde.
Ich fuhr mit meiner Mutter und meiner Oma nach Freyung in die Klinik, denn mein Vater musste arbeiten und mein Mom wollte nicht in einem leeren Auto heimfahren, da sie es psychisch auch nicht ausgehalten hätte. Davor habe ich mich Zuhause noch von meinen Geschwistern und meinem Papa verabschiedet. Ich hatte große Angst und wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Ich hielt es ja nicht einmal im Auto aus, still drinzusitzen. Ich musste wie in der Schule ständig meine Beine auf- und abbewegen, um meine Bauch- und Beinmuskeln zu trainieren. Jede Bewegung brannte, da mein ganzer Körper einfach überlastet, ausgepowert und übersäuert war. Diese ganze Eiweißkost tat mir ganz und gar nicht gut und bescherte mir mehr als nur schlimme Bauchschmerzen. Ich schwieg die ganze Fahrt über und schaute nur aus dem Fenster. Am liebsten wäre ich einfach hinausgesprungen und davongerannt.
Als ich mit meinem Koffer ankam, saßen schon einige Patienten im Garten vor dem Gebäude und ich fühlte mich von oben bis unten gescannt. Ich hatte sofort ein mulmiges Gefühl ich Bauch, als ich die Gestalten musterte und ich fühlte mich als die Dickste von allen. Sie sahen alle viel dünner aus als ich und ich schämte mich, dass ich überhaupt hier auftauchte. Ich sah vor mir nur Skelette, wohingegen ich total wohlgenährt herüberkam. Ich redete mir ein, dass ich doch gar keine Klinik brauchen würde, weil ich noch nicht gefährdet sei, sondern einfach schön dünn. Mir stiegen wieder gleich Tränen in die Augen, weil in mir Schamgefühle auftauchten und ich ab da genau wusste, dass ich am falschen Ort war. Ich hatte es mir gleich gedacht, doch ich wusste nicht genau, was mich geritten hatte. Ich fühlte mich wie an einem unheimlichen Ort, denn die Menschen dort sahen aus, wie wandelnde Leichen. Ich sah nicht, dass ich sehr wohl Ähnlichkeit mit ihnen hatte. Meine Emotionen überwältigten mich schon zu dem Zeitpunkt.
Man drückte mir einen Schlüssel in die Hand und ich hatte lediglich fünf Minuten Zeit, um mich zu verabschieden, was sehr überwältigend war. Wir drei brachen sofort in Tränen aus und als sie meine Tür schlossen und gingen, war ich gefühlsmäßig am Ende. Ich musste den ganzen Tag weinen, da ich jetzt wirklich allein war und auf mich gestellt. Ich kannte diese Situation nicht, da ich noch nie allein von zu Hause weg war, nicht einmal für eine Nacht. Es war ja immer meine Schwester dabei und jetzt? Ich stellte mir vor, wie sie zu Hause eine Party feiern würden, da sie nun wieder die Möglichkeit auf ein paar schöne Wochen ohne mich hatten. Ich war abstoßend. Ich war meiner Familie wahrscheinlich eh nur wie das fünfte Rad am Wagen: überflüssig und unwichtig. (Was natürlich überhaupt nicht stimmte, aber ich redete es mir ein.) Ich packte dann in meiner Trauer erst einmal aus und lernte meine Zimmerpartnerin kennen. Ich bekam ein Doppelzimmer mit dem Mädchen, das eine Sonde in der Nase stecken hatte und das wirklich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Sie schien mir so zerbrechlich und kurz vor dem Tod, dass ich richtig erschrak. Einerseits wollte ich nie so dürr werden, andererseits schien es mir ein schöner Gedanke zu sein, da ich dann noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen würde. Aufmerksamkeit, die ich mein Leben lang nie von anderen Menschen außer meiner Familie bekam. Schon überkam mich ein Drang nach meinem Sport, ein überwältigendes Schuldgefühl, das mich fast in den Wahnsinn trieb. Ich hatte keine Gelegenheit dazu, da meine Zimmergenossin da war und sonst auch nur Menschen um mich waren. Ich hatte keinen Raum nur für mich allein, ich würde durchdrehen. Ich musste mit dem Zwang kämpfen und fing an, im Zimmer hin- und herzugehen und sperrte mich danach auf der Toilette ein, um mich auszuweinen. Ich konnte es nicht zulassen, meinen Sport auszulassen, aber wo sollte ich mein Work-out absolvieren? Ich war eingesperrt wie in einem Gefängnis. Man konnte zwar hinausgehen, wann man wollte (ab einem bestimmten BMI, den ich noch hatte), aber trotzdem war immer irgendjemand da, der mich beobachten konnte. Ich konnte meine Emotionen nicht hinauslassen, es staute sich in mir ein Druckgefühl auf, das mich zu verschlingen drohte....
Erscheint lt. Verlag | 17.11.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-95753-342-2 / 3957533422 |
ISBN-13 | 978-3-95753-342-5 / 9783957533425 |
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