Die Ursache (eBook)

Roman

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2016 | 1. Auflage
113 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1214-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ursache - Leonhard Frank
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Ein Plädoyer für die Menschlichkeit. Der erfolglose Schriftsteller Anton Seiler kehrt als Erwachsener in die Stadt seiner Kindheit zurück. Er sucht seinen sadistischen Klassenlehrer von damals auf, den er für seine seelische Zerrüttung verantwortlich macht und zur Rechenschaft ziehen möchte. Doch als er seinem Peiniger von einst gegenübertritt, gerät die Situation außer Kontrolle: Seiler ermordet den Lehrer und wird vor Gericht gestellt. Er beginnt, den Ursachen nachzuforschen, die zu seiner Tat geführt haben

Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, 'Die Räuberbande', für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel 'Der Mensch ist gut' erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist'. Leonhard Frank, 'ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit' (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.

I


Der gänzlich mittellose Dichter Anton Seiler, der in Berlin im Laufe von vierzehn Jahren die Illusionen der Jugend verloren und infolge seiner schweren Armut vergebens dagegen gekämpft hatte, sich seelisch verschmutzen zu lassen, unterlag im Winter 1907, ohne die Ursache ermitteln zu können, eines Tages dem unwiderstehlichen Zwang, in die kleine Stadt zu fahren, wo er als Sohn eines Schreinergesellen geboren worden war.

Durch den riesigen Aufwand resultatlos verbrauchter Energie war sein Gesicht scharf geworden wie das eines Verbrechers. Alle Reisenden im Abteil weigerten sich innerlich, den Dichter in die Unterhaltung mit einzubeziehen, und alle verstummten plötzlich vor Verwunderung, weil die scharfe Verbrechermaske seines Gesichtes unerwartet von einem traurigen Lächeln zerbrochen wurde, als er dem kleinen Mädchen zunickte, das im Laufgang stand und ihn lächelnd ansah.

In der Nacht vor der Reise hatte der Dichter von einem Schulausflug durch den heimatlichen Laubwald geträumt. Der gefürchtete Lehrer Mager geht voraus und wendet sich drohend um. Da wechseln wie damals die zwei Rehe über den Waldweg. Besonnte Morgendämpfe. Vogelgezwitscher. Die Fröhlichkeit geht durch mit dem Achtjährigen, über den drohenden Lehrer hinweg, und reißt alle Schulkameraden mit. Von Zweig zu Zweig mit dem Eichhörnchen emporfliegend, sitzt er auf dem höchsten wippenden Ast der Baumkrone und singt in wildem Glück hinauf in den blauen Sommerhimmel. Tief unten staunen die Schulkameraden. Plötzlich ist der Himmel tintenschwarz. Alle Schulkameraden sitzen Milch trinkend fröhlich im Wirtshausgarten – er allein steht vor dem Zaune. Der Lehrer Mager hält ein kirchturmgroßes Glas voll Milch in der Hand, in der anderen das Herz des Achtjährigen, stopft es ihm ins Gehirn und schließt den Kopf wieder. Mit diesem ununterbrochen schmerzhaft zuckenden Druck hinter der Stirn erlebte der Dichter die peinigenden Demütigungen späterer Jahre traumhaft vergrößert noch einmal.

Die Fingernägel tief in die Kopfhaut gekrallt, in dem Bemühen, das Gehirn freizulegen und den Druck herauszureißen, erwachte er, wußte nicht mehr, was er geträumt hatte, fand sich später plötzlich auf dem Bahnhof und sah dann stundenlang aus dem Fenster auf die vorübergleitende Landschaft.

»Tanten, Anfangsgründe!« hörte er wie aus weiter Ferne den ihm gegenübersitzenden Herrn zwei Damen zurufen.

»Ja, das ist keine Erziehung.« Die Damen waren dick und klein, und beide trugen Klemmer. Die vier kurzen Beine baumelten gleichmäßig über dem Kokosteppich.

Der Dichter war vergebens bemüht, sich an seinen Traum zu erinnern.

Eine der Damen sagte: »Wenn’s auch pedantisch ist, das ist ganz gut für den Jungen.«

»Ja, ich kann auch gar nicht anders. Anfangsgründe sind die Hauptsache.«

»Ganz gut für den Jungen!«

»Nein, es ist nicht gut für den Jungen«, sagte der Dichter plötzlich und blickte die Damen an.

»Wie meinen?«

»Es ist auf keinen Fall gut für den Jungen.«

Der Schaffner rief etwas Unverständliches. Der Zug fuhr langsam in die Station ein.

Das Gesicht des Dichters war wieder gespannt und scharf.

Aus dem Gefühl heraus, daß die Reisenden nicht nur weiterfuhren, sondern immer an ihm vorbeigefahren waren, verließ er ohne zu grüßen unsicher das Abteil und den Zug. Verlegen empfand er beim Durchqueren der Bahnhofshalle den Kontrast zwischen seinen neuen Lackschuhen und dem alten, schmutzigen Anzug.

Auf der Treppe blieb er zurückweichend stehen vor dem bekannten Platz, den Kirchtürmen, dem Geruch der Heimatstadt. Rasend schnell durchliefen die Erinnerungen sein Gehirn: Armut, Prügel, Demütigungen, Schulqualen. Er zog den Kopf zurück und blickte geduckt auf die Stadt. »Dieses böse Tier hat mir die Seele krank gemacht«, flüsterte er. »Nein, ich habe kein Gepäck.«

Der Dienstmann ging wieder zu seinen Kollegen. Und der Dichter fühlte sich gedemütigt, als er die geringschätzig musternden Blicke der Dienstmänner sah.

»Ich habe doch längst erfahren, daß ich ohne Gepäck kein Mensch bin«, sagte er, nachdem er sich die ganze Bahnhofsstraße hinunter gequält hatte, und taumelte erschrocken gegen ein Schaufenster, weil er glaubte, der schräg über die Straße auf ihn zukommende Herr sei Herr Mager, sein Lehrer.

Ein Schuster, der ein Paar schwebende Röhrenstiefel an den Stulpen trug, begrüßte den Herrn mit dem Titel Kanzleirat. Der Herr trat schnell von einem Fuß auf den anderen und beschwerte sich, zornig mit den Händen fuchtelnd, weil seine Schuhe knarrten. Der Schuster beugte sich hinab, drückte prüfend das Oberleder und zuckte die Schulter – da sei nichts zu machen. Der Kanzleirat fauchte speichelspritzend den Schuster an und schritt knarrend davon.

Im Dichter, der während der ganzen Reise vergebens darüber nachgegrübelt hatte, was ihn gezwungen habe, in die Heimatstadt zu fahren, war durch den unvermittelt plötzlichen Haß auf seinen Lehrer die Denkfähigkeit vollständig ausgelöscht worden.

Er lehnte noch gelähmt am Schaufenster und sah dem Kanzleirat nach, den er für seinen Lehrer gehalten hatte. Allmählich stellte die Denkfähigkeit sich wieder ein und mit ihr die vom Lehrer Mager erlittenen Demütigungen, die er in den vierzehn Berliner Jahren oftmals kritisch durchdacht hatte. »Diese Demütigungen können nicht der Grund meines Hasses sein«, flüsterte er. »Aber ist es denn möglich, daß demütigende Kindheitserlebnisse, die man vergessen hat, im Gefühlsleben eines erwachsenen Menschen ein dunkles Dasein weiterführen und plötzlich einen Haßausbruch verursachen?« Der Druck unter seinem Brustbein sprach dafür.

»Aber was war es …? Was war es?« flüsterte er, schloß die Augen und horchte, ohne zu denken, nach innen. Plötzlich roch er Kaffee, sah den Vater, wie er am frühen Morgen die Wohnung verließ, und eine Frau, die zum Fenster hinaus »Caro« rief–Erinnerungsfetzen, die er anfangs in keinen Zusammenhang bringen konnte, die sich jedoch durch ein weiteres Glied (der Hund fährt kläffend nach ihm) zu einem bestimmten Schultage verdichteten. Seine Beklemmung steigerte sich. Er sieht die Bankreihen. Frohe Aufregung unter den Schülern. Plötzlich wird ihm heiß. ›Wegen des Schulausfluges!‹

»Schulausflug?« fragte der Dichter sich immer noch, als er schon die enge, dumpfriechende Treppe zur Elternwohnung hinaufstieg. Belastet und verwirrt blieb er vor der Gangtür stehen, ohne zu läuten, weil er fühlte, daß er nahe daran war, die Ursache seines Hasses gegen den Lehrer zu finden. »Schulausflug durch den Wald … Wald.« Da verlor er wieder das Gedächtnis so vollständig, daß er nicht wußte, wo er sich befand, als der Vater die Tür öffnete und erstaunt zurückwich, weil sein Sohn ihm »tückisch … tückisch« ins Gesicht sagte.

»Kommst du endlich einmal zu uns?«

»Ja, wegen des Lehrers!«

»Wegen des Lehrers …? Geh nur hinein, Anton, zur Mutter. Ich muß in die Singprobe.«

»So …? Bist du immer noch Vorstand des Gesangvereins ›Zwischen grünen Bäumen‹?«

»Ja freilich!« Der Vater lächelte freundlich und schüttelte seinem Sohne die Hand, eilig, um rechtzeitig in die Singprobe zu kommen. »Geh nur hinein zur Mutter.«

Schweißnaß geworden, begrüßte er die Mutter, der schnelle Tränen in die Augen stiegen.

»Nun, Mutter«, sagte er weich und unterdrückte das Schluchzen.

»Das weiß ich nicht, wie lange ich hierbleibe.«

Die Mutter legte die Fingerspitzen, die von der Hausarbeit stumpf geworden waren, an den Mundwinkel.

»An was denkst du denn, Mutter?«

»In diesem Bett schläft der Vater und ich in dem.«

Der Dichter sah im einzigen Zimmer umher, in dem seit Jahrzehnten nichts verändert worden war. Nur der Stahlstich nach einer Kreuzigung von Rubens fehlte. »Ich schlafe eben wie früher auf dem Kanapee … Wo ist denn der Christus?«

»Den hab ich für eine Mark verkauft.«

»So, du hast den Christus verkauft …? Unsern Christus?«

»Ja. Oh, Gott! Es ging halt nicht anders … Womit soll ich denn deine schönen Schuhe putzen? Wir haben nur unsere Fettglanzwichse.«

»Jetzt muß ich dich aber doch fragen, Mutter. Sag, bist du denn wirklich soviel kleiner geworden?« Er sah verwundert hinunter auf ihren weißen Scheitel, und sie lächelnd auf zu ihm. »Ich war doch nie größer.«

›Und das Leben könnte so schön sein‹, dachte der Dichter. ›Reisen, Arbeit, Ruhm, eine Frau mit weißem Gesicht und dunklen Augen. Das Schlafzimmer – schön beleuchtet.‹ – »Hast du’s erfahren, Mutter? Einsperren wollten sie mich, wegen meines Artikels.«

»Ja, ich hab’s gelesen … Ich hab ihn aber verstanden. Ich sag dir, ich hab deinen Artikel gut verstanden.«

»Sie nannten mich einen Weltverbesserer.«

»Ja, ja … Wenn der Vater nächstes Jahr wirklich eine Mark Wochenlohn mehr bekommt, dann geht’s uns auch besser. Dann wird’s schön sein.«

»Fünfundsechzig ist der Vater jetzt?«

»Oh, ins Siebenundsechzigste geht er!«

›Guter Gott, dann wird’s schön sein, glaubt sie … Immer noch Illusionen, immer noch!‹ dachte der Dichter. Sein Leben lag entlarvt vor ihm. »Dann wird’s schön sein«, sagte er, überkommen plötzlich von Zärtlichkeit, worauf die Mutter beglückt ihn neben sich aufs Kanapee zog.

Da schritt durch die nach...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Kontrollverlust • Lehrer • Leonhard Frank • Menschlichkeit • Mord • Zerrüttung
ISBN-10 3-8412-1214-X / 384121214X
ISBN-13 978-3-8412-1214-6 / 9783841212146
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