»Von Inseln weiß ich ...« (eBook)

Geschichten von den Färöern
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
384 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30100-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Von Inseln weiß ich ...« -
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Rund 50 000 Menschen bevölkern die achtzehn schroffen, baumlosen Inseln, die zwischen Island, Schottland und Norwegen im Nordatlantik liegen. Jahrhundertelang blühte hier eine mündliche Tradition mit Balladen, Sagen und Märchen. Daraus ist eine selbstbewusste, erzähl- und experimentierfreudige Literatur auf Färöisch entstanden, die sich von ihren kleinen Inseln aus die großen Themen der Menschheit zu eigen macht. Die vorliegende Anthologie versammelt die besten Geschichten der färöischen Literatur, von ihren Klassikern wie William Heinesen bis zur jüngsten Generation, vertreten u. a. durch Marjun Kjelnæs und Elias Askham. Für deutsche Leser wird so erstmals eine bislang kaum übersetzte Literatur in ihrer ganzen Vielfalt zugänglich.

Verena Stössinger, geboren 1951 in Luzern, studierte Nordistik, Germanistik und Soziologie und war Assistentin an der Abteilung für Nordische Philologie der Universität Basel. Seit 1998 hat sie Lehraufträge für Neuere Skandinavistik an der Uni Basel, daneben ist sie als Kulturjournalistin tätig. Sie lebt in Binningen.

Verena Stössinger, geboren 1951 in Luzern, studierte Nordistik, Germanistik und Soziologie und war Assistentin an der Abteilung für Nordische Philologie der Universität Basel. Seit 1998 hat sie Lehraufträge für Neuere Skandinavistik an der Uni Basel, daneben ist sie als Kulturjournalistin tätig. Sie lebt in Binningen.

Anstelle eines Prologs


William Heinesen

Nasse Heimat


Wie ich schon oft, vielleicht aber noch nicht oft und überzeugend genug behauptet habe, weil es immer noch Menschen zu geben scheint, die sich skeptisch dazu verhalten, liegt der absolute Mittelpunkt der Welt auf den Färöern und heißt Tórshavn.

In dieser uralten Stadt am Meer waren von meinem Elternhaus aus nicht nur Sonne und Mond, das Siebengestirn und die Milchstraße zu sehen, sondern auch die wüsten und leeren Wasser, wo der Geist Gottes in der Finsternis über der Tiefe schwebte. Weiterhin konnte man den grünen Hang Høgareyn erkennen, wo Adam in einer Wildnis aus Engelwurz und Kerbel saß und den Tieren Namen gab, und dahinter waren die Konturen der hoch gelegenen Steinwüste Kirkjubøreyn auszumachen, wo Kain und Abel ihre Opferstätten hatten, später die Arche Noah strandete und Moses die Gesetzestafeln holte. In neuerer Zeit hatte man Gelegenheit, Bruchstücke dieser zerschlagenen Tafeln aus der Nähe zu betrachten; übrigens liegen sie immer noch dort, falls sich jemand dafür interessieren sollte, neben versteinerten Überresten von Tieren der Arche und roter Asche von den Dankopferfeuern, und zwischen riesigen, moosbedeckten Steinhaufen wachsen noch immer einige Farne und Wacholderbüsche, die aus dem seinerzeit dichtgemachten Garten Eden stammen.

Das also war die biblische Geschichte, und von der Art gab es noch vieles andere. Der Südwind, der vom offenen Meer her kam, brachte Düfte aus fernen Gegenden mit, von den Hebriden, Azoren und dem Sargassomeer, aus den Tropen und von Feuerland, und in klaren Morgenstunden konnte man fern am Horizont die vagen Umrisse von Magellans und Marco Polos verruchten Segeln ahnen.

Zwischen den alten Häusern, auf dem kleinen, jetzt verschwundenen Sandstrand an der Mündung des Flusses, ließen sich nicht nur Muschelschalen, Keulenschwämme und Korken finden, sondern auch große glänzende Samenkapseln, die der Golfstrom angespült hatte, sowie ein mit grünen Algen verzierter Weidenkorb vom untergegangenen Schiff Sindbads des Seefahrers. Hier stand auch lange Zeit eine riesige verrostete Eisenboje, in die man hineinkriechen konnte wie in eine Negerhütte. Sie war jedoch nicht aus dem schwarzen Afrika herbeigetrieben, sondern eher aus dem gelben China, denn wenn man auf das Eisen schlug, sagte es Hongkong. Dieser Klang fremder Zungen aus weiter Ferne kam uns damals jedoch gar nicht so fremd vor, denn er erinnerte an Gong, den Namen der alten Hauptstraße von Tórshavn, der solcherart auf onomatopoetischem Wege in das weltumspannende Mysterium einbezogen wurde.

Diese Straße existiert nicht mehr – oder nur wie ein Generalbasston, wenn das Kammerorchester der Erinnerung in der Tiefe spielt. So rauchgeschwärzt und gewürzt mit seltsamen Düften ist nie eine andere Straße gewesen. Jedes Haus hatte eine Rauchstube mit irdenem Boden und offener Feuerstelle, über der rußige, dampfende Kochtöpfe hingen. Zwischen den baufälligen Häusern gab es hier und da enge, kleine Läden: ein Kolonialwarengeschäft, in dem 1905 die ersten Kokosnüsse und Bananen der Welt ausgestellt wurden, einen Brotladen (mindestens zweihundert Jahre alt und sehr unterirdisch), ein Modegeschäft (das kleinste und düsterste der Welt, mit einem alten Rundbogenfenster aus einer Kirche geschmückt), eine Buchbinderwerkstatt (15.–16. Jahrhundert, siehe Gotfred von Ghemen) und eine Bier- und Branntweinhandlung, aus der man bisweilen betrunkene, grölende Gestalten, angetan mit dunklen Kapuzen und Schuhen aus Lederlappen, auf Leitern hinüber zur Festung Skansi (15. Jahrhundert) schaffte, wo der Anblick der schrecklichen Kanonen sie wieder zu Sinn und Verstand bringen sollte.

Generell herrschte in dieser Gong genannten Straße ein Leben und Treiben wie auf alten Bildern von Brueghel. Hier waren zwischen Hühnern und Enten, Ziegen und Schafen und schreienden Kindern unglaublich viele alte Weiber mit ihren Besen zugange, auf dem Weg zum oder vom Blocksberg, halb vermummt unter zottigen Kopftüchern; hier kamen kleine Holzkarren gefahren, von langhaarigen Zwergpferden gezogen, und hier tanzten apostelbärtige Männer mit Grindwalmessern am Gürtel, wobei sie uralte Lieder von Kaiser Karl dem Großen und seinen zwölf Genossen oder vom Hunnenkönig Attila und seinem finsteren, wölfischen Hof sangen, und hier wurden junge Mädchen mit wild flatternden Zöpfen von grimmigen Faunen verfolgt und versteckten sich in finsteren, stinkenden Gässchen.

Doch Tórshavn war nicht nur Urzeit, Vorzeit und Mittelalter, es war schon damals eine Stadt, die sich stürmisch entwickelte, mit Schiffen und Hafenbetrieb, Speichern, Tonnen und Kisten, ächzenden Kränen, Klippfischexport in die Mittelmeerländer, Fußballspielen, Blaskapelle, Flottenbesuchen und Autonomiebewegung. Hier war, kurz gesagt, alles, hier war der Nabel der Welt und der Geschichte, der Schnittpunkt von Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod. An einem solchen Ort geboren und aufgewachsen zu sein, das bedeutet, wie unschwer zu begreifen ist, ein großes Privileg, und seufzend und achselzuckend muss man an all die armen Teufel denken, welche die Welt nur von den deprimierenden Schlagzeilen der großen Länder her kennen.

Am allermeisten sind die herausgeputzten Wesen der mondänen Gesellschaft zu bedauern, die hin und wieder als englische, französische oder deutsche Touristen auf den Straßen Tórshavns erscheinen, um mit ihren unbrauchbaren, baumelnden Ferngläsern vor dem Bauch in Regen und Nebel herumzuirren, wie gewisse Gestalten in Dantes Hölle. Ihre tiefen Seufzer und trostlosen Mienen sind nur zu verständlich, denn weil ihnen der Schlüssel zum Ganzen fehlt, sind sie dem Inferno des gottverlassenen Kaffs wehrlos ausgeliefert. Sie wissen nicht, dass dieser klamme Nebel, der sie wie ein Netz gefangen hält, tatsächlich der Urnebel ist, aus dem seinerzeit herrlich die Welt entstand, und sie haben weder Zeit noch Sinn dafür, die paar Tage, Wochen oder Monate, die es noch dauern kann, abzuwarten, bis das Wunder aufs Neue stattfindet und sich, wie geschrieben steht, »das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte sammelt, dass man das Trockene sehe«.

Denn es ist nun mal nicht zu bestreiten, dass in jener Welt, in der ich meine Wurzeln habe, das nasse Element eine ganz erhebliche Rolle spielt. Meer, Brandung, sprühende Gischt, Dauerregen, trübe Wasserläufe und betrunkene Männer gehören hier zu den ersten Eindrücken, die man von den Verhältnissen des Lebens bekommt – wozu noch schaukelnde, stampfende Schiffe und eine grünlich durchschimmerte Dünung über unterseeischen Gründen mit schwer atmenden Tangwäldern gehören.

Früh bekam man dieses Wasser auch in die Nase und spürte seinen Druck gegen die Brust wie dampfendes Hirschhornsalz, während die Welt für einen Augenblick in Regenbogenlicht und niesenden Todesahnungen unterging. So war das, wenn man, von seinem zweifelhaften Erzeuger in die Fluten geworfen, kurze Zeit unter Wasser geriet, preisgegeben und hilflos, bis man von gütiger Hand Neptuns Dreizack entrissen und an Land gerettet wurde, unter Gebrüll und wieherndem Gelächter. Diese rüden Taufszenen wiederholten sich, bis man gelernt hatte, über der Wasseroberfläche zu bleiben und um sein Leben zu schwimmen, verfolgt von eingebildeten Seeteufeln und Haifischen. Seit jener Zeit weiß man, dass der Tod, der in den Wassern lauert, nicht immer ein hinterhältiger Popanz ist, sondern auch ein entsetzlicher Bruder Lustig sein kann.

Böse und gnadenlos ist das Meer, und ohne Barmherzigkeit jene Wesen, die ihm entstammen und die, unbeschönigt gesagt, davon leben, dass sie einander zerreißen und fressen. Eine solche Wahrheit sollte man frühzeitig erkennen, vor Grauen erstarrend, sofern man nicht darüber in Wut gerät. Das geschah zumindest bei einer einzigen Gelegenheit, die ich erinnere und von der ich berichten will, weil ich der Meinung bin, dass dieser Fall gewisse Perspektiven auf das Allgemeine und Aktuelle eröffnet.

Am Ufer eines kleinen Bergsees mit Namen Langatjørn hatte ein Indianerstamm sein Lager. Er war bereits stark dezimiert und zählte nur zwei Mitglieder, nämlich mich selbst und meinen Freund Chingagok, einen großen, ernsten Jungen, den besten Bogenschützen seiner Zeit. Wir ernährten uns kümmerlich, aber redlich von Forellen, die wir in wilden Gebirgsbächen fingen und am Spieß über knisterndem Heidekrautfeuer brieten. Ansonsten machten wir eifrig, jedoch völlig erfolglos Jagd auf Krähen, Raben und Möwen, während andere Vögel sowie Schafe und Hasen mit ihrem Nachwuchs unseren Schutz genossen – darunter vor allem eine Wildente, die am jenseitigen Ufer des Sees auf ihrem Nest brütete.

An einem frühen Sommermorgen zog auf der jungfräulichen Seeoberfläche eine Flotte von vierzehn flaumigen Entlein ihre munteren Kreise. Kleine Wildenten sind flinke Schwimmer, die ein unglaubliches Tempo entwickeln, sie sind neugierig, haben Appetit auf die Welt und möchten überall gleichzeitig sein. Die kleinen Temperamentbündel in ihrer gestreiften Tracht aus gelben und schwarzen Daunen gehören zu den anmutigsten und delikatesten Geschöpfen dieser Erde. Dieser Meinung waren auch die Möwen, die es von Anfang an auf die Entlein abgesehen hatten und sie ihrem Kropf einverleiben wollten.

Die Möwe ist in jeder Beziehung eine grimmige, grausame Repräsentantin des Meeres; ihre Flugkünste sind bekanntlich imponierend, ihr Aussehen ist blitzblank und gepflegt, proper wie ein frisch gebügeltes...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2016
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dänemark • Färöer • Färöer-Inseln • Färöische Literatur • Insel • Meer • Nordatlantik • Torshavn
ISBN-10 3-293-30100-2 / 3293301002
ISBN-13 978-3-293-30100-9 / 9783293301009
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