Das lyrische Stenogrammheft (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
200 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43058-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das lyrische Stenogrammheft -  Mascha Kaléko
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Mascha Kalékos Hauptwerk erstmals bei dtv! >Krankgeschrieben<, >Sonntagmorgen<, >Großstadtliebe<, >Kassen-Patienten< - so lauten die Titel von Mascha Kalékos Großstadtgedichten aus den 1930er-Jahren. Sie erzählen von Liebe, Schnupfen und Halsweh, dem Sonntagsausflug und Tarifgehältern. In ihrer gewohnten Manier, melancholisch, aber gewitzt, schreibt Kaléko aus dem Alltag für den Alltag und trifft die Menschen mitten ins Herz. Man lernt sich irgendwo ganz flüchtig kennen und gibt sich irgendwann ein Rendezvous. Ein Irgendwas, - 's ist nicht genau zu nennen - Verführt dazu, sich gar nicht mehr zu trennen. Beim zweiten Himbeereis sagt man sich >du<.

Mascha Kaléko, geboren 1907 in Galizien, gestorben 1975 in Zürich, wurde in den 1930er Jahren mit ihrem >Lyrischen Stenogrammheft< schlagartig bekannt. Seit den 1920er Jahren verkehrte sie in den intellektuellen Kreisen des Romanischen Cafés in Berlin. 1938 emigrierte sie in die USA, später nach Israel. Sie ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

Mascha Kaléko (1907-1975) fand in den Zwanzigerjahren in Berlin Anschluss an die intellektuellen Kreise des Romanischen Cafés. Zunächst veröffentlichte sie Gedichte in Zeitungen, bevor sie 1933 mit dem ›Lyrischen Stenogrammheft‹ ihren ersten großen Erfolg feiern konnte. 1938 emigrierte sie in die USA, 1959 siedelte sie von dort nach Israel über. Mascha Kaléko zählt neben Sarah Kirsch, Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

Das lyrische Stenogrammheft


Von Montag früh bis Wochenend


Interview mit mir selbst


Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren

In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt,

Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren

Und eine große Irrenanstalt hat.

Mein meistgesprochenes Wort als Kind war »nein«.

Ich war kein einwandfreies Mutterglück.

– Und denke ich an jene Zeit zurück:

Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.

Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte

Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.

– Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte,

Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.

Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,

Weshalb sie mich – zwecks Bildung – bald entfernten;

Doch was wir auf der hohen Schule lernten,

Ein Wort wie »Abbau« haben wir nicht gehabt.

Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten

Der Jugend und vom ethischen Niveau –

Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.

Ich aber leider trat nur ins Büro.

Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt

Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.

Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.

(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)

Bei schönem Wetter reise ich ein Stück

Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.

– An stillen Regentagen aber warte

Ich manchmal auf das sogenannte Glück …

Chanson vom Montag


Montag hat die Welt noch kein Gesicht,

Und kein Mensch kann ihr ins Auge sehen.

– Montag heißt: schon wieder früh aufstehen,

Training für das Wochen-Schwergewicht.

Und die Bahnen brausen, das Auto kläfft,

Die Arbeit marschiert in den Städten.

Alle Straßen hallen wider von Betrieb und von Geschäft,

Und die Riesensummen wachsen in ein unsichtbares Heft,

– Doch nie in das Heft des Proleten.

Schlagerlied vom Sonntag noch im Ohr,

Denkt man ungern an Bürogehälter.

– Montag hat ein kleiner Angestellter

Mittags Krach und abends gar nichts vor.

Nur der Motor rasselt, der Hammer dröhnt.

Der Werktag kutschiert ohne Pause.

Theater locken. Der Luxus höhnt,

Doch man ist ja längst an Verzichten gewöhnt.

– Wer kein Geld hat, bleibt brav zu Hause.

Montags gähnt sogar das Portemonnaie,

Und es reicht noch grad für die Kantine.

Spät nach Ladenschluß geht man mit Duldermiene

Resigniert vorbei am Stammcafé.

Und die Stunden laufen, der Tag verweht,

Müde hockt man in seinen vier Wänden.

Und dann kommt man ins Denken – wie das so geht …

Man findet die Zeiten ein bißchen verdreht,

Und man fragt sich: wie wird das wohl enden?

Montag ist das Stiefkind des Kalenders,

Düstrer Woche grauer Korridor,

Höchster Mißklang in der Tage Chor,

Strengster Ruhetag des Freudespenders.

Mannequins


Inserat:

»Mannequin 42er Figur, leichte,

angenehme Arbeit, gesucht …«

Nur lächeln und schmeicheln den endlosen Tag …

Das macht schon müde.

– Was man uns immer versprechen mag:

Wir bleiben solide.

Wir prunken in Seide vom »dernier cri«

Und wissen: gehören wird sie uns nie.

Das bleibt uns verschlossen.

Wir tragen die Fähnchen der »Inventur«

Und sagen zu Dämchen mit Speckfigur:

»Gnäfrau, … wie angegossen!«

Wir leben am Tage von Stullen und Tee.

Denn das ist billig.

Manch einer spendiert uns ein feines Souper,

… Ist man nur willig.

Was nützt schon der Fummel aus Crêpe Satin –

Du bleibst, was du bist: Nur ein Mannequin.

Da gibt’s nichts zu lachen.

Wir rechnen, ob’s Geld noch bis Ultimo langt,

Und müssen trotzdem, weil’s die Kundschaft verlangt,

Das sorglose Püppchen machen.

Die Beine, die sind uns Betriebskapital

Und Referenzen.

Gehalt: so hoch wie die Hüfte schmal.

Logische Konsequenzen …

Bedingung: stets vollschlank, diskret und – lieb.

(Denn das ist der Firma Geschäftsprinzip.)

– Und wird mal ein Wort nicht gewogen,

Dann sei nicht gleich prüde und schrei nicht gleich »Nee!«

Das gehört doch nun mal zum Geschäftsrenommée

Und ist im Gehalt einbezogen.

Abschied


Jetzt bist du fort. Dein Zug ging neun Uhr sieben.

Ich hielt dich nicht zurück. Nun tut’s mir leid.

– Von dir ist weiter nichts zurückgeblieben

Als ein paar Fotos und die Einsamkeit.

Noch hör ich leis von fern den D-Zug pfeifen.

In ein paar Stunden hält er in Polzin.

Mich ließest du allein in Groß-Berlin,

Nun werde ich durch laute Straßen streifen.

Und mißvergnügt in mein Möbliertes gehen,

Das mir für dreißig Mark Zuhause ist,

Und warten, daß ein Brief von dir mich grüßt,

Und abends manchmal nach der Türe sehen.

… Ich kenn’ das schon –. Und weiß, es wird mir fehlen,

Daß du um sechs nicht vor dem Bahnhof bist.

– Wem soll ich, was am Tag geschehen ist,

Und von dem Ärger im Büro erzählen?

Jetzt, da du fort bist, scheint mir alles trübe.

– Hätt ich’s geahnt, ich ließe dich nicht gehn.

Was wir vermissen, scheint uns immer schön.

Woran das liegen mag … Ist das nun Liebe?

Das regnet heut! Man glaubt beinah zu spüren,

Wie’s Thermometer mit der Stimmung fällt.

Frau Meilich hat die Heizung abgestellt,

Und irgendwo im Hause klappen Türen.

Jetzt sitz ich ohne dich in meinem Zimmer

Und trink den dünnen Kaffee ganz allein.

– Ich weiß, das wird jetzt manches Mal so sein.

Sehr oft vielleicht. – Beziehungsweise: immer …

Wenn man nachts nicht schlafen kann …


Wenn man nachts nicht schlafen kann,

Hört man von den schiefergrauen

Dächern junge Katzen miauen,

Und das hört sich schaurig an.

Brave Menschen – heißt es – beten,

Dann schickt ihnen Gott den Schlaf.

– Doch man selbst ist niemals brav …

Schlaflos starrt man auf Tapeten,

Zählt die Muster Stück für Stück.

Plötzlich hört man draußen Schritte,

Und vom Ausgang kehrt Brigitte

Wieder mal zu spät zurück.

Von der Straße tönt Gesang:

Durch die mondbeglänzte Stille

Wankt ein Mann aus der Destille,

Glücklich, weil er sich betrank.

Leise bellt ein Hund im Traum,

Und im Hausflur blüht die Liebe. –

Still zur Arbeit ziehen Diebe,

Ihre Schlüssel hört man kaum …

Endlos lang dehnt sich die Nacht.

Eine Uhr schlägt Stund’ um Stunde.

Wächter machen ihre Runde,

Und man zählt bis tausendacht …

Gähnend schleicht der Tag sich ein.

Autos rasseln schon und Wagen. –

Fröstelnd, nachtdurchwacht, zerschlagen,

Dämmert man am Morgen ein. –

Krankgeschrieben


Man liegt im Bett mit einer Halskompresse,

Erschöpft und blaß ist man heraufgeschwankt.

Man ist des ganzen Hauses Interesse,

Und jemand sorgt, daß man das Fieber messe.

Man fehlt heut im Büro. – Man ist »erkrankt«.

Man fühlt sich wohl auf weichen, weißen Kissen.

– Von Zeit zu Zeit tut irgendwo was weh –.

Und diese Schmerzen streicheln das Gewissen,

Heut einmal seine Pflicht nicht tun zu müssen.

… Dies sühnt man außerdem mit Fliedertee.

Man sieht die Möbel an und die Gardinen.

– Man kennt sein Zimmer nur vom Abend her –.

Am Tage, wenn es hell und lichtbeschienen,

Da ist man irgendwo, um zu verdienen.

Und abends gibt es keine Sonne mehr.

Durchs Fenster dringen Stimmen von Passanten

Und der Vormittagslärm von Groß-Berlin.

Man wird besucht von Freunden und Bekannten.

Zweimal am Tage kommen die Verwandten

Und dreimal täglich kommt die Medizin …

So gegen elf hört man die Bolle-Glocken,

Zuweilen läutet’s an der Eingangstür.

Ein Reisender empfiehlt uns Mako-Socken –.

Vom Hof her klingt des Scherenschleifers Locken

Und auch der Leiermann ist wieder hier.

Man liegt im Bett. Und draußen »pulst das Leben«

– Wie es so herrlich in Romanen heißt.

Man hat sich diesem Zwange gern ergeben

Und wird gesund mit leisem Widerstreben,

Als wär man in die Kindheit heimgereist …

Heimwärts nach Ladenschluß


Wenn es abends sieben schlägt,

Strömen aus den tausend Toren matte, blasse Großstadtmenschen,

Alltagssorgen in den Augen, Mappen in der müden Hand,

Angeln aus zerdrückten Taschen rasch die Stadtbahn-Monatskarten,

Werfen einen kurzen Blick in den Automatenspiegel

(Manchmal auch noch...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte Berlin-Gedichte • Deutsche Literatur • Gedichte • Geschenkbuch • Großstadtgedichte • Klassiker • Lyrik
ISBN-10 3-423-43058-3 / 3423430583
ISBN-13 978-3-423-43058-6 / 9783423430586
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 847 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten

von Dirk Petersdorff

eBook Download (2023)
C.H.Beck (Verlag)
21,99
Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten

von Dirk Petersdorff

eBook Download (2023)
C.H.Beck (Verlag)
21,99