Fremdes Land (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
576 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-16290-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fremdes Land -  James Lee Burke
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Eine Ode an den großen amerikanischen Traum
Texas im Jahr 1934: Weldon Holland fristet in der ländlichen Ödnis ein perspektivloses Dasein. Einzig das Gangsterpärchen Bonnie und Clyde, das nach einem Bankraub auf dem Grundstück campiert, durchbricht die Monotonie. Zehn Jahre später überlebt Weldon als Leutnant nur knapp die Ardennenoffensive und rettet die jüdische Kriegsgefangene Rosita Lowenstein vor dem Tod. Zurück in Texas steigt er ins boomende Ölgeschäft ein, wo er bald in ein gefährliches Spiel aus Intrigen, Korruption und Machtstreben verwickelt wird.

James Lee Burke, 1936 in Louisiana geboren, wurde bereits Ende der Sechzigerjahre von der Literaturkritik als neue Stimme aus dem Süden gefeiert. Nach drei erfolgreichen Romanen wandte er sich Mitte der Achtzigerjahre dem Kriminalroman zu, in dem er die unvergleichliche Atmosphäre von New Orleans mit packenden Storys verband. Burke wurde als einer von wenigen Autoren zweimal mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. 2015 erhielt er für Regengötter den Deutschen Krimi Preis. Er lebt in Missoula, Montana.

Kapitel 1

Es war das Jahr, in dem sich keine Jahreszeit an ihre eigenen Regeln hielt. In der Wärme der Tage ließ sich die Luft ohne Taschentuch kaum atmen. In den kühlen, feuchten Nächten wurde das nasse Sackleinen, das wir vor die Fenster nagelten, steif von dem Sand, den der Wind in Wolken aus dem Westen herüber trieb, ein Brausen wie von scharrenden Eisenbahnrädern in der Prärie. Der Mond war orangefarben, manchmal auch braun, und groß wie ein Planet, wie man es zur Erntezeit gewohnt ist. Die Sonne war nie mehr als ein Schmutzfleck, gleich einer Glühbirne, die in der Fassung flackert, oder einem Streichholz, das inmitten seines eigenen Rauchs verbrennt. In besseren Zeiten hätte unsere Familie gemeinsam auf der Veranda gesessen, auf Korbstühlen oder im Schaukelstuhl, mit Gläsern voller Limonade und Schalen voller Pfirsicheis.

Mein Vater war auf Arbeitssuche bei einer Pipeline in Osttexas. Vielleicht würde er eines Tages zurückkehren, vielleicht nicht. Damals besaßen die Leute die Angewohnheit, eine Teerstraße hinunter zu wandern, eine flimmernde Hitzepfütze zu durchqueren und auf ewig zu verschwinden. Die Symptome des mentalen Verfalls, die meine Mutter zeigte, schrieb ich der Abwesenheit und den Alkoholproblemen meines Vaters zu. Mutter wetzte ihren Schlafzimmerteppich ab, indem sie unablässig im Kreis lief, während sie ihre Fingernägel in die Handballen grub und vor sich hin brabbelte, die Augen wässrig von Zuständen der Angst und Verwirrung, die niemand zerstreuen konnte. Kein normaler Mensch besuchte uns noch.

Als Gesetzeshüter hatte sich mein Großvater mit Kerlen wie Bill Dalton und John Wesley Hardin angelegt. Im Jahr 1916 hatte er mit einem Trupp auf eigene Faust handelnder Texas Ranger einem vollbesetzten Zug mit Pancho Villas Soldaten aufgelauert. Womit ich sagen will, dass Großvater sich nicht mit dem Studium komplexer psychischer Erkrankungen befasste. Das soll aber nicht heißen, er wäre ein bösartiger oder durch und durch liebloser Mann gewesen – bloß ein Mann, in dessen Denken eine Lücke zu klaffen schien. Seinen Kindern war er kein guter Vater gewesen. Aus Egoismus oder Unfähigkeit hatte er sie häufig ihrem Schicksal überlassen, selbst wenn sie dabei ins Straucheln geraten waren. Ich habe dieses offenkundige charakterliche Defizit meines Großvaters nie begriffen. Hin und wieder fragte ich mich, ob er wegen des Blutes, das er vergossen hatte, nicht mehr lieben konnte.

Er verbarg sich hinter Frivolität und Zynismus. Seiner Einschätzung nach waren sämtliche Politiker »irgendwo zwischen mittelmäßig und hundsmiserabel«. Seine erste Frau hatte »ein Gesicht, bei dem jeder Güterzug auf die Schotterstraße abgebogen wäre«. WPA stand nicht für Works Progress Administration, sondern für »Wir pfuschen alle«. Wäre er kein guter Christ gewesen, hätte er die Hilfsarbeiter gefeuert (inzwischen hatten wir keine mehr) und »stattdessen Faultiere angeheuert«. Der hiesige Bankier hatte eine dermaßen große Nase, weil die Luft gratis zu haben war. Doch wer war mein Großvater wirklich? Ich hatte keine Ahnung.

Die Sonne ging gerade unter, als ich durch das Fliegengitter der Hintertür blickte und beobachtete, wie ein schwarzes, staubverschmiertes, schuhkartonförmiges Automobil von der Straße in den Wald hinter unserem Haus abbog. Ein Mann mit Fedora und weißem Hemd ohne Krawatte stieg aus und urinierte vor die Frontscheinwerfer. Ich glaubte, Gelächter aus dem Inneren des Wagens zu hören. Während sich der Mann erleichterte, nahm er den Hut ab und kämmte sich das Haar. Gewelltes, kräftiges braunes Haar, schimmernd wie poliertes Walnussholz. Sein enggezurrter Hosenbund grub sich tief in die Rippen, seine Wangen sahen aus wie mit Ruß eingerieben – ein Anblick, der durchaus typisch war für Männer, die es während der ersten Amtszeit von Präsident Roosevelt hierhin und dorthin durch den amerikanischen Westen trieb.

»Sieht aus, als wären ein paar Leute vom Highway auf unsere Straße geraten«, sagte ich. »Jetzt pinkelt der Fahrer vor seine Scheinwerfer, und seine Mitfahrer scheinen ihre Freude daran zu haben.«

Großvater saß am Küchentisch vor einer aufgeschlagenen Enzyklopädie, die Lesebrille auf der Nase. »Er stellt sich absichtlich vor die Scheinwerfer, um Wasser zu lassen? Damit die anderen zuschauen können?«

»Zu seinen Denkvorgängen kann ich mich nicht mit Gewissheit äußern. Ich kann ihm nicht in den Kopf gucken.« Ich nahm das deutsche Fernglas, das mein Onkel aus den Schützengräben mitgebracht hatte, und stellte es auf den Wagen scharf. »Auf dem Beifahrersitz ist eine Frau. Ein zweiter Mann und eine weitere Frau hinten. Sie lassen eine Flasche kreisen.«

»Illegale?«, fragte Großvater.

Ich ließ das Fernglas sinken. »Ja, falls die Wets neuerdings mit viertürigen Wagen unterwegs sind.«

»Dein Humor erinnert mich an meine erste Frau. Ich hab sie nur ein einziges Mal lachen gehört – als ihr klar geworden ist, dass ich Gürtelrose kriege.«

Wieder richtete ich das Fernglas auf den Fahrer. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Währenddessen hörte ich, wie Großvater sich schwerfällig aus dem Stuhl hochstemmte. Er war knapp zwei Meter groß, und seine vom Bluthochdruck geschwollenen Knöchel ließen ihn schwanken, als stünde er an Bord eines Schiffes. Manchmal benutzte er einen Gehstock, manchmal nicht. An einigen Tagen schien er am Abgrund des Todes zu wanken, am nächsten Tag konnte ihn nichts davon abhalten, seinen alten Gewohnheiten drüben im Saloon nachzugehen. Seine Wangen waren gerötet vom Gin, seine Haut zart wie die eines Babys, und in seinen schmalen Augen glänzte das hellste Blau, das ich je gesehen hatte. Manchmal wollten seine Augen nicht zu seinem Gesicht oder seiner Stimme passen; manch einer konnte ihrem intensiven Leuchten nicht standhalten. »Gehen wir ’ne Runde, Ranzenarsch.«

»Kannst du dir bitte einen anderen Spitznamen für mich ausdenken?«

»Du hast nun mal einen Hintern wie ein Waschbottich.«

»Im Rückfenster des Wagens ist ein Einschussloch«, sagte ich, während ich einen weiteren Blick durch das Fernglas warf. »Und mein Hintern hat keine Ähnlichkeit mit einem Waschbottich. Könntest du gefälligst ein bisschen auf deinen Tonfall achten, Großvater?«

»Dicke Hintern und breite Hüften, das liegt bei den Hollands in der Familie. Solltest du dir merken, wirst schließlich auch mal älter. Das ist keine Beleidigung, das ist Vererbung. Oder würdest du eine Frau heiraten, die aussieht wie ein Sack irischer Kartoffeln?«

Großvater öffnete eine Küchenschublade und nahm einen Revolver im Halfter heraus. Der Pistolengürtel war um die Waffe gewickelt, in seinen Schlaufen steckten Messingprojektile. Das Metall des Revolvers sah stumpf und grau aus, wie ein altes Buffalo-Fünfcentstück. Er war vor langer Zeit auf Patronen umgerüstet worden, doch der Ladestock für das Schwarzpulver war noch vorhanden und mit einem funktionstüchtigen Scharnier unter dem Lauf angebracht. Oben an den Rändern war das Leder des Halfters gelblich glatt geschmirgelt, in die Unterkante des Revolvergriffs waren sechs winzige Kerben geritzt. Großvater schlang den Gürtel um die Schulter und setzte sich seinen Stetson auf. Die Hutkrempe war zerknittert, die Krone am Saum dunkelgrau gefleckt vom Schweiß. Großvater stieß die Fliegengittertür auf und trat hinaus ins schwindende Licht der Dämmerung.

Das Windrad arbeitete fieberhaft, seine Stützpfeiler vibrierten vor Energie, und aus der Tülle floss ein dünnes Rinnsal. Am Rand des Wassertanks klebte eine Kruste aus Dreck, toten Insekten und Tierhaaren. »Der Mond sieht aus wie in eine Teetasse getunkt«, sagte Großvater. »Nicht zu fassen, dass wir den Regen früher als gottgegeben hingenommen haben. Die Gegend muss verflucht sein.«

Die Luft roch nach Asche und Staub und Kreosotbüschen, nach Pferde- und Kuhdung, der in der Hand zu fedrigem Staub zerfallen würde. Trockenblitze zuckten durch den Himmel und erstarben, als würde man eine Öllampe aus dem Fenster eines abgedunkelten Hauses nehmen. Unter meinen Schuhen bebte es wie ein Donnergrollen in der Erde. »Spürst du das auch?«, fragte ich. Ein Versuch, Großvaters Stimmung und damit auch meine eigene zu heben.

»Mach dir keine Hoffnungen. Drüben rattert die Katy über die Schienen, das ist alles«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich mich über deinen Hintern lustig gemacht habe, Ranz. Soll nicht wieder vorkommen. Bleib hinter mir, bis wir wissen, wer in dem Wagen sitzt.«

Als wir uns dem Waldrand näherten, verließ der Fahrer des Autos den Scheinwerferkegel und verharrte kurz als dunkle Silhouette vor dem grellen Licht, bevor er wieder einstieg, den Motor startete und scheppernd den Gang einlegte. Wann immer der Wind durch die staubtrockenen Bäume fuhr, raschelte das Blätterdach wie Papier.

»Einen Moment«, rief Großvater.

Ich dachte, der Mann würde einfach Gas geben, aber nein. Er schob den Ellbogen aus dem Seitenfenster und blickte uns direkt ins Gesicht, seine Miene eher neugierig als beunruhigt. »Reden Sie mit uns?«, fragte er.

»Sie befinden sich auf meinem Grundstück«, sagte Großvater.

»Ich dachte, das hier wäre ein öffentlicher Wald. Ist hier irgendwo ein Schild, auf dem was anderes steht? Ich hab keins gesehen.«

Neben ihm saß eine hübsche Frau mit rotblondem Haar und einer Baskenmütze, die schief über einem Auge hing. Sie sah aus wie ein fröhliches Mädchen vom Land, als arbeite sie im Kramladen oder in einem Café, wo die Fernfahrer auf einen harmlosen Schwatz vorbeikommen. Sie beugte sich vor und grinste Großvater von unten herauf an, während ihre Lippen...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2016
Übersetzer Ulrich Thiele
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Wayfaring Stranger
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Amerika • Bonnie & Clyde • Deutscher Krimipreisträger • eBooks • Historien-Krimi • Ölgeschäft • Sheriff Hackberry Holland • Texas • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-16290-4 / 3641162904
ISBN-13 978-3-641-16290-0 / 9783641162900
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