Mathilde (eBook)

Roman

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2016 | 1. Auflage
394 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1213-9 (ISBN)

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Mathilde - Leonhard Frank
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Helle Tage in dunklen Zeiten. 

Die schöne, empfindsame Mathilde lebt Tag und Nacht in ihren Träumen. Sie heiratet einen Arzt und führt eine unglückliche Ehe. Durch viele Enttäuschungen hindurch bewahrt sie sich dennoch ihre menschliche Wärme und Güte. In dem englischen Gutsbesitzer und Flieger George Weston findet sie schließlich einen Seelenverwandten und ihre große Liebe. Doch gerade als ihr Glück am größten ist, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Weston meldet sich sofort zum Dienst. Mathilde und Weston, die einander so nahe waren, werden jäh getrennt.

Der leidenschaftliche Pazifist Leonhard Frank zeigt auf ergreifende Weise, wie zerstörerisch der Krieg sein kann, und erzählt zugleich von der Liebe, die scheinbar unüberwindbare Grenzen überkommen kann.



Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, 'Die Räuberbande', für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel 'Der Mensch ist gut' erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist'. Leonhard Frank, 'ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit' (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.

II


Der Frühlingsföhn zog durch das Tal. In der Nacht war plötzlich lauer Regen gefallen. Auf den Abhängen und am Waldesrande lag noch Schnee; die Wiesen waren schon frei. Der Bach war zu einem tosenden, lehmigen Gewässer angeschwollen.

Als Mathilde das Haus verließ und bergan stieg, durchbrach die Sonne das zackige Gewölk. In dem knöchellangen blauen Drillichkleide, das die Brust und die dünne Taille straff umspannte und unten rundum halbmeterweit abstand, glich sie einer großen blauen Glockenblume, die gewichtlos auf dem Wiesenpfad schwebte. Auf dem wollenen Brusttuch lagen die Hände überkreuzt.

Das Gras war naß, die Straße trocken und das Gezweig an den noch kahlen Bäumen nur wie von einem Hauche angegrünt. Wolken, weiß wie Dampf, lang und bauchig, schwammen zwischen den Gebirgsketten, und in weitester Ferne, himmelsnah, glühte der Gletscher, getroffen von der Sonne. Reglos schwebten zwei Bussarde über dem Tale, das ihr angestammter Jagdbezirk war.

Mathilde blieb stehen. Als sie rundum blickte, lauschend auf die Geräusche des Frühlings, der unaufhörlich damit beschäftigt war, den Winter aus dem Heimattale zu vertreiben, glaubte sie, die feinen und wuchtigen Linien des Gebirgs, den Zug des Waldes und den schnellen Lauf des Wildbachs in den Schultern und Gliedern zu spüren.

Durchströmt von Frische und Wärme zugleich, stieg sie weiter, den Kopf ein wenig schulterwärts geneigt, als lausche sie auch den Ratschlägen ihres Gemüts, das unaufhörlich damit beschäftigt war, die dunklen Geheimnisse des Lebens zu entschleiern. Diesen Morgen hatte sie auf ihrem Kinderbett gesessen, in Gedanken versunken, und wie im Traume aus dem rotschimmernden Zopf ein dickes Nest gebaut. Ihr Gesicht war im Laufe des Winters noch weißer geworden.

Seit dem Erwachen aus der Ohnmacht in der kleinen Familienpension war Mathilde verändert. Selbst ihre Gebärden, die sich vorher ausladend vollendet hatten, waren jetzt verhalten. Sie offenbarte auch der Mutter ihre Gefühle nicht mehr und wurde nicht mehr ungeduldig, wenn ihr die Mutter morgens die Bürste wohlgezählte hundertmal durchs Haar zog. Sie hatte viel mit sich selbst zu tun, seitdem sie wußte, warum sie kein Kind mehr war. Oftmals wurde die Erkenntnis des vergangenen Tages schon durch die des folgenden widerlegt. Sie wurde nie fertig.

Für diese Lebensstufe gab es keinen Lehrer. Jetzt prüfte die Keuschheit jeden Wunsch und Gedanken: ein riesiger und unbestechlicher Wächter. Mathilde ging bei ihrem Gemüt in die Schule, das eifrig und unbeirrbar für sie tätig war. Sie mußte nur lernen, die reinen und wunderbaren Gesetzestafeln, die das Gemüt ihr schrieb, richtig zu lesen.

Ein alter Bergbauer, mit immer abgebogenen Knien talwärts stapfend, grüßte, den Finger an der Mütze, stumm die Tochter der Witwe und paffte dabei aus der Pfeife ein blaues Wölkchen, das stehenblieb in der reinen Luft.

Als Mathilde in dem größeren Dorfe, wo die Schule war, das geheizte Haus des Lehrers und die ofenwarme Stube ihrer Freundin Rose betrat, prickelte ihr Gesicht, und die felsgrauen Augen strahlten frisch im Glanze der Gesundheit.

Auf der altersbraunen Tapete fuhren winzige Schiffchen über den Atlantischen Ozean, den der mächtige Kachelofen in zwei Teile trennte. Den heimeligen Geruch der Äpfel, die auf dem Ofen brieten, durchzog der süße Duft blühender Levkojenstöcke. Auf dem anderen Fenstersimse standen hohe Gläser mit Hyazinthenzwiebeln. Die nackten Wurzeln bebten im nährenden Wasser, und die noch schmalen lanzenstraffen Blätter strebten dem Licht und dem Leben entgegen.

Über dem Bett hing eine Landkarte. Paris, London und Schanghai waren rot unterstrichen. In diese Städte wollte die Rose einstens als Gräfin reisen, um in die Oper zu fahren und sich in einem Teehaus in Schanghai von der knienden Chinesin das Täßchen reichen zu lassen, wie es auf der Teebüchse in der Küche abgebildet war.

Sie legte Mathilde den Arm um die Schultern und ging mit ihr hin und her. Ihre vollen Wangen waren rot und heiß. Aber den Arm spürte Mathilde nur wie einen Hauch, so unkörperlich war die Lungenkranke schon geworden, und da wußte Mathilde plötzlich, daß die Rose sterben mußte.

Vor dem Levkojenfenster blieb die Rose stehen, angelehnt an Mathilde, die kein Gewicht spürte und erschauernd dachte: ›Sie ist nichts. Sie ist nichts.‹

»In drei Monaten bin ich tot, das weiß ich.« Sie wußte es. Aber zwischendurch, wenn es ihr ein wenig besser ging, zog die Hoffnung mächtig in sie ein. Dann wieder spürte sie, wie die Kräfte schwanden, und wußte, daß sie sterben werde. »Denkst du dann an mich?«

›Was sag ich, was sag ich?‹ dachte Mathilde. »Ach, was redest du denn da!« sagte sie, mit einem sorglosen Lächeln, das im Erbeben der Lippen gleich wieder zerbrach.

Obwohl die Rose wußte, daß der Vater, der selbst ein halber Doktor war, ihren hoffnungslosen Zustand schon seit langem kannte, flüsterte sie eindringlich: »Ich bitte dich, ich flehe dich an, sag es meinem Vater nicht, daß ich sterben muß. Er würde zu sehr leiden. Auch mußt du mir versprechen – aber feierlich! –, meinem Atem auszuweichen, sonst könnte ich dich heute nacht nicht in meinem Zimmer schlafen lassen.« Sie preßte die heiße Wange auf das kühle Ohr Mathildes, die plötzlich verwirrt wurde durch den Gedanken, die Freundin sei stolz auf ihre Krankheit.

Die Augen der Rose glänzten fiebrig. »Ich will dir jetzt ein Geheimnis verraten. Aber ich enthülle es dir nur dann, wenn du es bis zu meinem Tode hütest.«

»Das versprech ich dir. Aber du stirbst nicht.«

»Du mußt schwören.«

»Ich schwöre«, sagte Mathilde, deren Herz im Halse schlug.

»Nun gut! Gestern bekam ich einen Brief aus Luzern. Von einem Fremden! Ein sehr hoher Herr, das kannst du mir glauben. Du würdest staunen. Er fragte an, ob er sich mir nähern dürfe, um sich mit mir zu verloben.« Sie deutete auf den Papierkorb. »Ich zerriß den Brief und schrieb nur: Ihr Antrag ehrt mich. Aber es hat keinen Sinn mehr.«

Eine Stunde vorher hatte sie diesen Brief an sich geschrieben, überkommen von der Sehnsucht nach Leben, die schon so übersteigert war, daß sie zeitweise ihre Wünsche für bare Wirklichkeit hielt.

Mathildes Herz wurde schwer, weil die Rose geschrieben hatte: Aber es hat keinen Sinn mehr. Sie schluckte, damit die Tränen nicht heraustraten.

Die Abendschleier sanken. Schon waren Dorf und Halden grau. Die Mutter rief. Im Nebenzimmer stand das Essen schon auf dem Tisch. Es gab Haferbrei. Die Mutter nannte ihn Porridge. Sie war vor dreißig Jahren einmal in England gewesen. Seitdem liebte sie alles, was englisch war. Sie war eine stille, einfache Frau.

Der Lehrer teilte aus. Seine Schülerinnen nannten ihn Papa. »Du kannst wohl die Beine nicht still halten unterm Tisch, weil der Porridge so gut ist«, sagte er lächelnd zu Mathilde, obwohl er den Grund ihrer Unruhe sofort erkannt hatte.

Von ihrem siebten Jahre an hatte Mathilde in den Wintermonaten, solang der Schnee so hoch lag, daß sie den weiten Weg von Dorf zu Dorf nicht gehen konnte, auch gegessen und geschlafen im Lehrerhause, das ihre zweite Heimat war.

Über ihrem Bett, das gegenüber dem der Rose stand, hing ein Stahlstich mit der schön verschnörkelten Aufschrift »Faust und Margarete im Garten«. Im Hintergrunde grinste Mephisto aus dem Gebüsch hervor auf das klassische Liebespaar.

Mathilde hatte ihre Kindheitsfreundin im Laufe der Jahre sehr oft nackt gesehen und sich ihr unbekümmert nackt gezeigt. Als die Rose, die nur aus überlangen Beinen und Armen zu bestehen schien, nackt am warmen Ofen lehnte, sah Mathilde plötzlich das Zimmer in der kleinen Familienpension, wo sie erfahren hatte, warum sie kein Kind mehr war, und blickte verwirrt zu Boden.

Die Rose bog die Schultern vor, verdeckte mit den langen, dünnen Händen, die ihr größter Stolz waren, schamhaft die Stelle, wo die Brüste hätten sein sollen, und rief: »Mein Hemd! Ich finde mein Hemd nicht. Mein Gott, wenn jetzt ein Mann ins Zimmer käme.« Sie huschte ins Bett.

Mit einem winzigen rosa Quästchen, das sie heimlich im Dorfladen gekauft hatte, puderte die Rose, die gegenwärtig »Die Kameliendame« las, eilig Nase und Wangen. »Jetzt könnte er eintreten. Ich würde einfach zu ihm sagen: Sie sehen, mein Herr, Sie kommen ungelegen. Ich bedarf des Schlafes. Auch bin ich nicht allein.«

›Jetzt lösch ich einfach die Kerze aus‹, dachte Mathilde. Aber der Mond stand voll am Himmel über dem scharfen Grat – das Zimmer blieb hell. Sie stieg hinter dem Kopfteil des Bettes aus dem Kleid und zerrte das Hemd erst herunter, als sie schon lag und das Nachthemd schon übergestreift hatte.

Melancholisch seufzend stützte die Kranke sich auf und formte mit edler Gebärde aus ihrer Hand eine hängende weiße Blüte. »Was würdest du gesagt haben, wenn ich ein uneheliches Kind bekommen hätte?«

›Das geht ja gar nicht. Aber sie weiß es halt noch nicht‹, dachte Mathilde und flüsterte, von Grauen durchronnen und doch begierig, weiterzugeben, was die Mutter zu ihr gesagt hatte: »Zuerst muß ein Mann uns lieben und zu seiner Frau machen. Dann kommt ein Kind auf die Welt.«

Aber die Rose, die »Das Liebesleben in der Natur« heimlich und aufmerksam gelesen hatte, entgegnete träumerisch: »O nein, es geht auch ohne Heirat. Das ist sogar das Schicksal vieler Frauen meiner Art … Erinnerst du dich noch an den vornehmen Fremden im ›Blauen Lamm‹?«

Dort war...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arzt • Ehe • enttäuschte Liebe • Krieg • Liebe • Seelenverwandte • Unglück • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-1213-1 / 3841212131
ISBN-13 978-3-8412-1213-9 / 9783841212139
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