Schlaf, Engelchen, schlaf (eBook)

Ein Fall für Alexander Gerlach
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97554-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlaf, Engelchen, schlaf -  Wolfgang Burger
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Händeringend bittet Professor Henecka um Hilfe, da er - ein unbescholtener Bürger - mit Drohmails überschüttet wird. Bei seiner Recherche stößt Kripochef Gerlach jedoch bald auf einen alten Fall, in den Henecka verwickelt war. Die beste Freundin seiner Tochter ist nach einer Geburtstagsfeier nie zu Hause angekommen, obwohl die beiden Familien nicht weit voneinander entfernt wohnten. Im nahe gelegenen Wald fand die Polizei nur einen Schuh des Mädchens - von Lisa fehlt bis heute jede Spur. Als Gerlach dann auch noch feststellt, dass Heneckas Frau ebenfalls spurlos verschwand, ist er sich sicher, dass der Professor nicht ganz so unschuldig ist, wie er behauptet ...

Wolfgang Burger, geboren 1952 im Südschwarzwald, ist promovierter Ingenieur und hat viele Jahre in leitenden Positionen am Karlsruher Institut für Technologie KIT gearbeitet. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig und lebt heute in Karlsruhe und Regensburg. Seine Gerlach-Krimis wurden bereits zweimal für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Best­sellerliste.

Wolfgang Burger, geboren 1952 im Südschwarzwald, ist promovierter Ingenieur und hat viele Jahre in leitenden Positionen am Karlsruher Institut für Technologie KIT gearbeitet. Er hat drei erwachsene Töchter und lebt heute in Karlsruhe und Regensburg. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig. Die Alexander-Gerlach-Romane waren bereits zweimal für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und standen mehrfach auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

2


Begonnen hatte alles – ja, wann eigentlich? Als ich am achtzehnten Mai, einem Montag, abends aus dem Intercity stieg und Zeuge des Überfalls auf den kleinen, dunkelhäutigen Mann wurde? Oder erst mit Professor Heneckas Anruf anderthalb Stunden später? Oder am nächsten Abend, als wir uns trafen und ich am Ende seinen tausendmal verfluchten braunen Umschlag einsteckte, dem ich den ganzen Stress und Ärger verdanke?

Nach jenen nächtlichen Ereignissen Anfang Mai in Kirchheim – noch heute muss ich schlucken, wenn ich daran denke – war ich krankgeschrieben. Ich war nicht körperlich krank. Körperlich ging es mir, abgesehen von der kleinen Schnittwunde am Hals und einer leichten Gehirnerschütterung, gut. Die lästigen Kopfschmerzen waren schon nach wenigen Tagen abgeklungen. Die Gehirnerschütterung war bei Weitem nicht so heftig gewesen wie beim letzten Mal, als ich beim Radfahren so helmlos wie folgenreich auf den Kopf gefallen war.

Es war meine Seele, die litt. Nachts konnte ich nicht richtig schlafen, schreckte im Halbstundentakt aus irgendwelchen Horrorträumen auf, tagsüber war ich zugleich müde und übernervös, neigte zu Wutausbrüchen wegen Nichtigkeiten, ging mir selbst und meinen Mitmenschen auf die Nerven.

Die Tage vertrieb ich mir mit Bewegung. Bewegung tat mir gut, hatte ich bald festgestellt. So machte ich lange Spaziergänge, oft ohne hinterher sagen zu können, wo ich gewesen war. Ich joggte, als gälte es mein Leben, um diese elende Angst auszuschwitzen, die mein Herz im eiskalten Griff hielt. Ich joggte gegen die Einsamkeit an, die kein Besuch, keine Zärtlichkeit, kein noch so einfühlsames Gespräch zu lindern vermochte. Ich rannte mit zunehmender Verbissenheit vor mir selbst davon, und schon nach wenigen Tagen stellte ich fest, dass mein Körper regelrecht aufblühte. Die Strecke, die ich laufen konnte, bis mir die Puste ausging, wurde länger und länger, und die Waage im Bad zeigte jeden Morgen erfreulichere Zahlen an. Das beste Mittel gegen überflüssige Pfunde, stellte ich fest, ist unglücklich sein.

Außerdem nutzte ich die geschenkte Freizeit, um Dinge zu tun, für die mir sonst die Zeit fehlte. Ich besuchte die Museen Heidelbergs, auch die Mannheimer Kunsthalle, fuhr schließlich sogar nach Frankfurt, um mir im Städel Museum eine Ausstellung über post- und neoimpressionistische Malerei anzusehen. Da mein alter Peugeot immer noch in der Werkstatt stand, nahm ich den Zug.

Die Ausstellung in Frankfurt war vor allem eines: sehr gut besucht. Ich schlenderte herum, blieb als vollkommener Kunstbanause einfach vor solchen Bildern stehen, die mich in irgendeiner Weise ansprachen, ohne mir Gedanken zu machen, was daran das Besondere war. Schon nach zehn Minuten kam mir der Verdacht, am falschen Ort zu sein in diesem kulturbeflissenen Gedränge und aufgeregten Getue.

Erst im vorletzten Raum, als ich mich schon darauf freute, das überfüllte Gebäude bald wieder verlassen zu dürfen, sprang mich ein Bild an, als hätte es seit hundertfünfundzwanzig Jahren nur auf mich gewartet: van Goghs Weizenfeld mit Krähen. Ein dunkler, gewittriger Himmel hing bleischwer über einem wogenden, überreifen Weizenfeld. Und vom Horizont her, der noch ein wenig heller war, es aber bald nicht mehr sein würde, schwebte im Tiefflug ein Schwarm Krähen auf den Betrachter zu, wie Todesvögel.

Mir blieb die Luft weg, keinen Schritt konnte ich näher an das Bild herantreten. Kein Zweifel, van Gogh hatte gewusst, was Angst war. Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um mich von dem Anblick zu lösen. Wurde angerempelt, einmal auf Französisch beschimpft, weil ich im Weg stand. Aber all das interessierte mich in diesen Minuten nicht. Ich konnte es nicht erklären, ich konnte es nicht verstehen, aber es gab ganz offenbar eine geheime Verbindung zwischen diesem Gemälde und mir.

Den Rest der Ausstellung schenkte ich mir. Nach diesem Bild, nach diesem Erlebnis hätte es ohnehin nichts Interessantes mehr geben können.

Während der abendlichen Rückfahrt war der Intercity proppenvoll, den ich auf der Hinfahrt noch fast für mich allein gehabt hatte. Nahezu jeder Platz war besetzt mit schläfrigen oder geschwätzigen oder konzentriert lesenden Pendlern, die auf dem Weg zu ihren Familien waren oder zu einem Feierabendbier mit Freunden oder zu einem faulen Fernsehabend mit hochgelegten Füßen und Paprikachips. Bei jedem Halt leerte sich der Zug ein wenig – um sich gleich wieder zu füllen. Auch als ich in Heidelberg ausstieg, wogte eine drängende Menschenmenge um mich herum.

Plötzlich hörte ich Gejohle und Gebrüll. Ich vermutete eine Horde Angetrunkener, die von einem Fußballspiel zurückkehrten oder von einem Match der Mannheimer Adler in der SAP-Arena. Menschen vor mir blieben stehen, sahen sich irritiert nach der Quelle des Lärms um, wichen zurück, um eine Gruppe rücksichtslos rennender junger Kerle durchzulassen, vermutlich die Verursacher des Tumults. Wie eine Art Uniform trugen alle Hoodies, zerschlissene Jeans und Sneakers.

Erst als die vier oder fünf Burschen schon auf der Treppe zum Bahnhofsgebäude hinauf waren, nahm ich auch hinter mir Unruhe wahr, andere, leisere Stimmen, empört, erschrocken. Ich erblickte einen Mann am Boden, von dem ich anfangs dachte, es handle sich um ein Kind, so klein und mager war er.

Eine junge Frau mit hellgrünem Haar rüttelte vorsichtig an seiner Schulter, rief: »Hallo!« und: »Geht’s Ihnen gut?«

Dabei sah ein Blinder, dass es dem schmächtigen Mann, der in einem heruntergekommenen braunen Anzug und abgetretenen, ebenfalls braunen Schnürschuhen steckte, ganz und gar nicht gut ging. Mit wenigen Schritten war ich bei dem Bewusstlosen – das Geschiebe auf dem Bahnsteig hatte zum Glück schon ein wenig nachgelassen – und ging neben ihm in die Hocke.

»Rufen Sie einen Krankenwagen und die Polizei«, sagte ich in vielleicht etwas zu schroffem Ton zu der nervösen Grünhaarigen, die ihr Handy schon in der Hand hielt. In solchen Situationen sind Höflichkeit und freundliche Bitten fehl am Platz.

Immerhin, er atmete. Äußerliche Verletzungen waren nicht zu sehen. Auch kein Blut, keine seltsam verrenkten Gliedmaßen. Nach der Hautfarbe zu schließen, stammte er aus Asien. Aus einem dieser hoffnungslosen Länder, über die man wenig weiß.

»Malaie«, meinte ein älterer weißhaariger Herr mit beeindruckendem Bauch. »Oder Singapur. Bin ich schon öfter gewesen. So sehen die Leute da aus.«

»Kommen von da jetzt auch schon Flüchtlinge?«, wollte eine resolute Dame in feinem dunkelblauem Kostüm wissen. Sie war über vierzig, nicht unattraktiv und trug ein sandfarbenes Aktenköfferchen in der Rechten und Gold am Hals. »Ich würde sagen, Eritrea, Sudan, irgendwas in der Ecke.«

»Was ist hier eigentlich passiert?« Ich blickte in die Runde und achtete darauf, dass keine Augenzeugen sich aus dem Staub machten. »Hat jemand was gesehen?«

Mit eiligem Schritt näherten sich zwei Kollegen in den schwarzen Uniformen der Bundespolizei, einer schon mit dem Funkgerät am Ohr, und übernahmen den Fall. Ich blieb noch ein wenig stehen. Vielleicht, um zu helfen, vielleicht auch, weil Neugier sozusagen mein Beruf ist.

Niemand hatte etwas gesehen, stellte sich rasch heraus. Obwohl zig Menschen in unmittelbarer Nähe gewesen waren, konnte keiner sagen, was sich hier vor kaum mehr als einer Minute zugetragen hatte. Gedränge hatte es gegeben, jemand war grob geschubst worden, und auf einmal hatte der kleine Mann am Boden gelegen, und ein paar kräftig gebaute Kerle hatten sich grölend und lachend aus dem Staub gemacht.

»Glatzen, todsicher Nazis«, behauptete die Grünhaarige mit großen, zornblitzenden Augen. »Vorhin im Zug …« Sie deutete auf das Bündel Mensch am Boden. »Hat er da nicht einen Rucksack gehabt? Rot ist er gewesen, glaub ich, der Rucksack, dunkelrot mit Schwarz dran.«

Der jetzt verschwunden war. Unschwer zu erraten, was daraus geworden war. Die Kollegen wollten natürlich auch meinen Namen wissen. Ich überreichte ihnen eine dienstliche Visitenkarte. Einer drallen Frau jenseits der fünfzig fiel jetzt erst ein, die Hooligans hätten ihr Opfer schon im Zug drangsaliert. Aber niemand sonst konnte oder wollte dies bezeugen. Einen Ausweis oder andere Papiere konnten die Kollegen bei dem Opfer nicht finden. Die steckten vermutlich in dem verschwundenen Rucksack.

»Nichts als Ärger mit dem Pack«, sagte ein Mann, der direkt neben mir stand, leise zu seiner Frau.

»Meinen Sie den Verletzten oder die, die ihn ausgeraubt haben?«, fragte ich wütend. Anstelle einer Antwort erntete ich böse Blicke aus vier Augen.

Als der Notarzt kam, war der kleine Mann aus Afrika oder Malaysia oder Singapur schon wieder bei Bewusstsein, konnte ohne fremde Hilfe aufstehen, murmelte, immer noch benommen, krauses Zeug, das niemand verstand. Der Arzt erklärte nach kurzer Untersuchung, er werde den Patienten zur Beobachtung für eine Nacht in eine Klinik bringen lassen. Er werde aber bald wieder auf den Beinen sein.

Die Krankschreibung lautete »bis auf Weiteres«. Nach jenen Ereignissen, an die ich nicht denken wollte, was natürlich ganz falsch war, ich sah es ja ein, hatte mein Hausarzt mir eine Traumatherapie empfohlen. Diese hatte ich jedoch schon nach dem ersten Termin...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2016
Reihe/Serie Alexander-Gerlach-Reihe
Alexander-Gerlach-Reihe
Alexander-Gerlach-Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Alexander Gerlach • Andreas Franz • Bestsellerautor • Buch • Bücher • Deutscher Krimi • Dunkle Vergangenheit • eBook • Erpressung • Heidelberg • Krimi • Michael Kibler • Spannung • spiegel bestseller • Unterhaltung
ISBN-10 3-492-97554-2 / 3492975542
ISBN-13 978-3-492-97554-4 / 9783492975544
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