Das Vermächtnis der Seidenraupen (eBook)
576 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403818-6 (ISBN)
Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband »Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio« (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch »Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie« (2016).
Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband »Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio« (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch »Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie« (2016). Luis Ruby, geboren 1970 in München, übersetzt aus verschiedenen Sprachen u.a. Clarice Lispector, Javier Marías, Hernán Ronsino, Eduardo Halfon und Niccolò Ammaniti. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Luis Ruby lebt in München.
Ein lesenswerter Roman […] Dem heutigen Leser mutet das lebendig geschriebene Buch wie ein Abenteuerroman an.
Sachkundig, spannend, nach Freiheit suchend.
Das Schreiben des Buchs kam der Quadratur des Kreises gleich, eine intellektuelle Herausforderung, die der Autor glänzend meistert
[…] ein seelisches Panorama der Emigration. Cardoso ist der große Exilroman der Urenkelgeneration gelungen, den er auch als ein Werk der Selbstvergewisserung und Selbstfindung beschreibt.
Faszinierende, reiche Lebensgeschichte […] wie ein Who is Who all der intellektuellen und Kulturschaffenden liest, die Nazi-Deutschland fluchtartig verlassen mussten.
Dezember 1931
Wolf Demeter begutachtete sich im Dielenspiegel, in der Hand eine unangezündete Zigarette, mit der er verschiedene Posen einnahm. Einen Spiegel von der Größe hätte er in Paris auch gerne gehabt, aber die Wohnung war dafür zu klein. Außerdem hätte Ursula bestimmt Einwände erhoben. Sie missbilligte alles in dem gemeinsamen Heim, was an ihr Elternhaus hätte erinnern können. Und doch fand sie stets neue Gründe, um nach Berlin zu reisen und sich dort ausgiebig aufzuhalten. Das war nun schon der dritte Berlinbesuch seit Rogers Geburt. Und jedes Mal schob Ursula die Rückkehr ein wenig länger hinaus. Aus zwei Wochen waren unversehens drei geworden; aus drei Wochen ein Monat; nun hatte sie ihn überredet, dass es sinnlos wäre, vor Weihnachten zurückzureisen. Na gut. Maillol war sowieso unten in Banyuls-sur-Mer und arbeitete an seinem hochwichtigen Kriegerdenkmal. Demeter hob die linke Hand und hielt sie etwa eine Handbreit von der Brust entfernt, die Zigarette locker zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ja, das sah schon schneidig aus. Genau das richtige Maß an gezielter Nonchalance, und seine neue Armbanduhr und der Platin-Ehering kamen wunderbar zur Geltung.
»Wolf, kannst du mal kurz kommen?«
Als er ins Schlafzimmer trat, fand er seine Frau noch immer nicht ausgehfertig, zwei Abendkleider ausgebreitet vor sich auf dem Bett – das eine blau und ärmellos, das andere schwarz mit einem tiefen Rückenausschnitt. Auf dem Fußboden kauerte Annette, die Knie mit den Armen umschlungen, das Gesicht in einem von Ursulas Pelzkragen vergraben.
»Welches von beiden soll ich anziehen?«
»Was ist denn mit deiner Schwester los?«
»Ach, nichts. Die schmollt nur, weil sie zu jung ist, um mitzukommen.«
Aus dem Pelz stieg ein ersticktes Schluchzen.
»Ich bin nicht zu jung. Ich bin schon vierzehn!«
»Und das ist nicht zu jung?«
»Greta Landauer ist vierzehn, und die war schon überall.«
»Greta Landauer ist eine billige kleine Göre. Du nicht. Also halt den Mund und hör auf, meinen Pelzkragen vollzuschniefen.«
Demeter trat zu seiner Schwägerin und strich ihr übers Haar. Er fand unmöglich, wie gehässig Ursula zu dem Mädchen sein konnte, aber ihm stand der Sinn nicht schon wieder nach Streit.
»So, welches soll ich nun anziehen?«
»Die sind beide in Ordnung.«
Er wusste, dass das die letzte Antwort war, die sie hören wollte. Geschah ihr ganz recht.
»Könntest du mir wenigstens verraten, wo wir die zwei treffen? Das würde mir beim Entscheiden helfen, wenn du schon nichts dazu beitragen kannst.«
Ursulas halbwegs beherrschter Ton vermochte ihre wachsende Gereiztheit nicht zu kaschieren.
»Wir sind um 21 Uhr 30 im Wintergarten verabredet, oben auf der Galerie.«
»Ach nein, nicht im Wintergarten!«
»Warum denn nicht?«
»Das ist vielleicht etwas für meine Eltern. Sonst geht doch da kein Mensch mehr hin.«
Demeter konnte kaum verbergen, welches Vergnügen ihr Unwille ihm bereitete. Ursula war zur Zeit extrem patzig, und er machte sich einen Spaß daraus, sie auf die Palme zu bringen. Er warf einen liebevollen Blick auf die Armbanduhr.
»Ich wünschte, du würdest dich etwas beeilen. Wir sind sowieso schon spät dran.«
»Georg und Ilse können verdammt nochmal warten. Und außerdem kommen wir nicht zu spät. Ich habe Mama gebeten, uns den Wagen und Heinz zu überlassen.«
Annettes gerötete Augen linsten unter dem Pelz hervor. Demeter streckte ihr eine manikürte Hand entgegen. Sie nahm sie und streckte auch ihre andere aus. Er zog das Mädchen sanft in seine Arme.
»Ist das da nicht Max Beckmann?«
Demeter folgte Ursulas Blick zu dem Bereich vor der Bühne. Er versuchte, seine Aufregung zu zügeln, doch Beckmanns Erwähnung ließ sein Herz schneller schlagen. Er bewunderte den großen Maler so sehr, dass er sogar einmal erwogen hatte, nach Frankfurt zu ziehen, um bei ihm studieren zu können. Das war in seiner Jugend gewesen, bevor er den Entschluss gefasst hatte, Bildhauer zu werden. Jetzt ließ er seinen Blick über die verschiedenen Tischgesellschaften schweifen und hielt Ausschau nach dem Stirnrunzeln und den funkelnden Augen, die er von so vielen Porträts kannte, doch vergebens. Nirgends in der Menge gelangweilter Männer im Smoking und kichernder, Champagner trinkender Frauen konnte er Beckmanns Gesicht entdecken.
»Wo? Ich sehe ihn nicht.«
»Wen? Ach so, dann war es wohl jemand anderes.«
Demeter fühlte Wut in sich aufsteigen, als ihm einfiel, dass Beckmann wohl sowieso in Paris war. Bestimmt hatte Ursula ihn mit Absicht irregeführt, als Retourkutsche dafür, dass er ihr nicht bei der Kleiderwahl behilflich gewesen war. So eine Zicke.
»Ach, da sind sie ja.«
Ursula drängte sich nach hinten durch, wo Ilse Tietz mit unnötiger Beharrlichkeit ihren pummeligen Arm schwenkte. Er hielt nicht viel von Ilse, hätte aber nicht zu sagen gewusst, ob es daran lag, dass er sie zu feist fand oder zu vulgär, oder an einer Mischung von beidem. Aber er musste mit ihr auskommen, da sie mit Georg zusammen war, einem der wenigen Künstlerfreunde, die ihm in Berlin geblieben waren. Die beiden Frauen waren zusammen zur Schule gegangen, und so bot es sich an, sich zu viert zu verabreden. Ilse nahm Ursula – ihr Idol aus Teenagerjahren, in deren Rang sie nun erhoben worden war – völlig in Beschlag, was Georg und ihm den Freiraum verschaffte, sich über Kunst zu unterhalten.
»Ich verstehe wirklich nicht, wie du freiwillig in diesen Schuppen gehen kannst.«
»Wieso nur, Ursula? Warum denn nicht?«
»Der Wintergarten ist so bürgerlich.«
»Wo wärst du denn lieber?«
»Natürlich in der Katakombe. Das ist der einzige Ort in Berlin, wo man heute noch hingehen kann.«
Demeter tat, als bekäme er von dem aufgeblasenen Gehabe seiner Frau nichts mit. Sie war erst einmal in der Katakombe gewesen und hatte die ganze Zeit darüber gejammert, auf einem Holzstuhl sitzen zu müssen.
»Oh, da war ich noch nie. Schauen wir doch nachher noch hin. Oder wir brechen jetzt gleich auf. Georg, wollen wir gehen?«
»Ich habe gerade eine Flasche Champagner bestellt, Schatz. Lass uns den trinken und losziehen, bevor die Vorführung anfängt.«
»Oh, ja, bitte. Bestimmt ist das so eine dilettantische Claire-Waldoff-Imitatorin. Die meisten von denen können noch nicht mal richtig berlinern.«
Auch ohne sie anzusehen, konnte Demeter sich vorstellen, wie Ursula die Augen verdrehte, wie sie mit den Lidern flatterte, um ihre Geringschätzung auszudrücken. Er hielt den Kopf weiter zur Seite geneigt und konzentrierte sich auf den Tisch hinter Georg, wo zwei Frauen einander recht ungeniert mit Zärtlichkeiten und Küssen bedeckten. Die eine war eine überaus verführerische Blondine in einem eleganten silberfarbenen Kleid, das lose von ihren nackten Schultern floss und die Weißheit der Arme und der langen, fein geformten Finger betonte, mit denen sie ihrer Gespielin über die Wange strich. Die wiederum war dunkel und wie ein Mann gekleidet, mit einem Smoking, dessen Schnitt gekonnt die Brüste verbarg, und kurzen, glattfrisierten Haaren, ein auffälliger Kontrast zu dem übertriebenen Lidstrich, der ihr das Profil einer ägyptischen Göttin verlieh. Als sie sich von der Blonden löste, war ihr Mund mit deren tiefrotem Lippenstift verschmiert, und sie kostete für einen Moment dessen wächserne Konsistenz, um dann ein Lächeln erstrahlen zu lassen, das nur für ihre Begleiterin bestimmt war. Verlockend. Demeter, dem bewusst wurde, dass er vielleicht allzu unverblümt hingestarrt hatte, wandte sich befangen ab. Dabei bemerkte er einen nervös aussehenden, in einen schlechten Anzug gezwängten Burschen, der am Tresen lehnte und die Frauen ebenfalls anstarrte, auf halbem Wege zwischen Faszination und Abscheu. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, und sie teilten das Geheimnis ihres Voyeurismus. Der junge Mann am Tresen errötete und sah zu Boden.
»Georg erzählte mir gerade, wie ihr beiden euch kennengelernt habt. Stimmt das, Wolf, dass Ursula dir auf einer Party buchstäblich in den Schoß gefallen ist?«
Widerstrebend wandte er sich wieder den anderen zu, um Ilses fast herausgeprustete Frage zu beantworten.
»Ja, ich sitze da und denke mir nichts Böses, da landet sie plötzlich auf mir. Ein schöner Zufall.«
Er deutete mit einem fast unmerklichen Nicken auf Ursula, während er eine Zigarette aus dem Silberetui mit seinen Initialen zog, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Von wegen Zufall. Ich sage dir, ich musste mein ganzes choreographisches Geschick zusammennehmen, um mich in eine geeignete Position zu bringen.«
Ilse lachte so heftig über Ursulas Bemerkung, dass ihr der Champagner in die Nase stieg. Kleine Bläschen blubberten heraus und blieben an den Nasenlöchern hängen. Es war atemberaubend, dass eine Frau, die seit Geburt steinreich war, so ordinär auftreten konnte.
»Wolf Demeter! Bist du das?«
Demeter wandte langsam den Kopf, und sein Blick fiel auf Otto Sprengel. Sie hatten vor Jahren zusammen in Hasemanns Atelier gelernt, aber Sprengel hatte die Bildhauerei letztlich aufgegeben, um sich als Bühnenbildner am Agitprop-Theater zu verdingen. Das war auch gut so, denn er war so untalentiert wie bierernst. An der pseudo-proletarischen Schäbigkeit seiner Kleidung ließ sich ablesen, dass er keine dieser beiden Eigenschaften abgelegt hatte.
»Seit wann bist du wieder in Berlin? Scherst du nicht mehr um deine alten Freunde, du bourgeoiser Lump?«
Sprengel war ziemlich...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2016 |
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Übersetzer | Luis Ruby |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Albert Einstein • Alfred Döblin • Anspruchsvolle Literatur • Bankier • Berater • Berlin • Brasilien • cardoso • Der Schrei • Deutschland • Exil • Familie • Familiengeheimnis • Finanzminister • Flucht • Geschichte • Hugo Simon • Juden • Judentum • Kunst • Kunsthistoriker • Kunstsammler • Munch • Roman • Roman, Brasilien • Samuel Fischer • Sao Paulo • Seidenraupen • Thomas Mann • Urenkel • Urgrossvater • Urgroßvater • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-10-403818-X / 310403818X |
ISBN-13 | 978-3-10-403818-6 / 9783104038186 |
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