Das Lied von Bernadette (eBook)

Roman

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
560 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74309-5 (ISBN)

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Das Lied von Bernadette - Franz Werfel
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Das Wunder von Lourdes - die bekannteste Heiligenlegende des 20. Jahrhunderts Bernadette Soubrious lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in großer Armut in dem französischen Dörfchen Lourdes. Eines Nachmittags erscheint dem Mädchen beim Holzsuchen eine weißgekleidete 'Dame', die es auffordert, weitere fünfzehn Mal zur selben Stelle zurückzukehren. Es tut wie geheißen. Bei einer dieser Erscheinungen führt die 'Dame' Bernadette zu einer Quelle, deren Wasser heilbringende Wirkung hat. Schon bald strömen Gläubige von nah und fern herbei, alle wollen dem Wunder von Lourdes beiwohnen. Doch die Kirche hegt schwere Zweifel - ausgerechnet einem einfachen Bauernmädchen soll die Heilige Mutter Gottes erschienen sein? Bernadette lässt sich in ihrem Glauben nicht beirren und gerät in einen Zwist mit der Obrigkeit ...

<p>Franz Werfel wurde 1890 als Sohn eines j&uuml;dischen Kaufmanns in Prag geboren. Bereits w&auml;hrend der Schulzeit ver&ouml;ffentlichte er seine ersten Gedichte. 1912 ging er nach Leipzig, wo er als Lektor beim Kurt Wolff Verlag t&auml;tig war. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und 1917 in das Wiener Kriegspressequartier versetzt. 1938 emigrierte er nach Frankreich und zwei Jahre sp&auml;ter &uuml;ber die Iberische Halbinsel in die USA. Dort starb Franz Werfel 1945 in Beverly Hills.</p>

ZWEITE REIHE


Wollen Sie mir die Güte erweisen


11
Ein Stein saust nieder


In der Schule der Schwestern von Nevers gibt es eine Gruppe von sieben, acht Mädchen, die der klugen und tatkräftigen Jeanne Abadie sehr ergeben, ja beinahe untertan sind. Zu dieser Gruppe gehört Annette, die rothaarige Tochter des Sekretärs Courrèges von der Mairie, ferner Cathérine Mengot, die Hyacinthe de Lafite die »Nymphe dieses Drecknestes« genannt hat, und schließlich Madeleine Hillot, ein blasses Kind mit Sommersprossen und langen Gliedern, das eine dünne, aber sehr schöne Stimme besitzt und daher bei allen möglichen weltlichen und kirchlichen Veranstaltungen zum Sologesang herangezogen wird. Die Abadie ist heute als Erste in dem großen Schulraum erschienen. Als sie ihre Schar um sich versammelt hat, zwinkert sie:

»Wenn ihr wüsstet, meine Lieben, was sich gestern ereignet hat, ihr würdet staunen … Ich darf aber nichts reden …«

»Warum machst du uns denn den Mund wässrig?«, meint die realistische Cathérine. »Vielleicht hat dich gar einer angesprochen?«

»Es handelt sich nicht um mich, sondern um Bernadette Soubirous …«

»Was kann schon mit der Bernadette viel los sein, diesem faden Huhn«, zuckt Cathérine die Achseln.

Jeanne Abadie spannt die Neugier ihrer Freundinnen auf die Folter:

»Ich hab der Bernadette mein Wort gegeben. Aber geschworen hab ich nicht. So gescheit war ich schon …«

»Ja, wenn du nicht geschworen hast«, gibt ihr Annette Courrèges zu verstehen.

»Ja, wenn du nicht geschworen hast …«, fällt der ganze Chor ein, die Melodie dieses Satzes steigernd.

»Ja, wenn du nicht geschworen hast …«, entscheidet Madeleine Hillot, »dann begehst du keine Sünde …«

Die Abadie senkt ihre Stimme zu einem scharfen Geflüster:

»Also kommt näher, damit die andern nichts hören … Die Bernadette hat gestern in der Höhle Massabielle eine schöne junge Dame gesehn, ganz in Weiß, mit einem himmelblauen Gürtel. Und nackte Füße hat die Dame gehabt mit goldenen Rosen drauf … Wir haben Reisig geholt, die Marie Soubirous und ich, und als wir zurückgekommen sind, kniet die Bernadette am Bach und hört uns nicht und hat ganz sonderbar ausgeschaut …«

»Und ihr habt die Dame nicht gesehn?«, fragten alle durcheinander.

»Die Marie und ich haben ja gar nicht gewusst, dass sie da ist, als wir das Dürrholz gesammelt haben …«

»Goldne Rosen auf den Füßen … so etwas! Wer kann das sein, diese junge Dame?«

»Wenn ich das selbst wüsste, Heilige Jungfrau! Ich hab mir doch die halbe Nacht den Kopf zerbrochen darüber …«

»Vielleicht hat dich die Bernadette angeschwindelt, Jeanne«, erwägt Cathérine Mengot. Die rothaarige Tochter des Stadtsekretärs aber macht eine wegwerfende Geste:

»Ah bah, die Bernadette ist zu dumm zum Lügen und Schwindeln …«

»Nein, die Bernadette lügt nicht«, erklärt die Abadie nachdenklich, »wir müssen der Sache genauer nachgehn …«

Sensationslüstern sind die Mädchen mit diesem Vorschlag einverstanden. Allzusammen will man sich nach Massabielle begeben und dort die sonderbare junge Dame mit den nackten Füßen ausfindig machen.

»Wird die Dame aber da sein, wenn wir kommen?«, fragt Toinette Gazalas, die Tochter des Wachsziehers.

»Wenn die Bernadette etwas sieht, so müssen wir's doch ebenso sehn«, urteilt Cathérine Mengot, »wir haben ja keine schlechtern Augen als sie …«

Jeanne Abadie spekuliert eine Weile:

»Sie muss aber mit uns kommen«, sagt sie dann, »denn wenn wir ohne sie sind, da könnte die Dame vielleicht wegbleiben …«

Als Bernadette mit Marie, ziemlich spät an diesem Tag, den Schulraum betritt, wird sie von Jeannes Anhängerinnen umringt und bestürmt.

»Also was ist's mit dieser Dame? … Erzähl, beschreib sie genau … Wo ist sie gestanden? … Wie hast du sie bemerkt? … Hat sie dich angerufen? … Hat sie sich bewegt? …« Bernadette sucht die Augen der Abadie:

»Oh, warum hast du's verraten, Jeanne?«

Aber es ist wiederum eher eine Erleichterung in ihrer Frage als ein Vorwurf. Nun wissen schon recht viele Menschen von der Dame, die ihr doch allein angehört: Marie, Jeanne, die Eltern, Onkel und Tante Sajou, Madame Bouhouhorts, Onkel Bouriette und jetzt diese ganze Bande, die so neugierig darüber schwatzt, als sei die Dame die alltäglichste Dame der Welt. Wie von Anbeginn an, so wird Bernadette auch jetzt von einem zweischneidigen Gefühl beherrscht. Sie möchte ihre Dame ganz nur für sich haben, nun und immer, bis zum letzten Atemzug, das herzberauschende Geheimnis mit niemandem teilend. Und sie möchte ebenso dieses Geheimnis jedem zuschrein, den sie kennt, alle Menschen vor das Antlitz der Lieblichen bringen, damit sie sich am Anblick nicht minder weiden als sie selbst. Vielleicht ist sogar dieser zweite Wunsch noch stärker als der erste, ihm entgegengesetzte.

»Ich hab's verraten«, rechtfertigt sich die Abadie, »weil ich dir nichts geschworen hab und weil's wichtig ist. Wir wollen nämlich alle nach Massabielle gehen und uns die Dame anschaun …«

»Glaubst du, dass wir sie auch sehn werden?«, erkundigt sich Madeleine Hillot.

»Wahrscheinlich werdet ihr sie sehn«, entgegnet Bernadette. »Genau kann ich's nicht wissen.«

»Maman will aber nicht, dass Bernadette noch einmal nach Massabielle geht«, wendet Marie ängstlich ein. »Sie hat uns geschlagen. Und Papa war schrecklich streng und hat gesagt, wenn die Bernadette Damen sieht, so soll sie mit den Seiltänzern, Marktgauklern und Zigeunern herumziehen …«

Die Abadie mustert Bernadette scharf:

»Du wirst aber doch nach Massabielle gehen, nicht wahr?«

Bernadette senkt ein wenig den Kopf und antwortet nicht.

»Hat die Dame zu dir gesprochen?«, fragt Cathérine Mengot. Bernadette hebt ihren Blick nicht:

»Nein, gesprochen hat sie kein Wort … Aber sie ist das Aller-Aller-Schönste, was es gibt …«

»Wenn sie so schön ist«, zweifelt Madeleine Hillot, die blasse Vorsängerin, »dann ist sie vielleicht gar nichts sehr Gutes …«

»Das hab ich mir auch überlegt heut Nacht«, erklärt die umsichtige Abadie. »Es kann sehr wohl sein, dass die Dame etwas Böses ist. Und da hab ich mir ausgedacht, dass wir Sonntag nach dem Hochamt ein Fläschchen mit Weihwasser aus der Kirche mitnehmen. Und wenn die Dame in der Höhle ist, soll sie Bernadette besprengen und zu ihr sagen: Sind Sie von Gott, Madame, so treten Sie näher. Sind Sie aber vom Teufel, Madame, so heben Sie sich hinweg … Das macht man so … Ich glaube, es ist ein vernünftiger Vorschlag, und wir werden so die Wahrheit herausbringen …«

»Hu, mir wird ganz kalt«, sagt Annette Courrèges. »Vielleicht aber ist die Dame gar nichts Böses oder Gutes, sondern halt eine wirkliche Dame …«

»Oh, sie ist ganz wirklich«, bekräftigt Bernadette mit großer Leidenschaft.

»Da ist der Ententeich beisammen«, ertönt die Stimme der Lehrerin, die unversehens herangetreten ist. »Und alle lauschen der Weisheit unserer hochgelehrten Bernadette …«

 

Sonntag. Die flachtönigen Glocken der Kleinstadt haben schon die Wandlung über die Dächer und Hügel ausgeläutet. Das Hochamt geht seinem Ende zu. Bernadette und Marie Soubirous wohnen unter Führung der Vauzous mit der ganzen Katechismusklasse dem Gottesdienste bei. François Soubirous hat bis Mittag Dienst in den Stallungen von Cazenave. Jean Marie und Justin haben sich Straßenurlaub erbettelt, Louise Soubirous sitzt allein im Cachot, endlich einmal müßig, das heißt: mit ihrem Strickstrumpf beschäftigt. Sie hat die Messe um sieben Uhr früh gehört, denn sie liebt es nicht, beim Hochamt anwesend zu sein, wo die Leute erscheinen, die in »besseren Verhältnissen« leben, wohlgekleidet und gut ausgeruht. Sie selbst hat nichts anzuziehen, gehört deshalb zur untersten Klasse und in die dunkle Morgenkirche, wo einer der Kapläne, Pomian, Pènes oder Sempet, die stille Messe zelebriert. Es ist eine ausgesprochene Entsagung, die Louise Soubirous übt, denn das Hochamt ist nicht nur ein Gottesdienst, sondern die köstliche Darbietung der Kleinstadt nach dem zermürbenden Einerlei der Woche. Man wärmt sich am Orgelbraus, an diesem wogenden Kaminfeuer der Seele. Man sieht und grüßt und nickt. Und Pfarrer Peyramale ist ein gewaltiger Priester, und seine prachtvoll raue Stimme dringt einem ins Herz, wenn er nach dem Evangelium das Wort an die Gläubigen richtet. Auf dieses Hochamt verzichtet die Soubirous hauptsächlich deshalb, weil sie ihren vermögenden Schwestern in der Kirche nicht begegnen will. Bernarde Casterot, verwitwete Tarbès, das Orakel der Familie, und Lucille, das kümmerliche alte Mädchen, haben nämlich beide etwas anzuziehen. Louise ist aber viel zu stolz, um neben den beiden Glücklicheren als schwarzes Schaf der Familie aufzutreten, als eine Casterot, die schandbarerweise ein ungünstiges Lebenslos gezogen hat. Sie hegt für Bernarde, ihre älteste Schwester, einen ehrerbietenden Respekt und zugleich einen stets gereizten Unmut gegen sie.

Heute aber, an diesem gesegneten Vormittag, fühlt sie sich sehr zufrieden in ihrer Einsamkeit, nicht belästigt durch ihre Söhne, nicht geärgert durch ihre Töchter, nicht besorgt um ihren Mann, der diesmal weder bei Babou noch in einer andern Schänke herumsitzt, sondern als ein »Postbeamter«, wie er sich selbst bezeichnet, eine ehrliche Beschäftigung ausübt. Cazenave hat zehn Franken als Anzahlung gegeben. Die...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Heiligenlegende • insel taschenbuch 4428 • IT 4428 • IT4428 • Lourdes • Roman
ISBN-10 3-458-74309-X / 345874309X
ISBN-13 978-3-458-74309-5 / 9783458743095
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