Zorn - Wie du mir (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403749-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zorn - Wie du mir -  Stephan Ludwig
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Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder ermitteln in ihrem vertracktesten Fall, der Zorn alles abverlangt. Der sechste Band der Kult-Thriller-Serie von Bestseller-Autor Stephan Ludwig Hauptkommissar Claudius Zorn kann es nicht fassen, als er am Morgen seines fünfundvierzigsten Geburtstags neben Staatsanwältin Frieda Borck aufwacht. Wie, bitteschön, konnte das passieren? Auf dem Präsidium kommt es fortan zu peinlichen Zusammentreffen der beiden, und zwischendurch wartet Zorn wie ein liebeskranker Teenager darauf, dass die Staatsanwältin auf seine SMS antwortet. Doch eigentlich hat Zorn noch ein viel gravierenderes Problem: Schröder und er ermitteln in einem neuen Fall, die Leiche eines jungen Mannes wurde an einen Baum gefesselt am Flussufer gefunden. In seinem Oberschenkel steckt ein Zimmermannsnagel, ein möglicher Hinweis auf Folter. Schröder bittet Zorn, die Anruferliste auf dem Handy des Toten durchzugehen. Zorn, nicht ganz bei der Sache, kümmert sich erst viel zu spät darum. Nur, um auf etwas zu stoßen, was er lieber nie gefunden hätte. Denn der Tote hat kurz vor seiner Ermordung eine Nummer gewählt, die Zorn kennt. Und plötzlich steckt Zorn mitten in etwas drin, das ihn vor ein schier unlösbares moralisches Dilemma stellt ... Der sechste Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder Zorn und Schröder sind auch Fernseh-Stars. Alle Bände der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.

Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.

Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.

Unterhaltsam und spannend

Egal, ob man Claudius Zorn mit seiner lakonischen Art mag oder nicht – spannend sinddie Krimis allemal

Eins


Zweitausendfünf. Mitte Februar.

Er lag auf dem Rücken und zählte die Sterne.

Es war kalt, sehr kalt. Ein eisiger Windhauch wehte durch die Schlucht, streifte die schroff um ihn aufragenden Felsen, rauschte in den Wipfeln der froststarren Bäume. Sein Atem kondensierte in der klirrenden Luft. Spitze, scharfkantige Steine bohrten sich in seine Haut.

Er spürte es nicht. Er zählte.

Funkelndes Licht auf nachtschwarzem Samt. Ein ovales, flimmerndes Leichentuch, gesäumt von den Rändern des Talkessels. Knorrige, von Alter und Wind gekrümmte Bäume krallten sich hoch oben in den felsigen Grund, reckten die kahlen Äste in die Dunkelheit.

Er lag genau in der Mitte der Schlucht. Ein älterer Herr Mitte fünfzig, die dünnen Beine ausgestreckt, die Arme flach neben dem nackten Körper. Reglos, als nähme er ein Sonnenbad an einem heißen, stickigen Hochsommertag. Seine Haut schimmerte bläulich, das spärliche Haar auf der mageren Brust war mit Raureif überzogen, hob und senkte sich im ruhigen Takt seines Atems. Ansonsten bewegte er sich nicht. Nur seine Augen, starr nach oben gerichtet, blinzelten ab und zu.

Er zählte.

Acht. Neun. Zehn.

Weiter kam er nicht, dann fing er von vorn an. Wie viele Male er das bisher wiederholt hatte, wusste er nicht. Oft, sehr oft. Er lag schon eine Weile hier. Es ging nicht um das Ergebnis, wie auch? Es gab keines. Eine unvorstellbare Menge. Myriaden, wie es hieß. Äonen. Unendlich viele Sterne in unendlich vielen Größen. Unendlich weit entfernt.

Und schön. Unendlich schön.

Sinnlos, sie zu zählen.

Er tat es trotzdem, um die Zeit des Wartens zu verkürzen.

Ein stilles, zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Die Lippen, bleich, blutleer, hatten die Farbe von bröckelndem Beton angenommen. Die Spur seiner bloßen Füße zog sich über hundert Meter in einer schnurgeraden Linie auf der hauchdünnen Schneedecke vom Eingang der Schlucht bis zu der Stelle, an der er nun lag. Seine Sachen baumelten in den Zweigen einer Kiefer, jedes Kleidungsstück sorgfältig aufgehängt wie an den Haken einer Garderobe. Darunter standen seine schwarzen Lackschuhe, bedeckt von den in der Mitte gefalteten Strümpfen.

Anfangs hatte er die Kälte noch gespürt, das Ausziehen war nicht einfach gewesen. Der altmodische Filzhut und der Kaschmirschal, den Katja ihm damals zu ihrem fünften Hochzeitstag geschenkt hatte, waren schnell abgestreift gewesen, doch mit dem schweren Wollmantel hatte er Probleme gehabt. Seine Finger waren taub gewesen, es hatte eine Weile gedauert, bis er die samtüberzogenen Knöpfe geöffnet hatte.

Er hatte alles zurückgelassen, dort, am Eingang der Schlucht neben dem Plateau, auf dem im Sommer die Bühne für die Freiluftkonzerte errichtet wurde. Fast alles. Seine Finger tasteten neben den nackten Oberschenkeln über den gefrorenen Schotter, schlossen sich um kaltes Messing.

Ein Schatten huschte über ihm durch die Nacht. Ein Vogel, wahrscheinlich eine Krähe. Vielleicht auch ein Habicht, er hatte gelesen, dass die Tiere sich immer mehr in den Städten breitmachten, langsam, aber unbarmherzig verdrängt aus ihren natürlichen Lebensräumen. Lautlos verschwand der Vogel hoch oben zwischen den Bäumen. Irgendwo dort, sagte man, hatte im Mittelalter der Galgen gestanden, von dem die Schlucht ihren Namen hatte. Wo genau, wusste niemand, doch die Gehenkten, hieß es, würden noch immer umgehen.

Deshalb hatte er diesen Ort nicht ausgesucht. Er glaubte nicht an das alberne Getuschel über ruhelose Tote, deren klagende Rufe in mondlosen Nächten von den zerklüfteten Felsen widerhallten. Sicherlich, er hätte es woanders zu Ende bringen können, doch hier war er richtig. Es fühlte sich zumindest richtig an, er war kein analytisch denkender Mann, er war Musiker, ein Bauchmensch. Oft genug hatte er auf der großen Bühne unter den Felsen gesessen, die Trompete an den Lippen, den Blick über das Notenpult auf den Dirigenten und die Köpfe der andächtig lauschenden Masse gerichtet, ein paar Dutzend Meter von der Stelle entfernt, an der er jetzt lag. Das war der Grund, warum er diesen Ort gewählt hatte. Sicherlich, es war lange her, doch hier war er zufrieden gewesen, der Gedanke an diese Momente hatte etwas Tröstliches.

Ein Käuzchen schrie. Einmal, noch einmal, dann verhallte der Schrei, ging unter im misstönenden Kreischen der Bremsen einer S-Bahn. Das Echo schwebte eine Weile zwischen den Felsen, dann war es wieder still, abgesehen vom stetigen Rauschen des nächtlichen Verkehrs und dem ruhigen, gleichmäßigen Schlag seines Herzens.

Puck. Puck.

Er schloss die Augen.

Puck. Puck.

Schneekristalle hingen in seinen Wimpern.

Puck. Puck.

Dies war der Ort. Das Ziel. Sein Leben lang war er darauf zugesteuert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er hätte es nicht verhindern können, auch nicht, wenn er gewollt hätte. Es war logisch. Die letzte, endgültige Konsequenz. Er war angekommen, nach vierundfünfzig Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen. Endlich.

Die Frage war nur, warum es so lange gedauert hatte.

Eine weitere Böe fegte durch die Schlucht. Trockener, pulvriger Schnee wirbelte auf, sank wieder herab. Sein Körper glänzte, bedeckt mit einer hauchzarten Schicht. Puderzucker auf kaltem, erstarrtem Kerzenwachs.

Er hatte ihn immer in sich getragen, diesen Wunsch nach Ruhe. Sein Dasein war geprägt gewesen von einer unerklärlichen Trübsal, einer freudlosen Mischung aus Tristesse und Melancholie. Der einzige Halt, den er gefunden hatte, war die Trompete. Er war gut, hieß es, einer der besten, bekannt für seine glasklare, sichere Intonation, ein virtuoser Meister seines Fachs. Trotzdem, glücklich war er nie gewesen. Zufrieden vielleicht, abgelenkt von der Musik für einen gewissen Zeitraum, ein kurzes Auftauchen aus sumpfigem Morast.

Ein paar Wochen vor seinem vierzigsten Geburtstag war Katja gekommen und mit ihr das Glück. Dieser dunkle Drang, alles hinter sich zu lassen, verzog sich allmählich, und später, als die Kinder kamen, als sie eine Familie wurden, verschwand er für ein paar Jahre.

Jedenfalls so lange, wie sie bei ihm waren.

Zuerst war Katja gegangen. Ein Blutgerinnsel, hatten die Ärzte gesagt. Ein schneller, gnädiger Tod, hatten sie gesagt. Schicksal, hatten sie gesagt, nicht zu ändern.

Der Schmerz hatte ihn fast zerrissen. Ein wütendes Tier, das nie wieder von seiner Seite weichen sollte. Trotzdem hatte er weitergemacht. Ein Vater muss für seine Kinder da sein. Für die Jungs, gerade erst in die Schule gekommen. Und für Sascha, die Kleinste. Die Nachzüglerin. Die Schönste von allen. Sascha, die ihrer Mutter folgte, bevor sie zehn Jahre alt wurde. Schreiend, in einem qualvollen, diabolischen Höllenritt, umgeben von einem Meer aus Blut.

Er öffnete die Augen. Sein Körper war taub, jegliches Gefühl war aus ihm gewichen. Er spürte die Kälte nicht, sein Hirn, von Tabletten und Alkohol umnebelt, gaukelte ihm eine wohlige Wärme vor. Wieder begann er zu zählen, sein Blick wanderte über den funkelnden Himmel. Eine Sternschnuppe zog in einem majestätischen Bogen über ihn hinweg, er sah, wie der Lichtschweif hinter den Bäumen verglühte.

Ein Wunsch, schoss es ihm von Ferne durch den Kopf, er konnte sich etwas wünschen. Ein Lächeln teilte seine bleichen Lippen, es gab nichts mehr, das er wollte. Nur diesen einen, endgültigen Wunsch, den er sich jetzt endlich erfüllte.

Seinen Tod.

Er hatte lange gewartet. Selbst, nachdem Sascha gestorben war, hatte er noch ein paar Jahre durchgehalten. Hatte gekämpft, um die Schuldigen zu bestrafen, ein sinnloser Kampf, den er verloren hatte. Spätestens da hätte er Schluss machen müssen, doch er war nicht allein gewesen, seine Söhne, sie waren zu jung, hatten niemanden außer ihm. Er hatte weitergemacht, war durch sein Leben gestrampelt wie ein Schwimmer mit bleiernen Gewichten an den Füßen, nicht, um das Ufer zu erreichen, sondern einzig und allein mit dem Ziel, endlich versinken zu dürfen.

Ein ferner, einsamer Glockenschlag hallte durch die Nacht. Stille, dann ein zweiter. Die Turmuhr der Backsteinkirche auf der anderen Seite des Flusses, tagsüber ging das Läuten im städtischen Lärm unter. Dort, auf dem Hügel stand das Haus, in dem er zuletzt mit seinen Söhnen gelebt hatte. Sie schliefen jetzt, tief und fest. Morgen früh würden sie pünktlich aufwachen, er hatte ihnen den Wecker gestellt, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Das Frühstück stand auf dem Küchentisch, Cornflakes und frische Milch, er hatte ihre Wintersachen zurechtgelegt, sie sollten sich nicht erkälten. Erst letzte Woche hatte er ihnen neue Mäntel gekauft, sie wuchsen so schnell. Je älter sie wurden, desto mehr erinnerten sie ihn an ihre Mutter.

Trotzdem. Sie waren immer noch zu jung, viel zu jung.

Doch er hatte nicht mehr warten können.

Er war beim Arzt gewesen. Eigentlich, um das Zittern behandeln zu lassen, ein gelegentliches, unkontrollierbares Zucken der Muskeln. Zunächst hatte er es in den Beinen bemerkt. Kurze, schwache Stromstöße, die irgendwann auch an den Armen auftraten. Er hatte Angst gehabt, dass seine Hände in Mitleidenschaft gezogen würden, seine Finger, er brauchte sie zum Trompete spielen. Sein Geist, hatte er gedacht, mochte womöglich verrücktspielen, er hatte keinen Einfluss darauf, doch sein Körper sollte gefälligst bis zum Ende funktionieren.

Dann hatte er die Diagnose bekommen.

Er hatte immer geahnt, dass etwas nicht stimmte. Die Trauer, die sein Gemüt umgab wie ein schmutziger Kokon. Die Todessehnsucht, die manchmal aufkeimende, unerklärliche Wut. Aussetzer, Zeitsprünge. Dieses Zittern....

Erscheint lt. Verlag 27.10.2016
Reihe/Serie Zorn
Zorn
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Baum • Brief • Bruder • Fall • Folter • Geburtstag • Gefesselt • Halle • Kommissar • Konflikt • Krankheit • Krimi • Mord • Mörder • Nagel • Polizei • Schröder • Selbstmord • Sohn • Spannung • Stephan Ludwig • Thriller • Unheilbar • Vererben • Zorn
ISBN-10 3-10-403749-3 / 3104037493
ISBN-13 978-3-10-403749-3 / 9783104037493
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