Als unsere Herzen fliegen lernten (eBook)
608 Seiten
Blanvalet Verlag
978-3-641-16205-4 (ISBN)
1943, London: In der Ruine einer zerbombten Kirche trifft der amerikanische Pilot Dan Rosinski die junge Engländerin Stella Thorne. Es ist der Beginn einer unaufhaltbaren, aber unmöglichen Liebe, denn Stella ist verheiratet, und Dans Chancen, den Krieg zu überleben, sind mehr als gering. In einer Zeit, in der alles ungewiss ist, schreiben sie sich Briefe, um an dem festzuhalten, woran sie glauben: ihre Liebe. Viele Jahrzehnte später rettet sich eine junge Frau in ein leerstehendes Haus in einem Londoner Vorort. Da erreicht sie ein Brief, der sie in die Geschichte einer Liebe hineinzieht, die ein halbes Jahrhundert überlebt hat ...
Iona Grey studierte Englische Sprache und Literatur an der Manchester University. Ihre Begeisterung für Geschichte und ihr großes Interesse an Frauenschicksalen des 20. Jahrhunderts brachten sie dazu, ihren Roman Als unsere Herzen fliegen lernten zu schreiben. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Töchtern im Nordwesten Englands auf dem Land.
2
London, August 1942
In Kriegszeiten rechnete niemand mit einer opulenten Hochzeit, doch die Frauen der Gemeinde hatten ihrem Pastor alle Ehre gemacht.
Die schmucklosen Kirchenmauern von St. Crispin waren mit Dahlien, Chrysanthemen und Flammenblumen dekoriert, die aus den erschöpften Spätsommergärten der Nachbarschaft stammten, und im gegenüberliegenden Gemeindehaus erwartete sie ein bescheidenes Büfett aus belegten Broten mit Heringspastete und Dosenfleisch sowie Marjorie Walshs unvermeidlichen Scones, die liebevoll um die einstöckige Hochzeitstorte herum arrangiert waren. King’s Oak, ein kleiner Vorort im Londoner Norden, bestand vorwiegend aus schlichten viktorianischen Reihenhäusern mit gepflasterten Hinterhöfen und gepflegten Doppelhaushälften, die nach dem letzten Krieg erbaut worden waren. Es handelte sich keineswegs um eine wohlhabende Gemeinde, doch die Menschen waren für ihre Verhältnisse überaus freigebig. Lebensmittelmarken wurden getauscht, Rationen großzügig zusammengelegt. Das Ergebnis war ein bescheidenes Festmahl zugunsten der überaus findigen Gemeinde und ein unwiderlegbarer Beweis für deren außerordentliche Hochachtung gegenüber ihrem Pfarrer.
Dieser stand vorn beim Altar, doch nicht wie sonst der Gemeinde zugewandt, sondern den Kopf andächtig gesenkt, im persönlichen Zwiegespräch mit Gott. Er wirkt fast schon verletzlich, dachte Ada Broughton, die ihn von ihrem gewohnten Platz in der dritten Reihe aus beobachtete. Sein geröteter Nacken über dem weißen Kragen, seine stille Unterredung mit Gott, ein überaus ehrfürchtiger Anblick. Er war zwar nicht mehr ganz jung – der Altersunterschied zwischen ihm und seiner deutlich jüngeren Braut hatte bei der Mothers’ Union, der örtlichen Frauengruppe, und im Hospital Supplies Commitee, dem Ausschuss zur Unterstützung des Krankenhauses, für reichlich Gerede gesorgt –, doch sein hageres, intellektuelles Aussehen verlieh ihm einen überaus jungenhaften Ausdruck und weckte bei den meisten weiblichen Gemeindemitgliedern den Drang, ihm aus den Resten vom Sonntagsessen herzhafte Nierenfettkuchen und Cottage Pies zu backen (zumindest vor Beginn der Rationierung).
Alle Welt hatte ihn längst als eingefleischten Junggesellen abgeschrieben, daher hatte seine Verlobung mit der jungen Stella Holland alle überrascht. Als Marjorie Walsh in diesem Moment beherzt in die Tasten der Orgel griff und mit einem grellen Akkord den Einzug der Braut ankündigte, bemerkte Ada, wie er die Augen aufriss und erschrocken aufblickte, als hätten ihn die Ereignisse ebenso überrumpelt wie jeden anderen auch. Ein flüchtiger Blick zu seinem Trauzeugen, der direkt neben ihm stand, zeugte ein wenig von Panik. Armes Lämmchen.
Ach, aber die Braut war eine wahre Augenweide. Den Blick über die Schulter gewandt, spürte Ada, wie ihre Augen feucht wurden und der Busen unter ihrem besten Vorkriegskleid ein wenig anschwoll. Gertenschlank, die zarten Schultern straff zurückgezogen, ihre blassen Wangen hinter dem hauchfeinen Schleier halb verborgen. Stella sah aus wie Prinzessin Elizabeth höchstpersönlich, nicht wie ein Waisenmädchen aus der Armenschule. Das Brautkleid war eine Gemeinschaftsarbeit der Gemeinde, gespendet von Dot Wilkins (die im Jahre 1919 geheiratet hatte, nachdem ihr Arthur ausreichend vom Giftgas genesen war, um ein heiseres »Ich will« zu krächzen) und von der örtlichen Nähgruppe entsprechend geändert. Die Damen hatten einen Monat lang keinen einzigen Verband genäht und sich ausschließlich auf das Kleid konzentriert, um dessen Schnitt ein wenig zu modernisieren und Stellas zierlicher Figur anzupassen, die in Ermangelung eines Brautvaters neben der tweedgepolsterten Statur von Phyllis Birch noch zerbrechlicher wirkte als sonst. Und dennoch zog Stella mühelos alle Blicke auf sich. Niemand hätte geglaubt, dass sich das muffige alte Spitzenkleid in einen solchen Augenschmaus verwandeln würde. Ada tupfte ihre Tränen ab und gönnte sich einen Moment von mütterlichem Stolz. Das arme Ding hatte nun mal keine leibliche Mutter, insofern sah sie darin keine allzu große Anmaßung.
Adas Ausdruck verfinsterte sich ein wenig, als sie Nancy Price erblickte, die unmittelbar hinter der Braut folgte. Sie trug ein eisblaues Satinkleid, das die Tochter von Ethel Collins im Sommer 1939 als Brautjungfer mit vollendeter Würde getragen hatte. Nicht so Nancy Price. Zwar passte die Farbe ganz ausgezeichnet zu ihrem wasserstoffblonden Haar, doch Nancy trug das sittsame Kleid fast schon mit einem Ausdruck von Belustigung, als fände sie die zarten Puffärmel und den Herzausschnitt irgendwie lächerlich. Selbst etwas so Schlichtes, wie langsam den Mittelgang hinunterzuschreiten, wirkte bei Nancy Price ein klein wenig verrucht. Die beiden Frauen waren so verschieden wie Tag und Nacht – kaum zu glauben, dass sie so eng miteinander befreundet waren. Doch so ganz ohne Familie in einer Einrichtung groß zu werden ließ einen wohl nach jeder Art von Geborgenheit greifen. Ada hoffte, die zukünftige Pfarrersgattin, Mrs. Charles Thorne, würde der unziemlichen Freundschaft rasch entwachsen.
Marjorie spielte den Hochzeitsmarsch im Eiltempo zu Ende, während Stella an die Seite ihres wartenden Bräutigams trat. Strahlendes Sonnenlicht fiel auf ihre geneigten Köpfe, erfüllt von goldenen Staubpartikeln, die wie göttliches Konfetti auf sie herabregneten. Ada schob alle übrigen Gedanken beiseite und lehnte sich entspannt zurück, um die Trauung zu genießen.
Charles’ erster Vorname lautete in Wirklichkeit Maurice. Stella hörte den Namen zum ersten Mal, als der Traupfarrer ihn laut aussprach. Maurice Charles Thorne. Er erschien ihr so seltsam und albern, dass sie während des Gelübdes an nichts anderes denken konnte. Folglich erinnerte sie sich hinterher kaum noch daran, ihm Liebe und Ehre und Gehorsam geschworen zu haben. Doch das hatte sie offenbar, denn an ihrem Finger steckte ein schmaler goldener Ehering – etwas anderes war derzeit nicht zu bekommen –, und die versammelte Gemeinde küsste ihre Wangen und klopfte Charles wohlwollend auf die Schulter, um ihm zu seiner frischgebackenen Ehefrau zu gratulieren.
Ehefrau. Im Schutz des Kirchenportals, den Arm bequem bei Charles eingehakt, während Fred Collins seine Kamera einstellte, zog Stella das Wort im Geiste fest an ihre Brust und genoss die wohltuende Wärme, die wie heiße Kohle in ihr aufglühte. Das Wort »Ehefrau« bedeutete Sicherheit, ein Zuhause mit eigenen Möbeln, kein schmales Einzelbett in einem Schlafsaal mit zwanzig flüsternden und kichernden Mädchen. Sie dachte an all die wundervollen Hochzeitspräsente auf dem Esstisch im Pfarrhaus – ein edles Rosenservice von Charles’ Tante, eine runde Kristallvase von Miss Birch, eine bestickte Frisiertischgarnitur von ihren Mitschülerinnen der Woodhill School –, und ihr Lächeln weitete sich zufällig in demselben Augenblick, als das Blitzlicht explodierte.
Das Gemeindehaus war liebevoll hergerichtet. Die von Feuchtigkeit fleckigen Wände waren mit bunten Wimpelketten in den Farben des Union Jacks dekoriert, die offenbar seit dem Kriegsende aufbewahrt worden waren und dem tristen grünen Saal eine feierliche Atmosphäre verliehen. Über dem Büfett hing sogar ein selbst gemachtes Banner aus zerschlissenen Bettlaken mit dem Schriftzug »Ein Hoch auf das glückliche Paar«.
Und alle waren unglaublich freundlich. Selbst Charles’ Eltern – in makelloser Kleidung und mit geziertem Lächeln – hatten die Luft links und rechts ihrer Wangen geküsst und ihr grenzenloses Entzücken beteuert. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Charles eine junge Dame aus dem Tennisklub von Dorking geheiratet, die Lillians Bridgerunde perfekt ergänzt und mit ihrem Konversationstalent brilliert hätte, doch Stella war ihnen für die gespielte Höflichkeit überaus dankbar.
»Was für ein bezauberndes Kleid!«, schwärmte Lillian Thorne und trat einen Schritt zurück, um sie eingehend zu mustern. »Hast du das etwa selbst genäht? Man könnte meinen, das stammt von einer Schneiderin.«
»Nein, es gehörte einer Dame aus der Gemeinde. Die örtliche Nähgruppe hat es für mich geändert.«
»Ach, tatsächlich? Meine Güte, du hättest doch nur etwas sagen müssen, dann hätte ich dir meins vererbt! Ein echtes Hartnell. Hat ein Vermögen gekostet, und nun liegt es in einem Koffer auf dem Dachboden. Hätte ich geahnt, dass du keins hast, hätte ich es natürlich hervorgeholt.«
Das Angebot klang freundlich und zuvorkommend, doch es kam leider drei Monate zu spät, daher wusste Stella nicht, wie sie reagieren sollte. Lillian plapperte unbeirrt weiter. »Und dieser entzückende Brautstrauß! Schade, dass er so durstig aussieht.«
Stella blickte auf das welke Gebinde in ihrer Hand. Lillian hatte vollkommen recht. Es waren herkömmliche Gartenrosen, die ihr Alf Broughton voller Stolz überreicht hatte – die spärliche Ausbeute eines einzelnen Rosenstrauchs aus dem winzigen Winkel seines Gartens, der von den Kohlköpfen und Kartoffeln verschont geblieben war. Doch die zarten Blumen ließen bereits die Köpfe hängen. Stella dachte an Lillians prächtige Rosenstauden in Dorking, steif und makellos wie ihre Besitzerin, und ihr wurde bewusst, dass das Kompliment ebenso scharf und verletzend war wie die Dornen jener Rosen.
»Mir geht es nicht anders«, murmelte Roger Thorne mit einem finsteren Blick in Richtung Alf, der wohlgelaunt hinter einer behelfsmäßigen Bar vor der Küchendurchreiche Bierflaschen und Limonade verteilte. Mr. Thorne hatte auf wundersame Weise eine Kiste Sekt aufgetrieben, doch der stand unberührt unter der Anrichte. Die Einwohner von King’s Oak machten sich nicht viel aus derlei Brimborium, und der gute Alf – ein überaus...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2016 |
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Übersetzer | Anja Hackländer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Letters to the Lost |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Abenteuerroman • Briefe • eBooks • Frauenromane • Geheimnis • Große Liebesgeschichte • Historische Liebesromane • Liebesromane • London • Romane für Frauen • Schicksal • Verlorene Liebe • Weltkrieg • zwei Zeitebenen |
ISBN-10 | 3-641-16205-X / 364116205X |
ISBN-13 | 978-3-641-16205-4 / 9783641162054 |
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