Mark und Bein (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
240 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-05920-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mark und Bein -  Walter Kempowski
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein deutscher Journalist auf den Spuren seiner Familie in Ostpreußen
Jonathan Fabrizius, Journalist in Hamburg, erhält kurz nach dem Fall der Mauer den Auftrag, nach Ostpreußen zu reisen. Dieses Land ist ihm fremd, obwohl seine Mutter dort am Ende des Krieges ums Leben gekommen und sein Vater auf der Frischen Nehrung gefallen ist. Nach einigem Zaudern akzeptiert Jonathan den Auftrag. Doch auf das, was ihn in Polen erwartet, ist er nicht vorbereitet. Denn die Vergangenheit ist nicht vergangen, die Wunde nicht verheilt. Wie ein Schock reißt diese Erfahrung Jonathan aus der Routine seiner feuilletonistischen, bundesrepublikanischen Existenz.

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten 'Deutschen Chronik', deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman 'Tadellöser & Wolff' eröffnete und 1984 mit 'Herzlich Willkommen' beschloss. Kempowskis 'Deutsche Chronik' ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der 'Chronik' korrespondierende zehnbändige 'Echolot', für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.

1


In Hamburg, in der Isestraße, gibt es noch eine ganze Reihe stattlicher Wohnhäuser aus der Zeit der Jahrhundertwende, hinter alten, schwarzen Kastanien stehen sie, mit frühlingshaften Stuck-Ranken verziert, fünf, sechs Stockwerke hoch, herrschaftlich gebaut, mit einer triumphierenden Jahreszahl am Giebel. Die Treppenhäuser sind gekachelt, und altersschwache Aufzüge ruckeln darin hinauf und hinunter, deren Türen aus Schmiedeeisen gemacht sind. Wie in Paris kommt man sich vor, wenn man in ihnen hinauf- oder hinunterruckelt, wie in Paris, London oder Mailand.

Die Isestraße wäre nicht «stehengeblieben» im Krieg, wenn die Bombenschützen der alliierten Luftflotten eine hundertstel Sekunde früher oder später auf den Auslöseknopf gedrückt hätten. Ringsumher Feuersturm, Explosionen und Verschüttungen – die Isestraße blieb stehen, und sie steht noch heute, mit gekachelten Treppenhäusern und ruckelnden Aufzügen, trotz Spekulantentums und Renovierungssucht.

Durch die von den übergroßen Kastanien in vornehmem Schatten gehaltene Straße – und das ist etwas Besonderes – donnert alle fünf Minuten die Hochbahn über stählerne Schienenträger, die von den Antiquitätenhändlern der Gegend wohl schon längst ihrer Jugendstilverzierungen beraubt worden wären, wenn sich das hätte machen lassen. Unter der Hochbahn werden Autos geparkt, und zweimal die Woche ist dort Bauernmarkt, mit blassem Schlachtgeflügel, Schwarzwälder Steinofenbrot und unreifen Südfrüchten.

Vorn die Hochbahn und hinter den Häusern der Isebek-Kanal, ein stillgelegter trüber Seitenarm der Alster, auf dem Touristen mit Tretbooten umherfahren.

 

In einem dieser Häuser wohnte Jonathan Fabrizius, von seinen Freunden «Joe» genannt, dreiundvierzig Jahre alt, mittelgroß, ein Mensch, der sich sein gescheiteltes Blondhaar vom Haarschneider kürzen und nicht von einem Hair-Styler stylen ließ.

Das beste an ihm waren seine Augen. Ohne durch Mikroschielen oder astigmatische Krümmungen behindert zu sein, weder kurz- noch weitsichtig, registrierte er alles, was ihm begegnete. Zwar waren seine Ohrläppchen immer etwas unsauber. Auch hatte er sich schon mal in einen Papierkorb erbrochen – seine Augen aber waren hell und klar, und das sahen auch die Menschen, die mit ihm zu tun hatten.

«Er mag sein, wie er will», sagten diese Leute, «aber irgendwie … ich weiß es nicht …»

Jonathan hatte allerhand studiert, Germanistik, Geschichte, Psychologie und Kunst. Er war hineingestiegen in die Streben der alten Mühle, immer höher hinauf ins staubige Gebälk, und er hatte hinausgeguckt aus den spinnenblinden Schlitzfenstern, über die satte Ebene hinweg, und Klarheit und Wahrheit waren über ihn gekommen. Und da saß er nun mit seiner Klarheit und Wahrheit, und er sah sich um: Was sollte er beginnen mit der Veredelung seiner Ganglien? Wozu sollte sie ihm taugen?

Immatrikuliert war er noch, das hatte was mit der Krankenversicherung zu tun, aber das Studieren hatte er aufgegeben. Er lebte von Zeitungsartikeln, für die er von Magazinen und Zeitschriften regelmäßig Aufträge erhielt, denn die Redakteure schätzten den Schmiß seiner Diktion und die Pünktlichkeit, mit der er ablieferte. Leben konnte er nicht von diesen Aufträgen, das hatte er auch gar nicht nötig, denn er bekam einen monatlichen Wechsel von seinem Onkel, der in Bad Zwischenahn eine Möbelfabrik besaß, in der preiswerte Auszieh-Schlafcouchen einfachsten Zuschnitts hergestellt wurden, für die sich noch immer Abnehmer hatten finden lassen.

 

Jonathan bewohnte das hintere Zimmer der Wohnung, mit Blick auf den Isebek-Kanal, seine Gefährtin Ulla wohnte nach vorn, zur Straße hin. Die Schiebetür, die die beiden großen Räume verband oder trennte, wie man’s nimmt, war zugestellt, auf Jonathans Seite mit einem schadhaften Ledersofa, bei Ulla hingegen mit einer Bücherwand und einer Stereoanlage, aus der, besonders abends, altvertrauter Wohlklang strömte, auf den Ulla Wert legte: Das Es-Dur-Klavierkonzert oder die Prager Symphonie, immer wieder, und der Kickser des Horns immer an derselben Stelle. Über ihrem Biedermeiersofa hingen in Gold gerahmte Bleistiftskizzen von Du Bois, und über dem Couchtisch verbreitete eine französische Lampe mit orangerotem Glasschirm behaglichen Schein.

 

Jonathan besaß weder eine Stereoanlage noch eine Sitzecke. Das große Ledersofa, auf dessen Sitzfläche Roßhaar aus einem Hakriß sproß, war sein wichtigstes Möbelstück. Hier schlief er, hier verkleckerte er seinen Yoghurt, und hier las er populärwissenschaftliche Literatur der verschiedensten Sparten, damit er den Überblick behielt, wenn er auch nicht recht wußte: wofür. Auf einem weißen Küchentisch vor dem Sofa stand die offene Hämmerschreibmaschine, deren e nicht funktionierte. Daneben Zeitungen und Bücher und eine Untertasse mit Streichhölzern, benutztes Ohropax, gebrauchte Socken. Von der Decke herunter, aus einem verstaubten Stuckkranz heraus, hing eine schirmlose Glühbirne, die gab genügend Licht.

Der Parkettfußboden seines Zimmers war mit Stragula belegt. Jonathan hatte den abstrakt gemusterten Belag herausreißen wollen, weil der Holzfußboden darunter nicht atme, wie er meinte, ein großes Stück hatte schon dran glauben müssen, dann hatte seine Freundin jedoch festgestellt, daß es sich bei dem Design des Bodenbelags um eine interessante Arbeit aus den frühen Dreißigern handelte, Wladimir Kolaschewski, also aufhebenswert! Seither wirkte sein Zimmer mit dem ruinierten Fußbodenbelag recht provisorisch, so als hätte man die Handwerker nicht bezahlen können. Jonathan starrte hin und wieder nägelkauend auf das Stragula-Muster. In seiner Phantasie stellte es eine Landkarte dar mit Straßen, Flüssen und Städten, Anreiz für längere Gedankenspiele. Schade, daß das herausgerissene Stück nicht mehr vorhanden war, man hätte es einrahmen und an die Wand hängen können.

Statt dessen hing an der Wand ein Gemälde von Botero, ein feistes Kind in duffen Farben. Jonathan hatte es in den Sechzigern erworben und hundertmarkweise abgestottert. Gelegentlich fragte ihn der Händler, von dem er es gekauft hatte, ob er es noch braucht? Ob er es nicht wieder abstoßen will?

Auf dem klebrigen Fußboden, die Wände entlang, lagen Bücher unordentlich aufgeschichtet, das Material für eine größere Arbeit über nordische Backsteingotik: ein Unternehmen, das ihm etwas aus dem Blick geraten war. Die Zeitschrift, für die er sie schreiben wollte, hatte nur zurückhaltendes Interesse gezeigt. Es war eine süddeutsche Zeitung gewesen, deren Redakteure Stralsund und Wismar nicht auseinanderhalten konnten. Die Fotos von den ungeschlachten Riesenbauten hatten eher etwas Abstoßendes für sie: Kolberg, das ungefüge Schleppdach und außerdem kaputt?

Ein Spind mit zerknautschten Sakkos, und daneben eine abenteuerliche Waschecke. Sie war mit einem Plastikvorhang, der an einem dünnen Rohr sich schieben ließ, vom Zimmer abgetrennt. Wenn Jonathan sich in dem verkrusteten Becken die Hände wusch, konnte er aus dem Fenster sehen, und da fiel dann sein Blick auf eine Trauerweide, deren Zweige in das trübe Wasser des Isebek-Kanals hingen. Schwäne standen nicht darunter, aber doch zumindest Enten.

Die restlichen Zimmer der Wohnung gehörten einer Generalin. Sie stammte aus dem Osten, selten kam sie heraus aus ihren dunklen Grüften, in denen sie den Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit lebte. Hin und wieder war feuchter Husten zu vernehmen, von dem sie sich in den Küchenausguß hinein befreite.

 

Jonathans Lebensgefährtin hieß mit vollem Namen Ulla Bakkre de Vaera. Sie stammte, obwohl dunkelhaarig, aus Schweden und trug gern einen langen Strickrock, in allen Farben quergestreift, dazu ein blankgewetztes Herrenjackett aus Kammgarn, in dessen Kavalierstasche eine silberne Arbeiteruhr steckte. Ulla hatte ein hübsches rundes Gesicht, in dem sich die Jahre noch nicht gesetzt hatten, lieb auf den ersten Blick und fest auf den zweiten. Ihr ganzer Kummer war der linke große Schneidezahn, dem vor Jahren der Nerv entfernt worden war und der nun nachdunkelte und ihren mädchenhaften Zügen einen Makel zufügte. Morgens sah sie sich diesen Makel an, im Spiegel. Dann war sie für einen Augenblick traurig. Ausreißen? oder überkronen? das war die Frage nun schon Jahr um Jahr …

Ulla Bakkre de Vaera besaß einen feinen Ring, eine abgewetzte Kamee auf einem caramelfarbenen Stein, den hatte sie von ihrem Vater. Er stammte aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus, wie seit Generationen behauptet wurde, und hätte eigentlich auf eine Seitenlinie der Familie vererbt werden sollen. Dieser Ring war es gewesen, dem sie die Teilzeitbeschäftigung im städtischen Kunstmuseum zu verdanken hatte. Sie studierte nämlich Kunstgeschichte und finanzierte ihr Studium selbst. Obwohl dem Museumsdirektor ein Brief ihres Vaters vorgelegen hatte, der für gut Wetter sorgen sollte, hatte Dr. Kranstöver sie schon ablehnen wollen, wie sie da saß in seinem Büro – eine Idee zu hübsch? –, aber da war dann sein Blick auf den Ring gefallen, und das hatte den Ausschlag gegeben. Ulla kriegte den Job. Sie durfte also ausländische Gäste führen, Kataloge redigieren und bei Ausstellungseröffnungen diskret in einer Ecke stehen und dem Direktor anerkennend zunicken. Irgendwann einmal würde er mit ihr essen gehen, damit war zu rechnen.

Sie hatte auch beim Entwurf einer Kinder-Museumsecke helfen dürfen, mit Tastobjekten, Glubberteppichen und einer Rutschbahn von der Art, wie man sie...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2016
Reihe/Serie Weitere Romane
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutsche Chronik • eBooks • Eiserner Vorhang • Flucht • Frische Nehrung • Hamburg • Journalist • Marienburg • Mauerfall • Ostpreußen • Polen • Roman • Romane • Tadellöser & Wolff • Vergangenheit • Wolfschanze
ISBN-10 3-641-05920-8 / 3641059208
ISBN-13 978-3-641-05920-0 / 9783641059200
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99