Jedem das Seine (eBook)

Ein Volksstück
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2016 | 1. Auflage
112 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-3769-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jedem das Seine -  Silke Hassler,  Peter Turrini
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April 1945: In den letzten Kriegstagen wird eine Gruppe ungarisch-jüdischer Häftlinge ins Lager Mauthausen getrieben. Auf ihrem Fußmarsch werden sie in eine Scheune irgendwo in der österreichischen Provinz gesperrt. Sie wissen nicht wie es weitergehen wird. Am Ende ihrer Kräfte und ihrer Hoffnungen angelangt, beschließt einer der Häftlinge, mit seinen Leidensgenossen eine Operette einzustudieren: Ohne Instrumente, ohne Kostüme, aber voller Entschlossenheit beginnen die Proben für diese außergewöhnliche Inszenierung von 'Wiener Blut' ... In 'Jedem das Seine' setzen Silke Hassler und Peter Turrini den Opfern der Todesmärsche während des Zweiten Weltkriegs ein berührendes literarisches Denkmal.

Silke Hassler, geboren 1969 in Klagenfurt, studierte Literaturwissenschaft in Wien und London. Sie schreibt Theaterstücke und Libretti, die in viele Sprachen übersetzt und aufgeführt wurden. 2005 wurde sie mit dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur ausgezeichnet. Peter Turrini, geboren 1944 in St. Margarethen in Kärnten. Mit seinen Theaterstücken und Drehbüchern gilt er als einer der führenden deutschsprachigen Dramatiker der Gegenwart, er verfasst Gedichte und Essays. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und seine Stücke weltweit gespielt.

Silke Hassler, geboren 1969 in Klagenfurt, studierte Literaturwissenschaft in Wien und London. Sie schreibt Theaterstücke und Libretti, die in viele Sprachen übersetzt und aufgeführt wurden. 2005 wurde sie mit dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur ausgezeichnet. Peter Turrini, geboren 1944 in St. Margarethen in Kärnten. Mit seinen Theaterstücken und Drehbüchern gilt er als einer der führenden deutschsprachigen Dramatiker der Gegenwart, er verfasst Gedichte und Essays. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und seine Stücke weltweit gespielt.

PERSONEN:


DIE JÜDISCHEN HÄFTLINGE:

Ludwig „Lou“ Gandolf, Operettensänger (33 Jahre)

Elias Rotenberg, ein Schneider aus Budapest (zirka 60 Jahre)

Zsuzsa Breuer, Kontoristin (30 Jahre)

Hannah König (60 Jahre)

Jakob König, pensionierter Professor (67 Jahre)

Raphael Glasberg, Geiger (zirka 40 Jahre)

Viktor Heller (40 Jahre)

Edvin Javor (35 Jahre)

Imre Landau (30 Jahre)

Milli Moskovics (25 Jahre)

 

 

DIE DORFLEUTE:

Traudl Fasching, Bäuerin (50 Jahre)

Stefan Fasching, Bauer (55 Jahre)

Leopoldine Schrabacher, genannt Poldi, junge Magd (23 Jahre)

Anton Hochgatterer, Dorfgendarm (zirka 50 Jahre)

Edi Kropfitsch, Hitlerjunge (14 Jahre)

 

1. AKT
FREITAG, 27. APRIL 1945
AM ABEND


Im Inneren eines großen Stadels. Es ist sehr düster, nur das Mondlicht fällt durch einige desolate Stellen im Dach. Eine Gruppe von zehn völlig entkräfteten Menschen lagert in dem Stadel. Es sind jüdische Häftlinge, die auf einem Gewaltmarsch von einem Dorf zum nächsten getrieben werden. Sie tragen Privatkleidung, die von der Zwangsarbeit verdreckt und zerschlissen ist. Ihre wenigen Habseligkeiten, wie blecherne Menagebehälter, haben sie am Gürtel befestigt oder in einem Tuch eingeschlagen. Die meisten von ihnen tragen einfache Holzpantinen oder sie haben gar keine Schuhe mehr, ihre Füße sind mit Sackleinen oder Lumpen umwickelt. Ein Häftling trägt ein zerschlissenes Operettenkostüm, einer anderer eine Trachtenjoppe. Die Frauen tragen Kopftücher. Die Häftlinge sind am Ende ihrer Kräfte, einige liegen völlig erschöpft am Boden, andere haben sich mit dem Rücken an die Stadelwand gelehnt. Manche reiben sich ihre Hände, um sich ein wenig aufzuwärmen. Sie geben kaum einen Laut von sich, niemand redet ein Wort. Mitten in dieses Schweigen erklingt plötzlich ganz leise ein Summen. Jemand summt ein paar Takte des Walzers „Wiener Blut“.

DER HÄFTLING VIKTOR HELLER: (verzweifelt) Aufhören!

Das Summen setzt aus. Stille. Dann setzt das Summen wieder ein. Der Mann im zerschlissenen Operettenkostüm, Ludwig „Lou“ Gandolf, steht vom Boden auf, summt den Walzer und dreht sich im Takt des Walzers im Kreis. Ein Häftling, der Schneider Elias Rotenberg aus Budapest, beobachtet ihn.

DER SCHNEIDER: (mit starkem jüdischen Akzent) Gott meg abhiten, wieder is einer meschugge geworden. Wir werdn erschossen, wir werdn erschlagen, wir werdn wahnsinnig. Wer mecht das alles überleben?

Lou Gandolf in seinem zerschlissenen Operettenkostüm tanzt weiter, er tänzelt zwischen den am Boden liegenden Menschen und verbeugt sich vor einer jungen Frau, Zsuzsa Breuer.

GANDOLF: Darf ich bitten?

Zsuzsa reagiert nicht.

GANDOLF: (eindringlich und leise zu Zsuzsa) Die Welt da draußen will uns töten. Deshalb müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen. Wenn der Wald am finstersten ist, pfeifen wir vor Angst. Ich für meine Person ziehe es vor zu singen. Ich singe, ich tanze. Wollen Sie mit mir tanzen?

Zsuzsa reagiert nicht. Gandolf zieht sie hoch, sie läßt es geschehen. Er nimmt sie in den Arm und dreht sich mit ihr im Takt des Walzers im Kreis. Sie läßt ihn gewähren, aber sie hat kaum Kraft, sich mit ihm im Kreis zu drehen.

GANDOLF: Mit wem habe ich das Vergnügen?

ZSUZSA: (müde) Zsuzsa.

GANDOLF: (singt leise) Wiener Blut! Wiener Blut! Eig’ner Saft, voller Kraft, voller Glut! (Zu Zsuzsa, während er mit ihr tanzt.)Wenn ich mich vorstellen darf? Mein Name ist Lou Gandolf, Tenor. Bis 1944 am Städtischen Operettenhaus Budapest. (Er singt weiter)Wiener Blut! Seltenes Gut! Du erhebst und belebst unsern Mut!

ZSUZSA: (müde) Für Juden ist das Tanzen verboten.

GANDOLF: Ich bin kein Jude, nicht einmal ein halber. Ich bin irrtümlich in diese grauenhafte Sache geraten. Ich bin hier die falsche Besetzung. Es ist alles ein Irrtum. Ich wurde während einer Aufführung hinter der Bühne verhaftet. Ich durfte nicht mehr in die Garderobe, um mich umzuziehen. Keiner hat mir zu meinem fulminanten Auftritt gratuliert, niemand hat sich von mir verabschiedet. Ein Blumenstrauß lag noch beim Portier, aber es wurde mir verwehrt, ihn abzuholen. Es ist eine Verwechslung. Wie in einer Operette. Wie in „Wiener Blut“. Da werden auch ständig alle mit allen verwechselt. Aber am Ende löst sich alles in Freude und Wohlgefallen auf.

Gandolf dreht sich noch ein paar Mal mit Zsuzsa im Kreis, dann löst er sich von ihr und verbeugt sich vor ihr.

GANDOLF: Dankeschön. Dankeschön. Sie haben mir eine große Freude gemacht.

Zsuzsa wankt. Gandolf geleitet, oder besser gesagt, schleppt sie an ihren Platz zurück. Sie sinkt erschöpft auf den Boden. Ein Häftling, der Geiger Raphael Glasberg, steht an der Wand und spielt eine kurze Melodie auf seiner Geige.

VIKTOR HELLER: (schreit) Aufhören! Der soll aufhören mit seiner Melodie! Immer, wenn er seine Melodie spielt, ist einer von uns tot. Der ist ein Todesengel.

Gandolf geht zu Viktor Heller hin.

GANDOLF: Denken Sie doch an das Licht am Ende der Finsternis. Warum immer gleich das Furchtbarste annehmen? Sie haben uns doch sicher nicht tagelang marschieren lassen, um uns dann zu ermorden. Sie haben etwas anderes mit uns vor. Wahrscheinlich bringen Sie uns an die Schweizer Grenze.

DER SCHNEIDER: No, vielleicht deportieren sie uns so lang, bis wir wieder ankommen in Budapest. Mecht ich nix dagegen haben.

GANDOLF: Das Kriegsende rückt näher und näher, wir werden doch immer wertvoller für sie. Sie werden uns gegen deutsche Kriegsgefangene austauschen, das werden sie tun.

Schweigen. Der Geiger legt seine Geige an und spielt wieder die kurze Melodie.

VIKTOR HELLER: (schreit) Aufhören! Der soll aufhören!

Schweigen. Gandolf geht zum abseits stehenden Geiger.

GANDOLF: Warum spielen Sie uns mit Ihrer Geige nicht etwas anderes vor? Etwas Schönes, Leichtes, Beschwingtes?

Der Geiger betrachtet Gandolf in seinem zerschlissenen Operettenkostüm, dann spielt er einen schier endlosen, schrecklichen Ton auf seiner Geige. Die große Stadeltür geht langsam und ächzend auf. Alle verstummen und schauen zur Tür, auch der Geiger. Eine junge Magd aus dem Dorf, Leopoldine Schrabacher, die Poldi genannt wird, tritt ängstlich um sich schauend in den Stadel. Sie trägt einen geflickten Mantel und ein Kopftuch. Schweigen. Sie hält eine Photographie in der Hand.

GANDOLF: (freundlich) Guten Abend!

Gandolf summt ein paar Takte von „Wiener Blut“.

POLDI: Wer san denn Sie?

GANDOLF: (lächelnd) Oh, ich bin hier am falschen Ort und es ist alles ein Irrtum.

POLDI: Man hat uns gsagt, daß sie alle Verbrecher sind, und daß wir auf jedn Fall im Haus bleiben solln, wegen der Gefahr.

GANDOLF: Ich bin nicht kriminell, ich bin Operettensänger. Lou Gandolf, mein Name. Ich war am Städtischen Operettenhaus in Budapest engagiert, meistens in der Titelrolle. Sie haben vielleicht schon von mir gehört?

POLDI: (fassungslos) Na.

GANDOLF: Ich bin auch außerhalb Ungarns bekannt. Ich habe im Laufe meiner Karriere etliche Gastauftritte absolviert. In Linz, in Graz, in Klagenfurt.

POLDI: Darf ich Ihnen bitte was zeigen?

Poldi zeigt Gandolf ihre Photographie.

POLDI: Ich wollt fragen, ob Sie vielleicht meinen Verlobten kennen? Den Rössler Karl. Vielleicht haben Sie gehört von ihm, wo Sie so viel herumkommen.

Gandolf nimmt die Photographie und hält sie ins Mondlicht. Sie zeigt den Verlobten der jungen Magd, der eine SS-Uniform trägt.

POLDI: Er is nämlich bei der SS. Die letzte Feldpostkarte is von der rumänisch-ungarischen Grenze gekommen, vor einem halben Jahr. Der Bauer hat für mich im Atlas nachgschaut, wo das is.

GANDOLF: Wir waren die letzten Monate nicht weit von hier, verehrtes Fräulein, an der österreichisch-ungarischen Grenze. Zu Schanzarbeiten. Es war scheußlich. Glauben Sie mir, es war wirklich scheußlich. Ihrem Verlobten sind wir dort nicht begegnet.

Gandolf gibt ihr die Photographie zurück. Poldi geht zu einem anderen Häftling, zu Viktor Heller, und zeigt ihm die Photographie. Er wendet sich beim Anblick des jungen Mannes in SS-Uniform stumm ab. Ein altes...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2016
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik
Schlagworte Drama • Holocaust • Komödie • Konzentrationslager • Lesedrama • NS-Zeit • Operette • Opfer Nationalsozialismus • Todesmärsche • Tragödie • Ungarische Juden • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-7099-3769-8 / 3709937698
ISBN-13 978-3-7099-3769-3 / 9783709937693
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