Wir lesen auf Lunge -

Wir lesen auf Lunge (eBook)

Poeme & Geschichten aus Berlin

Literatursaloon Lunge (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
120 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-2925-1 (ISBN)
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Berlin ist die Hauptstadt der Lesebühnen - aber der Literatursaloon LUNGE ist vor allem durch seinen literarischen Anspruch geprägt. Das vielköpfige und ständig wachsende Autorenkollektiv der LUNGE, das sich allmonatlich im Friedrichshainer Café Tasso trifft, um neue Texte zu präsentieren, ist offen für die verschiedensten Themen und Genres. Hier werden neben klassischen Short Storys auch SciFi-Szenarien, Kurzkrimis, Kindheitserinnerungen, satirische Glossen und Lyrik gelesen - fast immer mit musikalischer Unterstützung. Anlässlich der 150. Ausgabe dieser monatlichen Literaturveranstaltung haben 18 Autor(inn)en und Musiker(innen) des Literatursaloons LUNGE ihre Highlights der vergangenen Jahre zu dieser Anthologie beigesteuert.

Robert Falck, der Mann mit Nerven


Oliver Bauer


»Mami, sind wir bald da?«

Das war innerhalb der letzten Stunde das zehnte Mal und in den letzten fünf Stunden … da bildete sich ein Fragezeichen bei unserem Mann. Unser Mann, Robert Falck, saß im hintersten Waggon eines dahinrumpelnden Zuges mit einer Lokomotive, die denen um 1900 alle Ehre gemacht hätte. Robert Falck, von Freunden Bob Falck genannt, hatte keinen Plan. Er starrte hinaus und war fassungslos über sein Hier und Jetzt. Draußen dicke Brühe, drinnen dicke Luft, und sie waren seit 23 Stunden unterwegs.

Wohin?

Keiner von den anderen, mit denen er in den letzten Stunden gesprochen hatte, wusste darauf eine Antwort. Alle fanden es nur sehr merkwürdig, und doch ergriff niemand die Initiative, um das Zugpersonal zu fragen.

Er, Robert Falck, war auf dem Weg nach Erfurt, in einem Zug mit Spitzengeschwindigkeit bis zu 365 km/h. Folglich war Erfurt bereits seit 20 Stunden überfällig.

Auch reiste er immer erster Klasse. Das hier schien klassenlos. Sie saßen in gewöhnlichen Großraumwaggons mit jeweils zwei gegenüberliegenden Sitzbänken, über ihnen Gepäckablagen. Der Zug hatte bis jetzt nirgendwo Halt gemacht.

Robert Falck, der bis zu diesem Augenblick stillgehalten hatte, erhob sich. »Ich gehe mich erkundigen«, verkündete er.

Die Mitreisenden sahen kurz auf, lächelten ermutigend und nickten mit den Köpfen. Selbst das nörgelnde Kind tat dies. Irritiert und missmutig begann er, sich langsam in Bewegung zu setzen. Allmählich gewann sein Entschluss an Reife und sein Lauf an Fahrt. Ja, er würde Fragen stellen und ohne Antworten nicht weggehen.

Unser Mann sah in das Gesicht von Herrn Meier, mit dem er in Stunde sechzehn darüber diskutiert hatte, wie man am schnellsten ein Ei verspeiste mit allen dazugehörigen Vor- und Nacharbeiten. Ein entscheidender Aspekt, um den sich ein Streit entfachte, war die Frage köpfen oder aufklopfen.

Ein paar Schritte weiter saß Frau Petrowski, eine Künstlerin im Stricken. Sie hatte ihm in Stunde sieben gezeigt, wie man innerhalb einer Stunde einen Pullover fix und fertig strickte. Der Trick bestand in der Aufnahme etlicher Maschen gleichzeitig. Er riet ihr zur Patentanmeldung.

Unser Mann sah Kurt Teichert, den Vertreter, Herrn L., den Briefträger, Frau Fischer vom Callcenter und andere.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er wirklich mit den meisten Mitreisenden gesprochen hatte in den letzten Stunden, und seine Verwunderung über diese Tatsache war groß. In seiner Erinnerung wechselten alle hier hin und wieder ihre Sitzplätze. Es entstanden neue Kombinationen, und man tauschte sich aus, lernte sich kennen.

Schluss damit, entschied Robert Falck, Schluss, ich muss hier raus, weiter, ich will wissen, was hier gespielt wird. Unser Mann verließ den Waggon und riss die Tür zum nächsten auf. Fast stieß er mit einem Herrn in Frack und Zylinder zusammen, da die Türen ohne die sonst üblichen Sichtfenster waren.

»Ziehen Sie eine Karte!«

Unwillig, doch im Moment überrumpelt zog er eine Karte. Kaum, dass er sie sich ansah, schnarrte sein Gegenüber schon die Antwort. »Herz Dame!«

Robert Falck hatte sich gefasst. »Nein, Pik Ass!«

»Waaas?«

Unser Mann warf die Herz Dame fort und drängelte sich an diesem Copperfield vorbei, um einer Ballerina bei ihren Übungen zuzusehen. Dieser Waggon war eindeutig reserviert für Künstler jeglicher Art. Die Leute wuselten herum wie ein Ameisenhaufen, kleine Gruppen saßen beisammen, unterhielten sich oder sahen jemanden bei einer Vorführung zu. Er erkannte einen halb bekannten Nachrichtensprecher, den Zeichner E. K. Zollheimer, der bekannt für seine Schnellkarikaturen war, dann gestikulierte noch ein alter Mann wild in der Luft umher, vermutlich Dirigent, und dann blieb er stehen.

Vier Männer weckten sein Interesse. Sie hockten über einem Stück Papier. Robert Falck trat näher. Was taten die da, doch nicht basteln? Er stellte sich ein wenig abseits in Hörweite.

»… seine Tour um 15 Uhr an dieser Filiale, bleibt für fünfzehn Minuten, klappert dann weitere acht nach demselbem Schema ab und macht gegen 18 Uhr 30 an seiner letzten Station Halt. Wir brauchen also nur dort zu warten und uns die Kohle zu schnappen.«

Verbrecher! Was hatte das mit Kunst zu tun? Er hatte genug gehört und würde Bescheid sagen, wenn er denn endlich jemanden träfe, der zuständig wäre. Zorn über das Nichtvorhandensein dieser Zuständigkeit, über die mangelnde Möglichkeit der Informationsabfrage und über ein Fehlen der Kontrollorgane ergriff ihn. Er stapfte aufgewühlt den Gang hinab und riss auf ein Mal seinen Kopf herum.

»Hallo, Bob!«, säuselte eine laszive Stimme. »Na, wie wär’s?«, fragte Susie Dreiminuten, eine verblichene Liebe.

Robert Falck glotzte, schüttelte dann aber den Kopf, keine Chance, dachte er und entfloh der Situation. Sie rief noch etwas hinterher, doch er lief davon. Von Waggon zu Waggon. Manchmal schien es, dass Menschen mit einem bestimmten Grundmotiv zusammen reisten, so kampierten in einem Abteil Sportler, im nächsten Geschäftsleute und in einem Wissenschaftler, dann plötzlich kam eins, wo alles durchmischt war, da war der Fleischer neben einem Fabrikdirektor, einer Hausfrau oder einem Piloten. Es gab kein für ihn erkennbares System.

In einigen Waggons brachte er Stunden zu, lauschte den Gesprächen, wurde selber in welche verwickelt, andere durchquerte er im Schlenderschritt, da reichten ihm die Wortfetzen, um sein Desinteresse beizubehalten und ihn an sein Ziel denken zu lassen.

Als er wieder vor einem Waggon stand, blickte er auf die Uhr und traute seinen Augen nicht. Die Anzeige des Datums zeigte zwei Tage später an. Seiner Rechnung nach war er nur durch zehn, elf Waggons gelaufen, und das sollte zwei Tage gedauert haben? Nicht ein Mal hatte dieser Zug gehalten, nicht ein einziges Mal war ihm ein Schaffner über den Weg gelaufen, der eine Fahrkarte verlangte oder den er hätte fragen können.

»Was zum Teufel …?«, knurrte er und riss umso entschlossener die nächste Waggontür auf.

Hier hingen Uniformträger aller Couleur rum. Der Zigarettenqualm stand wie eine Wand, der Geräuschpegel übertraf das Zuggeratter. Hier würde er seine Beschwerden vorbringen, durchdrang es ihn.

Er ging flotten Schrittes auf den erstbesten Polizisten zu, der sich aber wegdrehte. Beim zweiten handelte es sich um einen Bahnangehörigen, der hörte zwar seine Klage, ging dann jedoch ebenfalls weg, und sogar noch mit einem Lächeln. Der dritte verwies ihn an das Büro des Bürgermeisters, was unserem Mann als völlig absurd erschien. Auch der vierte, ein Feuerwehrmann, feixte, rief immer wieder etwas von Brandlöschen und machte dabei eine Bewegung, als kippe er sich einen Schnaps in die Kehle.

Nach dem soundsovielten Versuch bemerkte Robert Falck die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens und wollte nur noch raus. Er schob sich durch die Menge und fluchte auf alles, was Uniformen trug. Keiner der sonst so empfindlichen Inhaber nahm davon Notiz.

Wütend zerrte er an der Tür. Sie ließ sich nur unter Einsatz all seiner Kraft öffnen, und dann stand er hinter der Lokomotive.

Robert Falck, unser Mann war am Ende. Hier kam kein weiterer Waggon, keine Möglichkeit mehr, eine Antwort zu finden. Ratlos sah er das dampfende Eisenross. Was jetzt? Zurück und Klappe halten? Einfach abspringen? Jeden verprügeln? Alles sinnlos!

Stehen bleiben, stehen bleiben und gucken und aufhören zu denken.

Moooment, rief eine innere Stimme, da auf der Lok, da vorne, da muss doch noch einer sein. Schon schwang er sich auf den Kohlenberg, suchte nach Halt in den herunterkullernden schwarzen Brocken, erklomm den Gipfel und setzte zum Abstieg an. Dabei geriet er ins Rutschen und fiel Hals über Kopf ins Führerhaus.

»Ah, Bobby Falck!«

»Wer sind Sie? Außerdem heiße ich Robert Falck! Sie sprechen mit m…?« Unserem Mann erstarb die Stimme. Hier nahm ihn jemand wahr.

Dieser alte, stoppelbärtige Zausel mit dem zahnlosen Maul ihm gegenüber sprach so, wie es üblich war, anreden, ansehen, eine erkennbare Reaktion in der Gesichtsmuskulatur.

»Na«, schnurrte der Alte, »wie gefällt es dir hier?«

»Wie kommen Sie dazu, mich zu duzen, wir kennen uns doch gar nicht!«, empörte er sich. »Was ist denn das, das, dieses Hier?«

»Aahh, Bobby, man merkt, du bist frisch, einer von der ganz harten Sorte, kannst nicht einfach loslassen, he!?« Wieder lächelte ihm der alte Sack ins Gesicht.

Robert Falck ging diese freundschaftliche, nichtssagende Art auf die Nerven. Dieser Knacker war wie einer dieser alten, weisen Halunken aus den Knastfilmen. Die immer auf alles eine Antwort hatten, die man aber selbst herausfinden musste. Bloß nicht einfach sagen, was der Sinn des Lebens ist, sondern abwarten, ob der andere aus Erfahrung klug wird.

Scheißdreck!

»Wenn du nicht gleich redest, hau ich dir in...

Erscheint lt. Verlag 23.6.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
ISBN-10 3-7412-2925-3 / 3741229253
ISBN-13 978-3-7412-2925-1 / 9783741229251
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