Der Bürger (eBook)

Roman

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2016 | 1. Auflage
334 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1255-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Bürger - Leonhard Frank
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Im Traum und in der Liebe Jürgen Kolbenreiher, Sohn einer angesehenen Patrizierfamilie, träumt davon, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, und schließt sich den Sozialisten an. Hier verliebt er sich in die freigeistige Katharina. Als er dann jedoch die Bankierstochter Elisabeth kennenlernt, ist er völlig fasziniert. Mit ihr lockt ihn die alte vertraute Welt des Reichtums, der Macht und des Genusses - und er muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen.

Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, 'Die Räuberbande', für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel 'Der Mensch ist gut' erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist'. Leonhard Frank, 'ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit' (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.

I


Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ›Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre … Ehrenwort?‹

›Ehrenwort!‹ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.

Er nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ›Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe …? Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe …? Oder würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?‹

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während er sich ›Feigling! Elender Feigling!‹ schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: ›Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! Hat der Buchhändler soeben gelächelt? Über mich?‹

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen.

›Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‹

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.

›Jetzt …! Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‹

Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. ›Jetzt natürlich kann ich nicht hinein‹, dachte Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühl, zu Karl Lenz sagte: »Man muß Empörer werden.«

»Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?«

Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an und beschämt empor zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen eintrat, heimwärts und geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf.

Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe.

Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der Schulkameraden, höhnisch grinsend. Und die Tante sagt: ›Nein, so einen unselbständigen Jungen wie dich gibt’s nicht mehr. Ein Unglück für deinen Vater!‹

Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter quälen, stellte ihnen entgegen: ›Ich habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‹

Fragt die Tante sehr erstaunt: ›Was, das hast du gewagt?‹

Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ›Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‹ bei der Tante in Schutz nehmen: ›Ihr Neffe hat öfter solche erstaunlich selbständigen Ansichten.‹

Sagt die Tante erfreut zum Vater: ›Da ist er ja gar keine Schande für die Familie.‹

Und der Vater sagt: ›Entschuldige, daß ich dich ein »Schmähliches Etwas« genannt habe … Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig behandeln. Unbegreiflich!‹ Jürgen lächelte bescheiden.

Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: »Ich werde ihn in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig und lebensuntüchtig ist er!«

Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.

»Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele«, sagte Herr Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht funkelten. ›Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen‹, dachte er und sagte es nicht.

Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. »Wie geht’s ihm? Wie ist mein Bruder?«

»Unvernünftig, meine Liebe!« Herr Philippi wollte fortstelzen.

Sie erwischte ihn noch am Ärmel. »Daß dieser bedeutende Mann so einen Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner … Heute sagte der Vater zu ihm: ›Du kommst in ein Büro. Das ist das beste für dich …‹ Und das ist auch meine Meinung.«

Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens und betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten schwarzen zwölf Fragezeichen. »Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte …? Kann ich mit Jürgen sprechen?«

»Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ›Die Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns.‹ Sprechen können Sie ihn jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.«

Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. »Hören Sie! Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er plötzlich: ›Hühnchen.‹ Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ›Papa‹, wie bei andern Kindern. Bewahre! ›Hühnchen‹, sagte er und lockte: ›Bi bi bi bi‹, so mit Zeigefinger und Daumen … Sollte man das für möglich halten? Diese Unselbständigkeit …! Er ist ganz seiner Mutter nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Sie hatte Angst vor Mäusen. Ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen; aber als einmal eine Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus ertränkt wurde.«

Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und sagte: »Bi bi bi bi, Hühnchen! Adieu!«

Abweisend blickte sie ihm nach und horchte dann einige Minuten strengen Gesichts an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne. ›Folglich bin ich Atheist.‹ Dann erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab.

Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.

Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte. »Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen … Mein Bruder war ein bedeutender Mann.« Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.

»Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben … Mit viel Geduld und Strenge geht’s vielleicht.«

Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet. »Jürgens schwankende Seele … Seine Unsicherheit …«, vernahmen die Zurückbleibenden.

»Folglich bin ich Atheist.« Der Religionslehrer riß die Augen auf. »Bin ich Atheist, schreibt der Junge! Und neulich diese Geschichte mit Abraham!«

Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn. »Das Leben wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen … Gut und schnell auffassen tut er ja.«

»Bei mir nicht«, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen die Konferenz.

Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bankier • Einfache Bürger • Leonhard Frank • Liebe • Macht • Patrizier • Reichtum
ISBN-10 3-8412-1255-7 / 3841212557
ISBN-13 978-3-8412-1255-9 / 9783841212559
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