Die Schwester des Tänzers (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
550 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74919-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schwester des Tänzers -  Eva Stachniak
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In der Familie Nijinsky dreht sich alles nur um eines: ums Ballett. Als Bronislawa und Waslaw um 1900 in St. Petersburg aufwachsen, bewundern sie allabendlich ihre Eltern in der Garderobe, nervös vor den Auftritten, erhitzt und gelöst danach. Auch für die beiden Kinder ist der Weg vorgezeichnet: Sie werden an der kaiserlichen Ballettakademie aufgenommen - und schon bald zeigt sich, dass besonders Waslaw alle anderen überflügelt. Den Geschwistern steht eine ganze Welt offen - Paris, London, später gar New York -, eine Welt harten Trainings und geschundener Füße, aber auch des Glamours und des Ruhms ...

Hunderttausende Leser schwelgten in Eva Stachniaks Romanen über Katharina die Große - nun bereitet sie abermals einer großen russischen Heldin die Bühne: Bronislawa Nijinska, Schwester des legendären Waslaw Nijinsky und selbst gefeierter Star des Ballets Russes. Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg - und über die Liebe zum Tanz, die alles andere überstrahlt.



<p>Eva Stachniak, geboren in Breslau, lebt in Toronto. Sie hat f&uuml;r Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin f&uuml;r Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Ihre Romane <em>Der Winterpalast</em> und <em>Die Zarin der Nacht </em>waren internationale Bestseller. Zuletzt begeisterte ihr Roman <em>Die Schwester des T&auml;nzers</em> &uuml;ber Bronislawa Nijinska ihre deutschen Leserinnen.</p>

Eva Stachniak, geboren im polnischen Wrocław, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Mit Necessary Lies gewann sie den Canada First Novel Award.

1894-1900


 

1.


Sie sind schwarz. Sie kommen aus Amerika.

Mein Vater hat sie vom Theater mit zu uns nach Hause gebracht. Sie sind die einzigen unter den Gästen, die ich noch nicht kenne. Die anderen gehören alle zu der Truppe unserer Eltern. Sie fragen mich immer, ob ich brav und gehorsam gewesen bin, ob ich schön mit meinen Brüdern gespielt habe. Und wenn ich ja sage, dann schenken sie mir Süßigkeiten, nicht ohne hinzuzufügen, dass ich sie mit Waslaw und Stassik teilen muss.

Die zwei dunkelhäutigen Männer in weißen Fräcken mit schwarzen Aufschlägen bewegen sich lässig geschmeidig wie Katzen zwischen all den Leuten, die da plaudern, Mamusias Kanapki knabbern oder sich ein Glas Wodka von dem Tablett nehmen, das mein Vater herumträgt. Ich beobachte sie eine Weile, bis sie mich bemerken und zu sich heranwinken. Als ich näher komme, weht mir der Geruch von Moschus und Zigarrenrauch entgegen.

Sie heißen Jackson und Johnson.

»Ja und Jo«, sagen sie, zeigen aufeinander und führen eine perfekt synchronisierte Neunzig-Grad-Wendung aus, als präsentierten sie sich einem unsichtbaren Publikum. Dann wenden sie sich mir zu, beugen sich vor, legen die Hände auf die Knie und bewegen sie so rasend schnell hin und her, dass es aussieht, als würden die Knie durch einander durchhuschen. Die Ringe an ihren Fingern funkeln wie Sterne auf ihrer schwarzen Haut.

Ich klatsche so heftig, dass mir die Handflächen wehtun.

Sie fragen mich nicht, ob ich brav war, sondern zeigen mir ein Foto, auf dem sie auf der Bühne zu sehen sind: Sie stehen hintereinander, Spazierstöckchen in der Hand. Zu ihren weißen Fräcken mit den schwarzen Aufschlägen tragen sie glänzende Zylinder, die sehr elegant aussehen. Das Bühnenbild im Hintergrund zeigt ein Feuerwerk und hoch aufragende Gebäude, die bis an die Wolken reichen. Sie haben in New York getanzt. Sie haben in Paris und London getanzt. Und jetzt sind sie auf dem Weg nach Moskau.

Mein Russisch ist ebenso gut wie mein Polnisch, aber wenn Ja und Jo russisch sprechen, klingen ganz vertraute Wörter plötzlich komisch abgehackt oder verzerrt. »Wie nennt man das da?«, fragt einer und zeigt mit dem Finger auf die Schatulle aus Birkenleder, in der Mamusia Holzkohle für den Samowar aufbewahrt.

»Nabiruschka«, sage ich. Als sie es nachsprechen, klingt es sehr hübsch, aber zugleich auch seltsam.

Mir kommt eine Idee. »Könnt ihr sagen: Mama myla Milu mylom. Mila mylo ne ljubila

Jo versucht es. »Mama … myla … Mama mylo …«

Ich schüttle den Kopf und spreche den Zungenbrecher noch einmal vor, jetzt langsamer. Sie lauschen konzentriert mit geschlossenen Augen. Einmal noch, dann haben sie alles Wort für Wort im Kopf.

Und dann höre ich es sie laut sagen, und alle Leute klatschen begeistert. Mein Vater klopft Ja auf die Schulter. Mamusia bringt noch ein Tablett mit Kanapees, und ich, daran gewöhnt, dass die Aufmerksamkeit der Erwachsenen flüchtig ist, verziehe mich in eine Ecke, von wo ich den Raum gut überblicken kann, ohne den Leuten lästig zu sein.

Aber Ja und Jo kommen wieder. »Willst du unseren Tanz lernen, Bronia?«, fragen sie, und als ich nicke und aufspringe, führen sie mich in den Raum nebenan, wo sie schon alles vorbereitet haben: Eine mit Sand bestreute Planke liegt da auf dem Fußboden.

»Schau zu!«

Zuerst zeigen sie mir ein paar einfache Schritte: mit den Fußballen auf der Planke auftupfen, dann mit der Hacke, mit dem Fuß über den Boden schleifen. Ich mache es nach, es ist ganz leicht, und sie nicken. Nach und nach wird es komplizierter, ich muss zweimal, dann dreimal auftupfen, bis ich so weit bin, dass ich mit meinen wunderbaren Lehrmeistern eine Schrittkombination ausführen kann, die auf der Planke klingt wie die Hufe eines galoppierenden Pferds. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit jage ich dahin, meine Füße fliegen, mein Herz schwillt vor Lust und Stolz. Alle drei tanzen wir das, was Ja und Jo Shim-Sham-Shimmy nennen, wiegen uns und werfen die Arme in dem Rhythmus, den unsere Schuhe klopfen.

Am Ende applaudieren sie mir. »Du bist ein Wunderkind, Bronia«, sagen sie. Erstaunlich. Ein Genie. Wenn nur meine Eltern es erlaubten, würden sie mich vom Fleck weg engagieren und zusammen mit mir auftreten. Wir wären die Sensation: »Jackson, Johnson und Nijinska!« Die Welt würde uns zu Füßen liegen. Moskau, Sankt Petersburg. Paris. London. Amerika. »Was sagst du dazu, Bronia? Kommst du mit uns nach New York?«

»O ja«, rufe ich. Ich sehe mich schon dort auf der Bühne stehen im Funkeln des Feuerwerks. Ich trage ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen und auf dem Kopf einen glänzenden Zylinder, und ich habe ein Spazierstöckchen mit einem silbernen Knauf.

»Du bist doch noch ein Baby, Bronia.« Waslaws Stimme bringt mein schönes Luftschloss zum Einsturz. Mein älterer Bruder lehnt an der Tür. Seine Stimme klingt streng und erwachsen, gar nicht wie sonst. »Sie machen nur Spaß«, fügt er auf Polnisch hinzu. »Die nehmen dich nirgendwohin mit.«

Ich frage mich, wie lange er schon da steht. Ich frage mich, ob er mich tanzen gesehen hat.

»Was meinst du, Bronia, sollen wir es noch einmal machen?«, fragt Ja.

Ja und Jo klatschen den Rhythmus, wiegen die Hüften, summen die Melodie, und es juckt mich in den Füßen. Ihre Augen lachen. »Lass dir nicht den Spaß verderben von deinem Bruder. Er ist nur neidisch. Aber wir werden ihn rumkriegen: Zeig ihm, was du kannst!«

»Ich und neidisch?« Waslaw schnaubt verächtlich. »Auf die?«

Er ist fünf. Ich bin nicht ganz vier. Er kann alles, was ich kann, und noch einiges mehr.

Finger schnippen, Absätze klacken leise. Der Rhythmus ist da, ich muss mich nur von ihm mitnehmen lassen. Tanzen ist wie Atmen, es ist in mir, es ist in meinen Körper eingeschrieben. Ich muss es nur freisetzen.

Ich habe keine Zweifel. Ich bin nicht unsicher, nicht im Mindesten.

Ich tanze, schnell, flink. Meine Beine fliegen, meine Arme schaukeln. Mit Ja und Jo neben mir führe ich meine Schritte und Drehungen aus, mit einer Präzision und wilden Kraft, die mich entzücken. Es gibt nichts, was ich vermisse oder brauche.

Als wir fertig sind, legt Ja seine Hand auf meine rechte Schulter, Jo die seine auf meine linke. Ihre Augen leuchten. »Großartig, Bronia«, sagen sie. »Du bist eine echte Künstlerin.«

Und dann verbeugen sie sich mit geübter Eleganz vor mir.

Ich werfe Waslaw, der immer noch in der Türöffnung lehnt, ein Bein leicht angewinkelt, einen Blick zu. Die Augen halb zugekniffen, denkt er über das nach, was er gerade gesehen hat. Er spendet mir keinen Beifall.

Er schiebt die Oberlippe etwas vor. »Das«, sagt er, »sind Varieté-Kunststückchen. Technisch gar nicht schlecht, aber keine Kunst.«

Meine beiden Brüder bekommen richtigen Ballettunterricht. Mein Vater übt mit ihnen jeden Tag außer Sonntag. Ich bin noch zu jung dafür, aber ich darf zuschauen, und das tue ich auch und merke mir jeden Schritt, den mein Vater Waslaw und Stassik beibringt, jede Korrektur. Danach mache ich ihre Übungen immer vor einem Garderobenspiegel. Dieses Jahr an Ostern werden meine Brüder an einer Kinderaufführung in Odessa teilnehmen. Einen »klassischen Kosakentanz« nennt mein Vater das, was sie vorführen werden, und in seiner Stimme klingt Stolz, wenn er das Wort »klassisch« ausspricht. Stassik wird als kühner Kosak auf der Bühne stehen, und Waslaw als sein Mädchen. Er wird um Stassik herumtanzen und dann hoch in die Luft springen.

»Warum hast du uns dann überhaupt zugesehen, Waslaw?«, frage ich. »Warum bist du nicht einfach weggegangen?« Hinter mir höre ich Ja und Jo, die meine Worte mit leisen Stepp- und Schleifgeräuschen begleiten.

»Warum, darum!«, sagt Waslaw, wie so oft, wenn er um eine Antwort verlegen ist. Besonders dann, wenn ich ihn bei einer Lüge ertappt habe. Aber zugeben würde er es niemals. Ich muss mich mit einem stillen Triumph begnügen. Fürs Erste.

2.


Stanisław, Wacław, Bronisława. Wir sind die Kinder der Nijinskys. Unsere Eltern sind die einzigen Polen in der Truppe von Lukowitsch, die in größeren und kleineren Städten Russlands auftritt. Ständig sind wir unterwegs. Von Odessa nach Kiew. Von Kiew nach Moskau. Von Moskau nach Sankt Petersburg. Das Repertoire umfasst Ballettstücke, kürzere Tanzeinlagen, unterhaltende Darbietungen verschiedener Art und, an Ostern und Weihnachten, Kinderballett.

Wir alle drei tragen Namen, in denen das polnische Wort Sława steckt. Es bedeutet Ruhm, und Ruhm ist das, was unsere Eltern uns wünschen, auch wenn sie uns im Alltag Stassik, Waza und Bronia nennen.

Wir sind Kinder von fahrendem Volk. Wir wissen, wie man in kürzester Zeit seine Sachen packt. Wie man Bücher mit einer Schnur so zusammenbindet, dass man den Knoten ohne großes Gefummel wieder lösen kann. Dass man einen Gürtel um einen übervollen Koffer schnallen muss, damit er nicht aufplatzt. Wir genießen es, wenn wir nach der Ankunft an einem neuen Ort unsere neue Wohnung erkunden, wenn Betten und Schrankfächer verteilt werden, wenn wir Mamusia helfen, unsere Teppiche auszurollen und die Zimmer zu den unseren zu machen, indem wir gerahmte Fotografien aufhängen, die Blumenvase, die in Zeitungspapier gewickelt von einer Stadt zur nächsten reist, aufstellen und den Ehrengaben, die mein Vater erhalten hat, einen Platz suchen. Wir besitzen eine bronzene Ballerina, die ich sehr hübsch finde, aber...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2016
Übersetzer Peter Knecht
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Chosen Maid
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Ballets Russes • Ballett • Bronislawa Nijinska • Der Winterpalast • Die Zarin der Nacht • Historischer Roman • insel taschenbuch 4610 • IT 4610 • IT4610 • Nijinski • Russland • Tanz
ISBN-10 3-458-74919-5 / 3458749195
ISBN-13 978-3-458-74919-6 / 9783458749196
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