Trümmerkind (eBook)
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-43572-4 (ISBN)
Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u.?a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane 'Trümmerkind', 'Grenzgänger' und 'Feldpost' standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.
- Spiegel Jahres-Bestseller: Belletristik / Taschenbuch 2018 — Platz 9
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 05/2017) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 03/2017) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 02/2017) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 1/2017) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 52/2016) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 51/2016) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 48/2016) — Platz 19
Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u. a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane "Trümmerkind", "Grenzgänger" und "Feldpost" standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.
Kapitel 1
Hamburg, Januar 1947
Erstes wässrig violettes Licht zeigte sich am Horizont, schob sich über Schuttberge, fiel in Bombenkrater und zeichnete die Konturen der Trümmerlandschaft nach. Er kam jetzt schneller voran, konnte sehen, wohin er seine Füße auf dem unebenen Gelände setzen musste. Die Kälte biss ihm in Gesicht und Lunge, drang durch die Jacke, die seine Mutter aus einer alten Armeedecke genäht hatte, und zog von unten durch die dünnen Schuhsohlen und die löchrigen Strümpfe. Dampfend stieg sein Atem auf, während er sich jetzt sicher und mit geübtem Blick über die Trümmer von Hammerbrook bewegte. In dem Strick, der die zu weite Hose auf den Hüftknochen hielt, steckte der Hammer, mit dem er Rohre, Schellen und Scharniere von Wänden und Mauerbrocken löste. Seine Schwester Wiebke blieb auf der geräumten Straße immer auf seiner Höhe und zog den Handwagen.
Für ihn war der Handwagen der wertvollste Familienbesitz. Damit hatte er schon so manchen Schatz, den er in den Trümmern geborgen hatte, abtransportiert. Er suchte nach allem, was auf dem Schwarzmarkt Geld brachte, aber heute brauchte er dringend Brennholz. Im letzten Winter hatte es in den Ruinen noch Balken, Türen und Fensterrahmen gegeben, und damit hatten sie die kalten Tage überstanden, aber in diesem Jahr war kaum noch was zu finden. Bis in den Dezember waren Kohlezüge gefahren, und er hatte sich mit einigen anderen Jungen auf die offenen Loren gewagt. Draußen, wo die Gleise einen Bogen machten, wurden die Züge langsamer. Dann musste es schnell und Hand in Hand gehen. Über die Kuppeln auf die Loren. Das Rauf und Runter war gefährlich, aber wenn man Angst hatte, unter den Zug zu geraten, war man verloren.
»Wenn du drüber nachdenkst, ist es schon passiert«, hatte Peter gewarnt, und wenn die Mutter zu Hause Fragen stellte, behauptete Hanno, nur einer von den Sammlern zu sein, die neben den Gleisen herliefen.
Jetzt waren die Gleise vereist, die Züge fuhren nur noch selten, und die Tommys hatten die Bewachung verdoppelt. An Kohlen war kaum ranzukommen.
Das kleine Zimmer, das er zusammen mit seiner Mutter und der Schwester in ihrem ausgebombten Haus in der Ritterstraße bewohnte, kühlte schnell aus. Wenn sie an einem Tag nicht wenigstens abends ein bis zwei Stunden heizen konnten, war es in der Nacht im Zimmer genauso kalt wie draußen. Vor drei Tagen erst war die alte Frau Schöning, der er immer von den Kohlen abgegeben hatte, in ihrer Notunterkunft erfroren.
Die Lebensmittel, die ihnen auf Karte zugeteilt waren, reichten nicht, um satt zu werden. Die Mutter ging Steine klopfen, aber dass sie alle drei ab und an halbwegs satt wurden, dafür sorgte er mit seinen Fundstücken, die er auf dem Schwarzmarkt eintauschte. Vor zwei Tagen hatte er ein Etui mit einem hochwertigen Füller und einem Tintenfässchen gefunden. Zehn englische Zigaretten hatte ein Tommy ihm dafür gegeben, und die hatten ihm zwei Kilo Kartoffeln und eine Rübe eingebracht.
Er blickte zurück zur Straße. Wiebke ging jetzt neben dem Handwagen auf und ab und schlug mit den verschränkten Armen rhythmisch an ihren Oberkörper.
Als Hamburg im Sommer 1943 in Flammen gestanden hatte und sie aus dem Bunker herausgekrochen waren, in dem sie beinahe erstickt waren, waren ihnen nur die Kleider am Leib geblieben. Stunden zuvor war das Haus über dem Bunker getroffen worden. Der Putz war von den Bunkerwänden gefallen, der Mörtelstaub brannte in Augen und Lunge und machte aus allen vierundzwanzig Frauen, Kindern und Alten, mit denen sie dort ausgeharrt hatten, graue Zementfiguren. Zementgesichter, die schrien, beteten oder weinten. Es dauerte Stunden, den Eingang von innen freizuräumen, und es war schon Tag, als sie endlich, einer nach dem anderen, durch dieses Loch herauskriechen konnten. Draußen hatte er seinen Augen nicht getraut. Überall Feuer, kein Haus weit und breit, keine Straße erkennbar, nur Flammen und Mauergerippe, die in einen schwarzen Himmel ragten. Die Sonne war hinter den aufsteigenden Rußwolken nur zu erahnen. Ein lichtloser Tag, feuerheiß. Und zwischen den Trümmern all die Toten. Verkohlte Körper. Von der Hitze geschrumpft und unkenntlich gemacht.
Wie lange sie dort gestanden hatten, wo einst eine Straße gewesen war, ohne zu begreifen, was sie sahen, wusste er nicht mehr. Aber dass die Kröger umherlief und das Vaterunser schreiend betete, der alte Vogler unaufhörlich von der Strafe Gottes faselte und Frau Weiser am Eingang des Bunkers mit ihrer toten zweijährigen Tochter im Arm sitzen blieb, den Oberkörper hin- und herwiegte und in einer Art Singsang immer wieder sagte: »Sie schläft … es geht ihr gut … sie schläft …«, daran erinnerte er sich genau. Und dass in ihm nichts war. Kein Gefühl, kein Gedanke. Nur dieses staunende Nichtbegreifen, das ihn lähmte.
Irgendwann packte die Mutter ihn am Arm und schüttelte ihn, wie sie es tat, wenn sie böse auf ihn war. »Hanno! Hanno, hör mir zu«, schrie sie ihn an. Er hörte sie wie aus weiter Ferne, und erst als sie ihn ohrfeigte, kam er zu sich. Die Starre in seinen Gliedern löste sich, und nachdem er einige Schritte getan hatte, spürte er unerträglichen Durst und konnte wieder denken. Und sein erster Gedanke war: »Warum hat der Führer das zugelassen?«
Die Mutter nahm seinen Arm mit festem Griff.
»Wir müssen hier weg, hörst du. Wir gehen zu Onkel Wilhelm nach Pinneberg.« Sie weinte. Die Tränen malten Linien in ihr Zementgesicht, wie Risse in Beton.
Irgendjemand brachte Wasser. Er hatte getrunken, als könne er nicht nur den Durst, sondern auch die letzten Stunden auslöschen.
Wiebke mussten sie das Wasser einflößen. Sie stand nur da, gab keinen Ton von sich und reagierte auf nichts. Sie war sechs, tat keinen Schritt, und als sie sich auf den Weg machten, musste die Mutter sie tragen.
An ihrem Haus machten sie noch einmal kurz halt. Das Dach und das obere Stockwerk gab es nicht mehr. Und da sah er ihn. Wie ausgestellt stand der Handwagen auf einem Türsturz in den Trümmern. Hanno war über die noch heißen Schuttberge gestiegen und hatte ihn geholt. Auf dem Weg nach Pinneberg zog er Wiebke darin hinter sich her. Hunderte verließen, wie sie, die Stadt. Ein stiller, nicht enden wollender Zug, in dem man hin und wieder ein Kind weinen hörte, aber niemand zu sprechen schien.
Nach Mitternacht waren sie in Pinneberg angekommen. Onkel Wilhelm bewohnte mit Tante Margret ein geräumiges Haus mit Garten am Stadtrand. Er machte vom ersten Tag an deutlich, dass sie nicht willkommen waren, sagte, dass er auch nicht auf Rosen gebettet sei, und wenn er zu Hause war, gingen sie alle auf Zehenspitzen. Die Tante war freundlich. Sie widersprach ihrem Mann zwar nicht, aber in der Küche sagte sie tröstend: »Er meint es nicht so. Ihr dürft euch das nicht zu Herzen nehmen.«
Seine Mutter fand eine Anstellung in einer Fabrik und trug mit ihrem Verdienst zum Lebensunterhalt bei, was den Onkel etwas gnädiger stimmte. Aber als der Krieg verloren war, wurde er in seiner Verbitterung darüber unerträglich. Dass Hitler Selbstmord begangen hatte, hielt er für eine Lüge. Außerdem ließ er keine Gelegenheit aus, sich über Wiebke lustig zu machen. Seit der Nacht in dem Bunker stotterte sie und nässte nachts ein. Dass sie erst denken und dann reden solle, schimpfte er. Dass das ganze Haus nach Pisse stinke und ihr Gestammel unerträglich sei. Die Mutter legte sich dann mit ihm an, und sie verließen regelmäßig hungrig den Esstisch. Sie wollten so schnell wie möglich nach Hause, aber es hieß, Hamburg sei gesperrt.
Im August 1945 kam die Nachricht, dass die Sperrung für Hamburger aufgehoben sei. Am nächsten Tag war Onkel Wilhelm außer Haus, und Tante Margret belud den Handwagen mit Decken, eingemachtem Gemüse, einem Sack Kartoffeln, Zwiebeln, zwei Töpfen, etwas Geschirr und Besteck. Sie wollten schon los, als die Tante die Nähmaschine aus dem Haus schob. »Wenn wir sie vorsichtig obendrauf legen und die Kinder sie festhalten, passt die noch. Ich kann da sowieso nicht mit umgehen.« Die Mutter wollte sie erst nicht annehmen. »Wenn der Wilhelm das bemerkt«, wandte sie ein, aber die Tante schüttelte den Kopf. »Das lass mal meine Sorge sein. Du kannst sie bedienen und wirst sie gut gebrauchen können.«
Obwohl Hamburg völlig zerstört war und sie drei Tage und Nächte ohne Dach über dem Kopf am Straßenrand kampierten, waren sie guter Dinge gewesen. Sie hatten sogar wieder miteinander gescherzt und gelacht. Zuerst räumten sie den Kellereingang unter ihrem Haus frei. Dort wollten sie fürs Erste wohnen, aber Wiebke war nicht zu bewegen, den Keller zu betreten. Sie weinte, und auch die Versicherung der Mutter, dass keine Bomben fallen und sie nicht verschüttet würden, half nicht.
Also hatten sie die Schuttberge darüber weggeräumt und im Parterre ein halbwegs bewohnbares Zimmer freigelegt. Hanno besorgte in den Ruinen eine Tür, und den leeren Fensterrahmen füllten sie mit Pappe. Während die Mutter mit Wiebke zum Steineklopfen ging, trieb er sich von nun an in den Trümmern herum, immer auf der Suche nach Brauchbarem. Anfang September grub er einen Ofen aus den Schuttbergen aus, und dabei lernte er Peter Kampe kennen. Der war siebzehn, schlug sich seit dem Feuersturm alleine durch und half ihm, den schweren Ofen auf den Handkarren zu laden. Peter war sehr an dem Handwagen interessiert gewesen, den Hanno inzwischen mit Streben und schweren Bohlen vergrößert und stabilisiert hatte. Er bot eine ganze Stange Zigaretten dafür, aber Hanno blieb stur. Dann schlug Peter vor, sich zusammenzutun, und von dem Tag an arbeiteten sie Hand in Hand.
Es war verboten, sich in bestimmten Trümmergegenden aufzuhalten, überall standen Verbotsschilder, und die Tommys fuhren mit...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Bestseller-Autorin • Bodenreform • Der Geiger • Die andere Hälfte der Wahrheit • Enteignung • Familiengeschichten • Familiengeschichten Romane • Feuersturm • Findelkind • Glauser-Preis • Hamburg • Historische Kriminalromane • historischer Krimi • historische romane 20. jahrhundert • Historische Romane Deutschland • Historischer Roman • Kriegsflüchtling • Krimi • Krimi Deutschland • Krimi Hamburg • Krimis und Thriller • Nachkriegsjahre • Nachkriegszeit • Romane Nachkriegszeit • Romane spannend • Russische Besatzung • Schwarzhandel • spannungsromane • Südafrika • Taschenbuch Neuerscheinungen 2017 • Thüringen • Trümmerkind • Trümmermord • Trümmermorde • Vertreibung • Wer das Schweigen bricht • Wiedervereinigung • Zeitgeschichte Roman • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-43572-1 / 3426435721 |
ISBN-13 | 978-3-426-43572-4 / 9783426435724 |
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