Arluks große Reise (eBook)

Roman. Die Grönland-Saga II

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
256 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30916-6 (ISBN)

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Arluks große Reise -  Jørn Riel
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Um das Jahr 1000 n.Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf nach Grönland, ins Land der großen Erwartungen. Von Generation zu Generation wird die Geschichte der abenteuerlichen Entdeckung weitergegeben. Im zweiten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie Arluk - Nachfahre des mächtigen Schamanen Heq - auf eine Reise rund um Grönland ging, die ein ganzes Leben dauern sollte und auf der er seiner großen Liebe begegnete, einem Wikingermädchen.

Jørn Riel (1931-2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Zu Fuß durchquerte er Sumatra in elf Monaten. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien. Nachdem er in Thailand, Indonesien und Papua-Neuguinea seinen Wohnsitz hatte, pendelte er zwischen +40 Grad Malaysia und -40 Grad Skandinavien.

Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Zu Fuß durchquerte er Sumatra in elf Monaten. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien. Nachdem er in Thailand, Indonesien und Papua-Neuguinea seinen Wohnsitz hatte, pendelte er zwischen +40 Grad Malaysia und -40 Grad Skandinavien.

1


Es kam ein Jahr, in dem alle in Kullorssuaq unter dem Hunger litten. Es gab weder Fleisch noch Speck, und die Lampen verlöschten, eine nach der anderen, bis es schließlich überhaupt kein Licht mehr in den Häusern gab. In der ersten Zeit lag man im Dunkeln und erzählte. Von guten Zeiten mit reichlichem Fang und von den langen, warmen Tagen des Sommers. Dann aber verstummten alle und wollten keine Gedanken mehr austauschen, weil diese entmutigend waren. Die Kinder weinten häufig zu Beginn der Hungerperiode, aber nach und nach wurden auch sie still.

In diesem Winter wurden zwei Mädchen geboren. Sie wurden sofort nach der Geburt erwürgt und außerhalb der Siedlung ausgesetzt. Die Wölfe holten sie, und der Lärm ihres Kampfes um die beiden kleinen Körper war bis zu den Häusern zu hören.

Die meisten Hunde wurden geschlachtet und verzehrt, aber ihr Fleisch füllte die vielen leeren Mägen nur wenig, weil sie noch ausgehungerter waren als die Menschen. Man teilte sich in diesem Winter den Hunger, wie man sich sonst den Fang geteilt hatte.

Es lebte dort ein Mann mit Namen Kajaka. Er war alt und unnütz und lebte nur, weil seine Enkel ihn brauchten. Am liebsten hätte er sich aufs Pritschenlager gelegt und dem Leben den Rücken zugewendet, aber er konnte es nicht über sich bringen, die Kinder zu verlassen. Diese waren elternlos, weil sein Sohn und seine Schwiegertochter in einem Herbst durch eine Schneebrücke auf dem Inlandeis gestürzt waren und deshalb für tot gehalten wurden.

Als man alle Hunde aufgegessen hatte, kamen zwei Männer zu Kajakas Haus, um nachzusehen, ob der Alte lebte. Einer war Tutigaq, der andere sein Sohn Urukase. Sie brachten für die Kinder den Schenkel eines Fuchses mit, den Urukase in einer Falle gefangen hatte, und während Arluk und Isserfik das zähe, rohe Fleisch vom Knochen lösten, sprachen Vater und Sohn mit Kajaka. Es war ihre Absicht gewesen, ihn zu bitten, einen Geisterflug zu Arnaqarssak, der Mutter des Meeres, zu unternehmen und sie zu bewegen, die Seetiere freizugeben, die sie auf Grund der Unvernunft der Menschen zurückhielt. Jeder wusste, dass die Sünden der Menschen sich wie Schmutz in das lange Haar der Frau setzten und nur ein tüchtiger Geisterbeschwörer sie aufspüren und ihr Haar sauberkämmen konnte. Aber als sie sahen, wie entkräftet Kajaka war, begriffen sie, dass er nicht in der Verfassung für eine anstrengende Beschwörung war, und deshalb erwähnten sie ihr Vorhaben erst gar nicht. Sie redeten nur über Allgemeines, übers Wetter vor allem und dann über die Toten und die, die im Sterben lagen. Nach einiger Zeit verließen sie das Haus.

Dass es Kajaka gelang, Arluk und Isserfik am Leben zu erhalten, lag nicht daran, dass er mehr Essbares als andere besaß, sondern weil er mit ihnen auf eine Art und Weise sprach, die sie den Hunger beinahe vergessen ließ. Der alte Mann lag auf dem Lager und hatte an jeder Seite eines der Kinder, und die Wärme ihrer Körper hielt seine Gedanken am Leben. Er sprach viel von den Eltern. Isserfik lauschte aufmerksam, während sie dalag und auf einem Stück Kamiksohle kaute. Arluk schloss die Augen, denn hinter geschlossenen Lidern konnte er sich die Erzählungen des Großvaters besser vorstellen.

Kajaka wusste, dass er diesen Winter nicht überleben würde. Darum kam es darauf an, die Kinder auf ein Leben ohne Familie vorzubereiten. Und darum sprach er viel über die Vorväter, denn in diesen Worten über die Alten war eine Kraft, die jenseits der des Fleisches und der Wärme lag. Es war eine Kraft, die ein Geschenk der Geister war; Worte, so stark, dass die Kinder Nahrung aus ihnen saugen konnten, wenn er selbst fortgegangen war.

Sie lagen auf dem Pritschenlager, Tag für Tag, Nacht für Nacht, und sie waren ganz aus der Zeit. Der endlose Winter drang ins Haus mit Kälte und Dunkelheit, und nicht einmal die grauen Lichtwechsel des Mittags erreichten sie.

Kajaka erzählte von Menschen, die aus dem mystischen Land im Westen gekommen waren. Er nannte dieses Land Akilineq. Das Land an der äußersten Grenze der Welt, das Land mit dem größten aller Flüsse, das Land, in dem die furchtbaren Itqiliit wohnten. Er nannte die Namen dieser Menschen früherer Zeiten, denn die Berichte von ihnen waren von Geschlecht zu Geschlecht ohne Veränderungen weitergegeben worden. Am häufigsten erwähnte er den Geisterbeschwörer Heq und dessen Frau mit dem fremdartigen Namen Tewee-soo.

»Ihr beide seid von ihrem Blut«, sagte er, »und es ist ein Blut, das länger als das anderer fließen wird. In unserer Familie wird man alt, wenn kein Unglück eintrifft, wie es eure Eltern getroffen hat. Auch Heq starb früh, weil die Geister ihn bei sich haben wollten. Sein Tod kam in der Gestalt eines Bären, der sowohl weiß als auch schwarz war. Er wusste um seinen Tod, bevor ihn dieser traf, und er war wohlvorbereitet.«

Kajaka seufzte tief. Er dachte an die große Bucht, in der Heq umgekommen war, und seine Gedanken gingen nach Sardlia, der kleinen Insel vor Kullorssuaq, wo er so oft gesessen und nach Walen Ausschau gehalten hatte. Es waren lichterfüllte, glückliche Tage gewesen. Er sehnte sich nach der Erregung, die ihn jedes Mal ergriff, wenn er eine Schule Weißwale gesichtet hatte, und er sehnte sich danach, wieder den Träumen nachzuhängen, die ihn aus diesem Leben erlösen konnten. Aber als sich die Kinder ungeduldig bewegten und Fragen stellten, fuhr er fort.

»Tewee-soo lebte lange, wie ihr großer Geist Manito es befohlen hatte. Von ihr will ich euch erzählen, was ich gehört habe. So weit geht diese Erzählung in der Zeit zurück, dass sich keiner mehr erinnert, wer diese Worte zuerst im Munde hatte.« Kajaka lachte ein wenig. Er atmete tief und angestrengt ein und blickte mit seinen halb blinden Augen hinauf ins Dunkle.

»Heq war Angakoq, Geisterbeschwörer, und Kalaaluch, Häuptling, für die Menschen am Uummannaq. Vielleicht der größte, den man kennt. Angakoq pulik war er, unser Vorvater, der oberste Geisterbeschwörer. Und sein Tornaq war der schwarze Bär, der schließlich kam und ihn holte. Seine Frau Tewee-soo besaß ihren eigenen Tornaq, einen großen, weißen Wolf, den sie Manito nannte. Durch den Wolf konnte sie verschwundene Seelen finden, gutes Wetter und guten Fang herbeischaffen. Erst jetzt fängt meine Erzählung an.«

Kajakas müde, schwache Stimme wurde auf einmal kräftig und volltönend. So, als spräche plötzlich ein junger Mensch durch seinen Mund. Arluk und Isserfik wussten, dass das, was er jetzt berichtete, Okalugtuaq war, eine wortgetreue Wiedergabe der Überlieferung von den Vorvätern. Vielleicht war die Stimme seine eigene, vielleicht die der Vorväter. Sie wussten es nicht.

»Es ist oft von Tewee-soo gesprochen worden, deren Name ›die immer wandert‹ bedeutet, und deshalb lebt sie immer weiter unter uns. Weil sie sehr alt wurde, geschah es bei verschiedenen Gelegenheiten, dass ihre Seele geraubt und ins Totenreich entführt wurde. Aber weil sie auf den Tod nicht vorbereitet war, zwang sie jedes Mal die Seele wieder in ihren Körper. So eine große Geisterbeschwörerin war sie. Sie brach vom Uummannaq auf und zog mit ihrem Sohn Taq, der selbst ein alter Mann geworden war, seiner Frau Saawi, die Inlandbewohnerin war, Simutaq und den Enkeln zu der Insel, von der man die große Bucht sehen kann. Diese Insel wird Savissivik genannt.

Ihr Sohn Taq hatte mehrere Kinder. Von einigen weiß man noch die Namen, unter anderem von einem Mädchen, das unverheiratet blieb und Itiva genannt wurde. Dieses Mädchen, Taqs jüngste Tochter, war eigensinnig und ähnelte ihrer Großmutter sowohl im Wesen als auch im Aussehen. Sie war groß und rank und hatte große, fremdartige Augen, die die Männer dazu bringen konnten, sich töricht zu benehmen. Aber sie war Tewee-soos Schülerin gewesen, hatte bei Geisterbeschwörungen auf ihrem Schoß gesessen und auf diese Weise Einsicht in die heimliche Welt gewonnen, die den meisten unbekannt war. Vielleicht weil sie mehr als andere wusste und dadurch Macht besaß, wurde ihr Lager nie aufgesucht. Denn bekanntlich mögen Männer keine Frauen, die ihnen überlegen sind.

In einem Lager bei der großen Bucht wurde Tewee-soo wieder krank. Itiva verließ ihre Pritsche nicht und pflegte sie geduldig. Ab und zu sprachen die Geister durch Tewee-soo, und dann lauschte das Mädchen aufmerksam. Es glückte der alten Geisterbeschwörerin noch einmal, ihre Seele dem Tod zu entwinden, und während sie nach der Krankheit Kräfte sammelte, erzählte sie ihrer Enkelin von den vielen Begebenheiten, die ihr Leben ausmachten. Sie fasste die lange Erzählung mit wenigen Worten zusammen. ›Nichts‹, sagte sie, ›wissen wir. Nur die Ungeborenen und die Toten besitzen Wissen, denn so will es Manito.‹ Manito war ihr großer Geist, ein Geist, den wir nicht kennen, der aber von den Hundemenschen verehrt und gefürchtet wird.

Es konnte geschehen, dass die alte Frau in die Sprache ihrer Kindheit zurückfiel, und dann verstand Itiva sie nicht. Aber sie blieb immer geduldig am Lager sitzen, bis die Alte wieder wie ein Mensch redete. Eines Tages brach es aus Tewee-soo heraus: ›Es geschieht, dass die alles Bestimmenden einzelnen Menschen ein wenig Einsicht gewähren. Hin und wieder hat man selbst ein gewisses Verständnis erlebt, durch die vielen Geheimnisse gesehen. Aber jetzt, wo man alt geworden ist, ist diese Einsicht fort. Manito hat sie entfernt. Denn gerade jetzt, wo der Tod mich umfängt, kann es gefährlich werden. Ob ich gerne dieses Verständnis an meine Lieben weitergeben würde, damit sie...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Übersetzer Wolfgang Th. Recknagel
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Arktis • Dänemark • Grönland • Inuit • Kanada • Schamanismus
ISBN-10 3-293-30916-X / 329330916X
ISBN-13 978-3-293-30916-6 / 9783293309166
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