Eine gute Geschichte (eBook)

Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403860-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine gute Geschichte -  J.M. Coetzee,  Arabella Kurtz
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»Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, mögen nicht wahr sein, aber sie sind alles, was wir haben.« Wir alle erzählen Geschichten - Schriftsteller alleine für sich, wir für andere, gemeinsam mit einem Therapeuten, um das Rätsel unserer Biographie zu lösen. Wir sind von Geschichten umstellt und spinnen sie in einem fort. Doch steckt überhaupt eine Wahrheit hinter den Varianten, Versuchen, Projektionen? J. M. Coetzee geht in seinem Austausch und Briefwechsel mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz diesen Fragen nach. Ausgehend von seiner eigenen Arbeit, mit Exkursen zu Dostojewskij und Cervantes sowie Rückgriffen auf das eigene Leben, diskutieren sie Antworten in dem von Sigmund Freud und Melanie Klein abgesteckten Feld. »Coetzees Stil ist wie immer eindringlich und konzentriert ... Kurtz erweckt die psychoanalytischen Konzepte und Praxis mit einer seltenen Präzision und Unmittelbarkeit zum Leben.« Literary Review

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für »Leben und Zeit des Michael K.« und 1999 für »Schande«. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.Literaturpreise:u.a.:Lannan Literary Award 1998, Booker Prize 1983 (für »Leben und Zeit des Michael K«.), Booker Prize 1999 (für »Schande«), Commonwealth Writers Prize 1999 (für »Schande«), ?Königreich von Redonda-Preis? 2001, Literaturnobelpreis 2003

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien. Literaturpreise: u.a.: Lannan Literary Award 1998, Booker Prize 1983 (für ›Leben und Zeit des Michael K.‹), Booker Prize 1999 (für ›Schande‹), Commonwealth Writers Prize 1999 (für ›Schande‹), ›Königreich von Redonda-Preis‹ 2001, Literaturnobelpreis 2003 Arabella Kurtz ist Fachärztin für klinische Psychologie und Dozentin am Lehrstuhl für Psychologie der Universität von Leicester. Sie lebt in England. Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, außerdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Ein Buch, das weniger Fragen beantwortet als vielmehr zum Mitdenken einlädt.

Man beginnt, das Leben und die Literatur ganz anders als vorher zusammen zu denken. Und das schaffen wirklich nur wenige Bücher.

Wie sich beide [...] die Bälle zuspielen, sie auffangen, damit jonglieren oder einfach nur unkommentiert würdigen ist spannend wie ein guter Match und erhellt komplexe Themen.

Die Art, in der sie psychoanalytische Gemeinplätze hinterfragen, wenden, aus Therapiesitzungen und Quellen neu herleiten, gibt ihnen Tiefe und Lebendigkeit zurück

Wie es der Titel verspricht, springen nicht nur Denkanstöße zur Wahrheitsfrage, sondern vor allem auch ›gute Geschichten‹ dabei heraus.

Ohne zu belehren, stoßen sie Türen zum Verständnis auf.

Zwei


Schriftsteller und ihre problematischen (vielleicht selbstdienlichen) Vorstellungen von der Wahrheit. Die Formbarkeit des Gedächtnisses. Erinnerungen verankern, anstatt den Erinnerungsspeicher zu plündern, um die Lebensgeschichte umzuschreiben. Die Verlockung der Selbsterfindung. Gesellschaftliche Folgen der freien Selbsterfindung.

 

Die Patientenwahrheit im therapeutischen Kontext. Dynamische (sich entwickelnde) Wahrheit. Die Mittlerrolle des Therapeuten. Intersubjektive Wahrheit. Mitgefühl. Die Rolle des Herzens, die Rolle des Kopfes. Geteilte soziale Erfahrungen als Bremse für rücksichtslose Selbsterfindung. Die Lehren der Kunst. Die Begegnung mit Kunstwerken als eine intersubjektive Erfahrung. Lernen, seine eigene Perspektive einzunehmen; ein klinischer Fall.

* * *

JMC – Ich muss wohl auf der Frage beharren, die ich das letzte Mal gestellt habe: Ist es das Ziel des Therapeuten (ich schreibe absichtlich nicht, das Ziel der Therapie), den Patienten mit der wahren Geschichte seines Lebens zu konfrontieren oder vielmehr mit einer Geschichte seines Lebens, die es ihm ermöglicht, angemessener oder glücklicher zu leben (nach der Freud’schen Minimal-Richtlinie heißt das, dass er in die Lage versetzt wird, wieder zu lieben und zu arbeiten)? Welches Maß an Flexibilität kann sich die Therapie in der Praxis leisten? Natürlich strebt der Therapeut immer das ideale Ergebnis an, die ganze Wahrheit und die Akzeptierung der ganzen Wahrheit durch den Patienten; doch muss sich der Therapeut, wenn man die zeitlichen und finanziellen Beschränkungen bedenkt, nicht sehr oft mit einem weniger guten Ergebnis zufriedengeben, mit einer Wahrheit, die nicht die ganze Wahrheit ist, die jedoch gut genug ist, um den Patienten wieder arbeitsfähig zu machen?

Wenn ich lese, was Freud in seinen weniger pessimistischen Momenten geschrieben hat, stelle ich fest, dass er auf eine meiner Meinung nach bedingungslose Art die Richtlinie wiederholt: Du sollst die Wahrheit wissen, und die Wahrheit wird dich frei machen. Meine Frage ist: Wenn das Ziel der Therapie darin besteht, den Patienten frei zu machen, ist die Wahrheit der einzige Weg zur Freiheit? Könnte nicht eine Version der Wahrheit, nicht so umfassend wie die ganze Wahrheit und vielleicht an die Erfordernisse des Moments angepasst (die Erfordernisse zu diesem Zeitpunkt im Leben des Patienten), genauso gut funktionieren, wenn es das Ziel ist, den Patienten wieder ins Gleis zu bringen?

Für mich ist die Frage brisant, weil zumindest seit Platons Zeiten die Dichter (das heißt, Leute, die Geschichten erfinden) bezichtigt werden, dass sie nicht in erster Linie der Wahrheit verpflichtet seien. Die Dichter verteidigen sich typischerweise mit der Erklärung, dass sie an die Wahrheit glauben, aber dass sie ihre eigene Definition haben, worin die Wahrheit besteht. Wenn man ihre Definition untersucht, stellt sie sich gewöhnlich als gemischt heraus. Die poetische Wahrheit besteht zum Teil darin, die Welt zutreffend (»wahrheitsgemäß«) widerzuspiegeln, doch zum anderen Teil entspricht sie einer inneren Folgerichtigkeit, Eleganz und so weiter – mit anderen Worten, autonomen ästhetischen Kriterien.

Bei Platons Argumenten gegen die Poeten geht es im Kern darum, dass sie, wenn sie zwischen Wahrheit und Schönheit wählen müssen, allzu bereit sind, die Wahrheit zu opfern. Bei den Argumenten der Poeten geht es im Kern darum, dass Schönheit ihre eigene Wahrheit besitzt.

Man findet irgendeine Version des Schönheit-ist-Wahrheit-Arguments in der Praxis fast jeden Schriftstellers. »Ich mag ja diese Geschichte erfinden, aber aus geheimnisvollen Gründen, die mit ihrer inneren Stimmigkeit, ihrer Plausibilität, ihrem Eindruck von Richtigkeit und Unausweichlichkeit zu tun haben, ist sie trotzdem in gewissem Sinn wahr oder erzählt sie uns zumindest etwas Wahres über unser Leben und die Welt, in der wir leben.«

Der Poet, sagt Platon, überzeugt uns von der Wahrheit seiner Version, wie die Dinge sind, und überzeugt uns, indem er das volle Arsenal der poetischen Tricks und Kunstgriffe benutzt. Der Poet gleicht somit dem Rhetoriker, der nicht das Ziel hat, zur Wahrheit vorzudringen, sondern der einen von seinen Ansichten überzeugen will.

Ich kehre zur therapeutischen Situation zurück. Was hindert mich als Therapeuten daran, mir vorzunehmen, das zu benutzen, was der Patient mir erzählt, um zu einer überzeugenden (das heißt, plausiblen) Erzählung über das bisherige Leben des Patienten zu kommen und zu einer überzeugenden Skizze, wie dieser Erzählstrang so in die Zukunft geführt werden kann, dass der Patient in der Welt lieben und produktiv arbeiten kann?

Die offensichtliche Antwort ist: Meine Loyalität gegenüber der Wahrheit hindert mich daran. Doch kann in der Praxis die Wahrheit – die ganze Wahrheit – ohne endlose Analyse erreicht werden? Und wenn eine nicht enden wollende Analyse nicht praktikabel ist, warum sollte man sich dann nicht mit einer Version der Wahrheit begnügen, die in gewissem Sinn funktioniert?

• • •

AK – Die kurze Antwort auf Ihre Frage ist: Ja, natürlich muss man sich mit einer Version der Wahrheit, die funktioniert, zufriedengeben. Doch nach meiner Erfahrung IST es sehr oft die Wahrheit, die funktioniert – ich kann den Gegensatz zwischen Praktikabilität und Wahrheit in Ihrer Darstellung nicht akzeptieren. Zunächst einmal haben ja die Menschen, wenn sie so weit sind, einen Psychotherapeuten zu konsultieren, oft schon alle plausiblen und vernünftigen Erklärungen für das, was geschieht, erschöpft und alle möglichen Formen praktischer Hilfe ausprobiert. Es bedarf eines Psychotherapeuten, der dem Patienten hilft, tiefer zu graben und gewissermaßen zu begreifen, warum er so unglücklich ist, was vorher nicht möglich war, meist weil man nicht in der Lage ist, sich etwas Schmerzlichem oder Schwierigem zu stellen. Wenn das geschieht, wie unzureichend und unvollständig auch immer, fühlt es sich wie die Wahrheit an. Keine historische oder wissenschaftliche oder philosophische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.

Ich möchte versuchen, noch etwas mehr über die Natur der Wahrheit in der Psychotherapie zu sagen, weil ich glaube, dass es eigentlich darum geht. Denken wir einen Moment daran, wie sich die eigene Vorstellung von den Eltern, nehmen wir an, von der Mutter, im Lauf des Lebens verändert, so dass man bei einem psychotherapeutischen Gespräch unterscheiden kann zwischen der Sicht auf die Mutter, die man als Baby hatte, und der Sicht, die man als Kind hatte, als Heranwachsender, als junger Erwachsener mit oder ohne eigene Kinder, als Erwachsener in mittleren Jahren und so weiter. Wenn man sich das als Beispiel dafür, wie sich Lebenserzählungen in der Therapie entwickeln, vor Augen hält, scheint mir nun, dass es keine irgendwie festgelegte und ewige Wahrheit gibt, die allmählich und mühsam erworben wird – in diesem Fall im Hinblick auf die Mutter und wer sie wirklich war und ist. Oder wenn es sie doch geben sollte, dass es dann wenigstens nicht die Aufgabe der Therapie ist, wie ich sie verstehe. Darüber hinaus ist es doch so, dass Therapeut und Patient darauf hinarbeiten, die Art und Weise zu verstehen, wie eine intime, prägende Beziehung im Kopf des Patienten erlebt wird. Dabei ist die Perspektive wichtig: Wo befindet sich der Patient im Hinblick auf seine eigene Entwicklung und seine Bedürfnisse, sein Temperament, die Art der Beziehung und die äußere Situation, wie sie von ihm erlebt wird. Aus diesem Grund ist die Wahrheit in der Psychotherapie ihrem Wesen nach dynamisch, weil sie aus der Perspektive eines Lebewesens abgeleitet ist, eines Lebewesens, dessen äußere und innere Charakteristika sich im Laufe der Zeit verändern, wenn auch geringfügig.

Wenn zum Beispiel ein Patient seine Mutter idealisiert, um sich vor der vollen Wucht der Enttäuschung über sie zu schützen, kommt es darauf an, dem Patienten zu helfen, die emotionale Logik der Situation zu ergründen und zu verstehen, wo sie sich in seine Entwicklung einfügt und wie die daraus resultierende Geisteshaltung eine Weiterentwicklung behindert. Man könnte das tun, indem man praktisch eine Verzerrung beseitigt und etwas aufdeckt, was sich für den Patienten realer und wahrer in der äußeren Welt anfühlt. Aber als Psychotherapeut arbeitet man darauf hin, die innere Welt des Patienten zu verstehen und die Notwendigkeit der Verzerrung zu beseitigen, indem man diese Notwendigkeit versteht – statt zu viel äußere Wahrheit anzubieten. (Meiner Auffassung nach gerät das letztere Vorgehen in gefährliche Nähe zu der Art des Kritisierens und Abwertens von emotionalen Erfahrungen, die die Menschen in erster Linie zur Therapie führt.)

Wahrheit in der psychoanalytischen Psychotherapie ist innere Wahrheit – die Wahrheit dessen, was im Herzen und im Kopf des Patienten ist, erkannt und – wenn man Glück hat – verstanden vom Herzen und vom Kopf des Psychotherapeuten. Denn genauso wie man stets zu berücksichtigen versucht, dass der Patient ein erkennendes Subjekt ist, das die Welt auf seine einzigartige Weise erlebt, und ihm zu helfen versucht, sich stärker als solches wahrzunehmen, ist auch der Psychotherapeut ein erkennendes und fühlendes Subjekt in Bezug auf den Patienten als Objekt. Und ebendiese Art und Weise, in der die Therapie alle Vorgänge des Wissens und Verstehens spiegelt, an denen ein Objekt und ein Subjekt beteiligt sind, ermöglicht eine angemessen mitfühlende und emotional angepasste Erforschung der Methode, mit der der Patient...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2016
Übersetzer Reinhild Böhnke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Biographie • Cervantes • Dostojewskij • Erfindung • Fiktion • Geschichten • Geschichtenerzählen • Gespräch • Identität • Melanie Klein • Psychologie • Psychotherapie • Sigmund Freud • Therapie • Wahrheit
ISBN-10 3-10-403860-0 / 3104038600
ISBN-13 978-3-10-403860-5 / 9783104038605
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