Remember Mia (eBook)
352 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42950-4 (ISBN)
Alexandra Burt wurde in Fulda geboren und ging nach dem Studium in die USA. Sie lebt mit ihrer Familie in Texas.
Alexandra Burt wurde in Fulda geboren und ging nach dem Studium in die USA. Sie lebt mit ihrer Familie in Texas.
2
Stimmen dringen wie dahinziehende Wolken in mein Bewusstsein, verschmelzen mit dem Geruch von Pfannkuchen, Sirup, Toast und Kaffee, und mir dreht sich der Magen um.
Eine Hand berührt sanft meinen Arm, dann eine Stimme: »Mrs. Paradise? Ich bin Dr. Baker.«
Ich registriere nur sein Alter – er ist jung –, als ließe mein Gehirn nicht zu, dass ich mehr über ihn herausfinde. Habe ich ihn schon einmal gesehen? Ich weiß es nicht. Alles an mir, mein Körper und meine Sinne, ist gestört. Seit wann bin ich so vergesslich, so unfähig, mich zu konzentrieren?
Sein Name ist auf die Tasche seines weißen Kittels gestickt: Dr. Jeremy Baker. Er zieht einen Stift heraus und leuchtet mir damit in die Augen. Eine Explosion, so schmerzhaft, dass ich die Augen zukneifen muss. Ich drehe den Kopf weg, taste nach meiner Schläfe. Jetzt begreife ich, weshalb die Welt so gedämpft wirkt: Mein ganzer Kopf ist verbunden.
»Sie sind im County Medical. Ein Krankenwagen hat Sie hergebracht, das war …« Er hält inne und schaut auf die Armbanduhr. Ich frage mich, warum ihm die Uhrzeit wichtig erscheint. Zählt er die Stunden, will er ganz präzise sein? »… am 4., vor drei Tagen.«
Drei Tage. Und ich kann mich an keine einzige Minute erinnern. Frag ihn, los, frag schon. »Wo ist meine Tochter?«
»Sie hatten einen Autounfall. Sie haben eine Kopfverletzung und wurden in ein künstliches Koma versetzt.«
Er hat meine Frage nicht beantwortet. Er spricht mit mir, als wäre ich ein Kind, als könnte ich keine längeren Sätze verstehen. Unfall? Ich kann mich an keinen Unfall erinnern.
»Man hat Sie in Ihrem Wagen in einer Schlucht gefunden. Sie haben eine Gehirnerschütterung, mehrere gebrochene Rippen und zahlreiche Hämatome am ganzen Körper. Außerdem haben Sie eine schwere Kopfverletzung. Ihr Gehirn war angeschwollen, darum das künstliche Koma.«
Ich kann mich an keinen Unfall erinnern. Was ist mit Jack? Ja, Mia ist bei Jack. Es kann nicht anders sein.
Noch einmal.
»War meine Tochter bei mir im Wagen?«
»Sie waren allein.«
»Ist sie bei Jack? Ist Mia bei meinem Mann?«
»Alles wird gut.«
Das Blut war nur eine Halluzination, es war nicht echt. Sie ist bei Jack, in Sicherheit. Gott sei Dank.
Alles wird gut, hat er gesagt.
»Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Hirnschädigung vorliegt, aber nun, da Sie bei Bewusstsein sind, können wir alle notwendigen Untersuchungen durchführen.« Er gibt der Krankenschwester, die neben ihm steht, einen Wink. »Sie haben viel Blut verloren, und wir mussten Ihnen Flüssigkeit zuführen, um Sie zu stabilisieren. Die Schwellung wird in einigen Tagen zurückgehen, aber bis dahin müssen wir verhindern, dass sich Flüssigkeit in Ihrer Lunge sammelt.«
Er hält mir ein Gerät vor die Nase. »Das ist ein Spirometer. Die Schwester wird es Ihnen genau erklären. Im Grunde müssen Sie nur hineinpusten und die rote Kugel so lange wie möglich oben halten. Alle zwei Stunden, bitte.« Seine letzte Bemerkung richtet sich an die Schwester.
Das Gurgeln in meiner Brust ist unangenehm, ich versuche, nicht zu husten. Die Schmerzen in meiner linken Seite müssen von den gebrochenen Rippen stammen. Ich frage mich, wie ich zwei Stunden wach bleiben oder alle zwei Stunden aufwachen oder dieses Gerät zwei Stunden lang benutzen soll oder was immer er gerade gesagt hat.
»Bevor ich es vergesse.« Dr. Baker schaut auf mich herunter. Er schweigt einen Augenblick, und ich frage mich schon, ob ich eine Frage überhört habe. Dann senkt er die Stimme. »Zwei Polizisten waren hier und wollten mit Ihnen sprechen. Das lasse ich aber nicht zu, bevor wir nicht einige Untersuchungen durchgeführt haben.« Er nickt der Krankenschwester zu und geht in Richtung Tür, bleibt jedoch noch einmal stehen und liefert mir noch eine Neuigkeit. »Ihr Mann ist schon unterwegs hierher. Können wir bis dahin jemand anderen für Sie benachrichtigen? Familie? Eine Freundin? Irgendjemanden?«
Ich schüttle den Kopf und bereue es sofort. Ein Hammer schlägt von innen gegen meinen Schädel. Mein Kopf ist eine riesige, angeschwollene Knolle, und das Pochen in meinem Ohr lenkt mich sogar von den schmerzenden Rippen ab. Meine Augenlider entwickeln ein Eigenleben. Ich merke, dass ich wegdämmere, aber ich habe noch so viele Fragen. Ich hole tief Luft, als wollte ich im Schwimmbad vom Brett springen. Ich brauche meine ganze Kraft, um die Worte hervorzubringen.
»Wo ist der Unfall passiert?« Warum schaut er mich so seltsam an? Fehlt mir mehr an Erinnerung, als ich ahne?
»Tut mir leid, aber zu dem Unfall kann ich Ihnen nicht viel sagen.« Seine ruhige Stimme klingt gezwungen. »Wir wissen nur, dass man Ihren Wagen im Hinterland in einer Schlucht gefunden hat.« Pause. »Sie sind schwer verletzt. Einige Verletzungen stammen von dem Unfall. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
Ich denke sehr gründlich über seine Worte nach. Unfall. Schlucht. Aber da ist nichts. Gar nichts. Wo mein Gedächtnis war, befindet sich nur noch ein großes schwarzes Loch.
»Ich kann mich an gar nichts erinnern.«
Er runzelt die Stirn. »Sie meinen … den Unfall?«
Den Unfall. Er redet über den Unfall, als wüsste ich, was für ein Unfall das war. Er kann gern meinen Kopf röntgen, dann wird er einen dunklen Schatten finden, wo einmal mein Gedächtnis war.
Ich lerne dazu. Bevor ich etwas sage, konzentriere ich mich, lege mir die Frage zurecht und wiederhole sie im Kopf, atme tief durch und spreche erst dann.
»Sie verstehen mich nicht. Ich kann mich nicht an den Unfall erinnern, und ich kann mich auch an nichts vor dem Unfall erinnern.«
»Wissen Sie noch, ob Sie sich selbst verletzen wollten?«
»Mich selbst verletzen?« Daran würde ich mich doch wohl erinnern? Was ist nur los mit meinem Gedächtnis?
»Entweder das, oder Sie wurden angeschossen.«
Wurde ich angeschossen oder habe ich mich selbst verletzt? Was sind das für Fragen?
Ich drehe den Kopf so weit wie möglich nach links und sehe ein ausgestrecktes Bein in Uniform. Ein Polizist, der draußen im Flur neben der Tür sitzt. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.
Dr. Baker schaut über die Schulter und dann zu mir. Er tritt wieder an mein Bett und sagt leise: »Sie erinnern sich nicht.« Es klingt sachlich, ist keine Frage mehr, sondern eine Feststellung.
»Ich weiß nicht, was ich nicht weiß.« Das ist ziemlich komisch, wenn man drüber nachdenkt. Ich muss kichern, und er runzelt wieder die Stirn. Allmählich werde ich frustriert. Wir drehen uns im Kreis. Es fällt mir so schwer, wach zu bleiben.
Dann spricht er über meine Stimme. Dass sie »monoton« klinge und dass ich »eine eingeschränkte emotionale Bandbreite und gedämpfte Reaktionsfähigkeit« zeige. Ich verstehe nicht, was er mir damit sagen will. Sollte ich mehr lächeln und fröhlicher sein? Ich will ihn danach fragen, doch dann höre ich ein Wort, das alles andere beiseitewischt.
»Amnesie. Den Grund kennen wir noch nicht. Retrograd, vermutlich posttraumatisch. Vielleicht sogar traumabezogen.«
Wenn ein Mann im weißen Kittel von Amnesie spricht, ist es ernst. Endgültig. Das habe ich vergessen klingt so beiläufig, ach, ich bin ja so vergesslich. Ich aber habe Amnesie, ich bin nicht einfach vergesslich. Was kommt als Nächstes? Fragt er mich, welches Jahr wir haben? Wer Präsident ist? Ob ich mich an mein Geburtsdatum erinnere?
»Retrograd bedeutet, dass Sie sich nicht an Ereignisse erinnern können, die unmittelbar vor dem Gedächtnisverlust stattgefunden haben. Posttraumatisch bedeutet eine kognitive Störung nach einem traumatischen Erlebnis, der Gedächtnisverlust kann sich über Stunden oder Tage, manchmal auch länger, erstrecken. Irgendwann werden Sie sich an die weiter zurückliegende Vergangenheit erinnern, aber möglicherweise nie an das, was unmittelbar vor Ihrem Unfall geschehen ist. Amnesie kann man nicht mit einem Röntgenbild diagnostizieren wie einen gebrochenen Knochen. Wir haben ein MRT und ein CT gemacht. Beide lieferten kein klares Ergebnis. Es gibt zurzeit keinen eindeutigen Hinweis auf eine Hirnschädigung, aber das beweist nicht, dass keine vorliegt. Es könnten mikroskopische Schäden sein, die mit MRT und CT nicht festzustellen sind. Beide Techniken können auch keine Schädigungen der Nervenfasern darstellen.«
Ich sage nichts, weil ich nicht weiß, ob ich weiterfragen soll, ob ich ihn überhaupt verstanden habe. Ich weiß nur, dass er mir nichts Definitives sagen kann, also wozu das Ganze?
»Es besteht die Möglichkeit, dass Sie an einer dissoziativen Amnesie leiden. Das Trauma hat dazu geführt, dass Sie bestimmte mit dem Ereignis verbundene Informationen ausblenden. Auch das kann man nicht mit den genannten Methoden diagnostizieren. Dafür benötigen Sie psychiatrische oder psychologische Hilfe. Aber wir sollten nichts überstürzen. Der Neurologe wird weitere Untersuchungen anordnen. Wie gesagt, es braucht alles seine Zeit.«
Ich hole tief Luft. Er zählt jede Menge medizinische Fakten auf, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass er mir etwas verschweigt.
»Wo hat man mich gefunden?«
»In einer Schlucht, in Dover. Sie wurden zunächst ins Dover Medical Center gebracht und einen Tag später hierher überwiesen.«
Dover? Dover. Nichts. Nur ein weißer Fleck.
»Ich war noch nie in Dover.«
»Man hat Sie dort gefunden, Sie...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2016 |
---|---|
Übersetzer | Susanne Goga-Klinkenberg |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | amerikanische Krimis • Amnesie • Autounfall • Bestseller • Gedächtnisverlust • Kidnapping • Kindsentführung • Kriminalroman USA • Memory-Recall-Therapie • New York • postpartale Depression • Psychothriller • RMT • Schreibaby • Spannung • Thriller |
ISBN-10 | 3-423-42950-X / 342342950X |
ISBN-13 | 978-3-423-42950-4 / 9783423429504 |
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