Nach Hause gehen (eBook)

Eine Heimatsuche

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1320-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nach Hause gehen -  Jörn Klare
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Was genau ist Heimat? Was bedeutet sie? Und warum ist sie wichtig? Jörn Klare geht dem sehr persönlich und ganz wörtlich nach. Von seiner Berliner Haustür aus wandert er an den Ort seiner Kindheit und Jugend am Rand des Ruhrgebiets. Ein Weg über gut 600 Kilometer, erst durch Ostdeutschland, das ihm immer noch fremd ist, dann durch Westdeutschland, das ihm oft nicht mehr vertraut ist. An Orten, die Alte Hölle, Elend oder Wilde Wiesen heißen, begegnet er Menschen, die ihre Heimat lieben, an ihr leiden und für sie kämpfen. Schließlich erreicht er die kleine Stadt, die einst sein Leben war. Jörn Klares Weg führt zum Ziel. Seine Wanderung durch ein Deutschland, das man kaum kennt, liefert die Grundlage für eine persönliche und großartig geschriebene Auseinandersetzung mit der Frage: Wohin gehöre ich in einer Welt, die sich immer schneller wandelt?

Jörn Klare, geboren 1965, schreibt Bücher, Theaterstücke sowie Reportagen und Features, unter anderem für den Deutschlandfunk und Die Zeit. Jörn Klare lebt in Berlin. Für 'Nach Hause gehen' erhielt er den Evangelischen Buchpreis 2017. Homepage: http://www.joern-klare.de/

Jörn Klare, geboren 1965, schreibt Bücher, Theaterstücke sowie Reportagen und Features, unter anderem für den Deutschlandfunk und Die Zeit. Jörn Klare lebt mit seiner Familie in Berlin.






Dieser Geruch, der mir plötzlich in die Nase steigt und in meinem Kopf ein Feuerwerk auslöst, aus dem ein erstes Bild entsteht. Es ist unscharf, zeigt ein lächelndes Gesicht, ein Haus, einen Garten, andere Menschen …, immer mehr Bilder tauchen auf. Szenen in warmem und auch kaltem Licht, sie entspringen meiner Kindheit und reihen sich zu einem Film, der sprunghaft läuft, bis alles ineinanderfließt. Es dauert keinen Augenblick, und eine Welle strömt durch meinen Körper, und ich fühle mich mit dem, was um mich ist, verbunden. Dabei war mir dieser Geruch nicht einmal bewusst. Er kommt von der Lenne, die ein Stück weiter unten im Tal Richtung Ruhr fließt, und mischt sich mit dem Aroma der sauerländischen Wälder, aus denen ich gerade herabgestiegen bin. Natürlich ist es mehr als das. Und natürlich ist es komplizierter. Doch was ich in meiner Nase spüre, ist eindeutig und unverkennbar: Heimat.

Nach einunddreißig Tagen Wanderung stehe ich unterhalb der Burg von Altena, die ich von Ausflügen während meiner Schulzeit kenne. Das Tal ist eng, die Sonne schon verschwunden. Um mich herum stehen junge und alte Männer, die sich wie Kinder auf die nächsten Tage freuen. Sie schmücken ihre kleine Straße mit Girlanden und Transparenten in Grün und Weiß, klettern dafür auf Leitern, halten diese fest, reichen Hammer oder Zange, schlagen Nägel ein, knipsen Drähte ab. Die meisten aber geben Ratschläge, scherzen und trinken Bier dabei. Noch drei Mal schlafen, dann beginnt ihr Schützenfest. Auch mir reichen sie ein kaltes Bier. Es tut gut, mein Tag war lang, er soll hier enden. Diese Nacht in Altena ist die letzte vor Hohenlimburg, meinem Ziel. Fünfzehn oder zwanzig Kilometer noch, dann bin ich, wo einst mein Zuhause war. Ich müsste nur flussabwärts der Lenne folgen, will morgen aber »über den Berg« gehen. Wegen der Erinnerungen. Sie sind gemischt wie der Geruch in meiner Nase.

Die Schützenbrüder zeigen auf meinen Rucksack, meinen Wanderstab und fragen, woher ich komme. Sie lachen, als ich sage »aus Berlin« und wiederholt bejahe, dass ich den ganzen Weg zu Fuß gegangen bin. Sechshundert Kilometer mit ein paar Umwegen. Schon reicht einer mir ein neues Bier. Er fragt, warum die Mühen? Wegen der Heimat, antworte ich, der Frage, was und wo das ist. Er nickt, stößt seine Flasche an meine und erzählt, dass sie hier weit über zweitausend Schützenbrüder sind, dass sie ihr Fest aus sehr alten, komplizierten Gründen nur alle drei Jahre feiern und dass die Zeit dazwischen sehr, sehr lang ist. Als er sagt, dass ihre Bürgerwehr im Jahr 1429 gegründet wurde, stoße ich nun als Zeichen des Respekts meine Flasche gegen seine. Dann trinken wir und schweigen. Er freut sich auf das Fest, ich freue mich, hier neben ihm zu stehen. So wohl habe ich mich lange nicht gefühlt.

Vor einer Weile wollten meine Frau und ich in Berlin eine Wohnung kaufen. Wir leben dort seit vielen Jahren in einer schönen, großen Mietwohnung. Aber irgendwann werden unsere Töchter, die am Anfang und am Ende der Pubertät stehen, ja vielleicht mal ausziehen. Was meine Frau und ich zu kaufen suchten, könnte ruhig kleiner, sollte aber hell und nicht zu laut sein. Ein paar Zimmer, in denen man leben und vielleicht sogar alt werden kann. Es war die Zeit vor meinem fünfzigsten Geburtstag. Wir radelten an einem Frühsommernachmittag durch einen der schöneren Bezirke Berlins, um zu schauen, was hinter den Angeboten steckte, die wir im Internet gelesen hatten. Einige Wohnungen waren schön, andere hässlich, und alle schienen uns viel zu teuer. Die Makler hatten es eilig. Sie wussten, dass sie die schönen und auch die hässlichen Wohnungen in kurzer Zeit für viel zu viel Geld loswerden würden. Irgendjemand würde schon unterschreiben, ohne allzu lange nachzudenken. Ich schaute aus verschiedenen Fenstern, die vielleicht uns gehören könnten, auf verschiedene Nachbarn, die vielleicht unsere sein könnten. Ich bekam das wachsende Gefühl, im falschen Film zu sein. Was, fragte ich mich, stimmt hier nicht? In der dritten oder vierten Wohnung wusste ich es, die Erkenntnis überraschte und verwirrte mich: Ich bin kein Berliner.

An diesem Tag musste ich mir eingestehen, dass ich mich in der Stadt, in der ich seit bald dreißig Jahren lebe, noch immer nicht so heimisch fühle, dass ich bereit bin, ihr meine finanzielle Unabhängigkeit zu opfern und mich fest an sie zu binden. Wobei: Berlin ist schon okay und mir zumindest lieber als Hamburg, Frankfurt oder München. Noch immer ist es in Berlin etwas weniger spießig als anderswo, eine Stadt, in der man sich neu erfinden kann und immer wieder neu behaupten muss. Manchmal ist mir das zu viel. Auch nach knapp dreißig Jahren fehlt mir ein Gefühl von entspannter Selbstverständlichkeit und Aufgehobensein. Ein Gefühl von … Heimat eben. So bat ich meine Frau, unsere Wohnungspläne noch einmal zu überdenken. Sie war einverstanden, und ich fühlte mich befreit. Doch es blieb die Frage, wo und was für mich denn Heimat ist – oder Heimat sein könnte. Je länger ich mich das fragte, umso stärker kamen die Erinnerungen an einen fernen Ort im Westen: Hohenlimburg. Das überraschte und erschreckte mich.

In Altena kommt jetzt der Sohn des Mannes neben mir auf uns zu. Er hat Down-Syndrom und ist wie die allermeisten Menschen mit dieser genetischen Besonderheit ein reizender Kerl. Für mich ist er aber auch eine Herausforderung, was an seinem Trainingsanzug liegt. Dieser ist blau-weiß und mit dem Wappen eines Fußballclubs versehen, den ich aus langer Tradition nicht schätzen kann. Da greift ein altes Muster und, da hier der Nase nach meine Heimat schon beginnt, werde ich nervös. Ich spüre den Drang, Position zu beziehen, zu zeigen, dass ich mein Gegenüber ernst nehme und mich selbst auch. Indianer rammen in Filmen für so etwas einen Speer in die Erde, Hunde heben einfach nur ein Bein. Auch ich bin ein territoriales Wesen.

»Was hat der Junge angestellt?«, frage ich den Vater, nachdem sein Sohn schon wieder weiter ist.

»Wieso?«

»Weil er so einen Anzug tragen muss.«

Stille. Er schaut verwirrt, sagt spontan, dass der Anzug eine Belohnung gewesen sei. Danach sieht er mich prüfend an.

»Du bist schwarz-gelb, oder?«

»Was sonst?«

Er stöhnt, dann grinst er leicht gequält, und ich grinse auch. Er kennt das Spiel. Unsere Flaschen stoßen wieder aneinander, wir trinken. Ein guter Mann, ein möglicher Freund.

Die Heimatfrage ließ mich nicht mehr los, und mir wurde klar, dass ich sie in Berlin nicht durch Gespräche, mit Büchern oder gar dem Internet beantworten kann. Es ging darum, ein Gefühl zu klären. Da helfen weder Theorie noch Algorithmus. Ich hatte gelesen, dass die Bepflanzung von Blumenkästen als armselige Rückbesinnung auf die bäuerlichen Wurzeln gesehen werden kann, und fühlte mich ertappt, auch wenn weder ich noch mein Vater, noch meine Großväter jemals Bauern waren.1 Wenn ich allerdings nur weit genug zurückblicke, würde sich wohl schon einer finden. Doch nicht Ahnenforschung, sondern Heimat war mein Ziel.

Zu Fuß sollte die Reise gehen, weil mir die guten Gedanken in meinem Leben ganz selten nur im Sitzen oder Liegen kommen. Und ich wollte endlich auch mal Teil der Landschaft sein, die so oft im Auto oder Zug an mir vorüberzog. Ich sagte meiner Frau, dass ich für meine Antwort »nach Hause gehen« will. Sie meinte, ich sollte doch in Hohenlimburg starten. Wir lachten, aber es war auch ernst gemeint. Sie ist eine tolle Frau. Sie lässt mich gehen, wartet nicht und ist trotzdem da, wenn ich zurück von einer Reise komme.

Hohenlimburg liegt zwischen dem Sauerland und dem Ruhrgebiet, hat knapp 30 000 Einwohner und gehört mittlerweile zu Hagen. Eine Kleinstadt, die man nicht toll finden muss und auch nicht interessant, aber ich bin dort geboren, genauso wie schon meine Eltern und Großeltern. Einundzwanzig Jahre lebte ich dort in dem Haus, das mein Vater gebaut hat, habe dort Abitur gemacht, hatte dort meinen ersten Liebes- und Lebenskummer und in dem Zusammenhang auch meinen ersten Vollrausch. Trotzdem wollte ich nach meinem Zivildienst möglichst schnell weg ins »richtige Leben« oder zumindest hinaus in »die Welt«. Ich wollte meine Heimat loswerden, was mir erst mal auch gelang.

Mein Ziel hieß Berlin, bzw. West-Berlin, weil 1986 ja noch die Mauer stand. Dort hatte ich einen Studienplatz für Psychologie und Theaterwissenschaften. Die Großstadt war eine Verheißung, die für mich Kleinstadtkind voll eintrat. Zumal der Wedding, in dem ich mein erstes WG-Zimmer fand, damals tatsächlich noch ein bisschen wild war. Und natürlich war alles sehr, sehr anders als in Hohenlimburg. Ich habe auch keine Zweifel, dass das Ganzberlin von heute immer noch eine ganz andere Welt als Hohenlimburg ist. Was das »richtige Leben« betrifft, bin ich mir schon lange nicht mehr sicher.

In dem kleinen Hotel in Altena gibt es eine Kneipe mit klassischem Holztresen und abgewetztem Parkettboden. Tische und Stühle, überhaupt das ganze Mobiliar bis hin zum Wandschmuck wirken, wie auch die Gäste, zusammengewürfelt und schon etwas älter. Ich bekomme ein Zimmer unter dem Dach, dusche, lege mich aufs Bett, genieße die Entspannung, die Ruhe, das schlichte Nichtbewegen nach einem langen Wandertag. Doch je mehr der Körper ruht, desto schneller rasen die Gedanken. Wenn ich wandere, ist es umgekehrt. Jetzt aber: Erinnerungen an die letzten Tage und Wochen, an viele Wälder, vor allem aber an Menschen. Ein Kleinverleger in Brandenburg, eine polnische Saisonarbeiterin, eine tapfere Wirtin, ein alter Knecht irgendwo in Sachsen-Anhalt, ein geflohener Afghane, ein Wanderfreund im...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte BRD • Buch 2016 • der alte Westen • Deutschland • Emotionen • Enge • Freunde • Heimat • Heimatverlust • Ideologie • Jugend • Kindheit • Natur • Neu 2016 • Neuerscheinung 2016 • Neuerscheinungen 2016 • Osten • Tradition • Vergangenheit • Wandern • Wohlfühlort
ISBN-10 3-8437-1320-0 / 3843713200
ISBN-13 978-3-8437-1320-7 / 9783843713207
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