Zum Leuchtturm (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403661-8 (ISBN)
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben. Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land« (2011) und »Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen« (2016). Hermione Lee ist Professorin für englische Literatur an der Universität Oxford. Sie beschäftigt sich seit langem mit Leben und Werk von Virginia Woolf. Außerdem hat sie Untersuchungen über Elizabeth Bowen und Philip Roth sowie Willa Cather geschrieben.
Vorwort
von Hermione Lee
Zum Leuchtturm ist die Geschichte einer Ehe und einer Kindheit, eine Klageschrift des Verlusts und der Trauer um einflußreiche, geliebte, tote Eltern. Virginia Woolf hätte das Buch lieber als »Elegie« (S. 288) denn als Roman bezeichnet. Auf weniger offensichtliche Weise handelt es auch von der englischen Klassengesellschaft und ihrem radikalen Bruch mit dem Viktorianismus nach dem Ersten Weltkrieg. Es bezeugt das drängende Bedürfnis nach einer Kunstform, die sich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, an diesen Bruch anpassen und auf ihn reagieren kann. Es ist all diese Dinge gleichzeitig.
Da die erzählende Literatur weder Musik ist noch Malerei, noch Film[1] oder unausgesprochener Gedanke, erfordert sie formale Strategien, wenn sie versuchen will, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein. Diese Strategien können so komplex sein wie ein ganzes Kapitel, das aus der Perspektive der vergehenden Zeit geschrieben wird, oder so simpel wie ein Einschub in Klammern.
So zum Beispiel denkt Mr Bankes in Klammern an ein Telefongespräch. Er spricht mit Mrs Ramsay über eine Zugverbindung. Dann schaut er aus dem Fenster, »um nachzusehen, wie die Arbeiter mit dem Hotel vorankamen, das sie hinter seinem Haus bauten«. Die »Betriebsamkeit zwischen den unvollendeten Mauern« erinnert ihn an das Unpassende an ihr. Die Bauarbeiten draußen gehen innerhalb einer weiteren Klammer voran – »(sie trugen Ziegelsteine eine kleine Planke hinauf, während er sie beobachtete)« –, während er seine Version von Mrs Ramsays Idiosynkrasien ausbaut. Mehrere Dinge geschehen gleichzeitig: Was er am Telefon zu Mrs Ramsay sagt und was er gern sagen würde; was er von seinem Fenster aus sieht und was er vor seinem inneren Auge sieht; und vor seinem inneren Auge sieht er ihre Schönheit und das Unpassende an ihr. Es existieren auch mehrere Zeiten gleichzeitig: Die Zeit von Mr Bankes’ Erzählung, die unter dem Zwang steht, sich voranzubewegen (»Ja, er würde den um 10 Uhr 30 von Euston nehmen«; »Er mußte wieder an die Arbeit« [S. 74]); die Augenblicke, in denen er Mrs Ramsay vor seinem inneren Auge sieht; und, außerhalb von Mr Bankes’ Klammern, der Augenblick, in dem Mrs Ramsay an ihrem Strumpf strickt und mit James redet.
Vieles in Zum Leuchtturm spielt sich in Klammern ab: Stumme Gesten – »(sie warf ihm einen versonnenen Blick zu)« (S. 95); Identifikationen von Standpunkten – »(fand James)« (S. 46); Kommentare und Erklärungen – »(denn sie war in sie alle verliebt, in diese Welt verliebt)« (S. 66); Dinge, die sich jemand in Erinnerung ruft – »(und die Rechnung für das Gewächshaus würde sich auf fünfzig Pfund belaufen)« (S. 108); plötzliche Todesfälle; ein Weltkrieg. Der mittlere Teil, »Zeit vergeht«, liest sich wie eine lange Klammer zwischen erstem und letztem Teil. Seine eckigen Klammern umschließen die Fakten des Todes, als gehörten sie einer anderen Sprache an. Die letzten Teile von »Zeit vergeht« quellen geradezu über vor eingeklammerten Passagen über die Rückkehr von Leben ins Haus, die sich dann zum dritten Teil des Romans erweitern. Während Woolf den dritten Teil schrieb und zwischen Lily auf dem Rasen und den Ramsays im Boot hin und her pendelte, stellte sie sich vor, Lily und ihr Bild in Klammern zu Ende zu führen: »Könnte ich es in Klammern setzen? so daß der Eindruck entstünde, man würde beides gleichzeitig lesen?« (S. 301f.)
Klammern sind eine Möglichkeit, mehrere Dinge gleichzeitig geschehen zu lassen. Sie bewirken jedoch auch eine verunsichernde Zwiespältigkeit in bezug auf den Status der Ereignisse. Was ist »wichtiger«? Der Tod von Mrs Ramsay oder der Faltenfall einer grünen Stola in einem leeren Zimmer? Wenn der Roman uns an mehr als eine Sache gleichzeitig denken läßt und in mehr als einer Zeit existiert, was hat dann Vorrang? Wird das Leben der Ramsays im Garten und im Haus von der Welt umschlossen wie von Klammern, so wie der Leuchtturm vom Meer umschlossen ist? Oder sind die Ramsays das Eigentliche, und alles andere spielt sich in Klammern ab?
Oft dringt die Außenwelt in Form der alltäglichen Dinge britischen Lebens zu Anfang des 20. Jahrhunderts – U-Bahnen, Abendzeitungen, Autowerkzeuge, Bahnhofsansager, Zugfahrkarten, jene Ziegelsteine – in die Welt von Haus und Garten und Leuchtturm ein. Teils funktioniert das als historischer Gegensatz: Die viktorianische Familienszenerie ist verschwunden und zu einer Traumwelt geworden – das moderne Nachkriegsleben geht weiter. Aber Mr Bankes’ Ziegelsteine in Klammern ergeben nicht einfach nur einen Gegensatz zu seiner inneren Vision von Mrs Ramsay, die »in Galoschen über den Rasen [rennt], um eins der Kinder vor Schaden zu bewahren« (S. 74). Die Ziegelsteine und der Bau des Hotels sind wie das Unpassende an ihr – schön und geschäftig, ätherisch und zäh –, und sie sind wie die Art, wie er über sie denkt, eine Sache einer anderen gegenüberstellt, ein Bild konstruiert. Der Roman beharrt darauf, daß man seine strukturierenden Hilfsmittel bemerkt, seine Klammern und Abschnitte und Standpunktveränderungen.
Im Herbst 1925, in den Anfangsphasen der Arbeit an Zum Leuchtturm, bereitete Woolf einen Vortrag mit dem Titel »Wie sollte man ein Buch lesen?« vor (ein Auszug findet sich im Manuskript des Romans). Darin sagt sie, die zweiunddreißig Kapitel eines Romans seien »ein Versuch, etwas so Planvolles und Geformtes zu machen wie ein Gebäude; nur sind Worte ungreifbarer als Backsteine … Besinnen Sie sich also«, rät sie dem Leser, »auf irgendein Ereignis, das einen deutlichen Eindruck in Ihrem Gedächtnis hinterlassen hat … eine ganze Vision, eine in sich vollkommene Konzeption schien in jenem Augenblick enthalten … Doch wenn Sie versuchen, das innere Bild in Worten zu rekonstruieren, werden Sie finden, daß es in tausend widerstreitende Impressionen zerfällt« (S. 352).
Das klingt wie eine Notiz an sich selbst über das Verfassen ihres neuen Romans. Die Ziegelsteine werden die kleine Planke hinaufgetragen, die Bauarbeiten gehen weiter. Das Gebäude muß etwas »Planvolles und Geformtes« sein. Aber der unaufhaltsame Sog hin zu Zerbrechen und Fragmentierung – »Bilder zerfallen« – ist gewaltig. Und es wird noch schwieriger, weil sie nicht nur eine Basis der Stärke und der Struktur will, sondern auch Flüssigkeit und Transparenz. Der Roman muß folglich wie Mrs Ramsay sein, die unpassenden Dinge müssen sich in Balance halten.
Mit Hilfe von Lilys Bild baut Woolf einen Kommentar über ihre eigenen Prozesse in den Roman ein. Lilys Bilder – »Sie sah die Farbe, die auf einer Stahlkonstruktion brannte; das Licht eines Schmetterlingsflügels, das auf den Bögen einer Kathedrale liegt« (S. 95) – gehen auf Virginia Stephens Besuch von Konstantinopel zurück, als sie die Hagia Sophia zum ersten Mal erblickte. In ihrem Tagebuch für 1906 hielt sie fest: »dünn wie in runden Bögen geblasenes Glas … ebenso stattlich wie eine Pyramide«[2]. Die Kuppelform taucht im Roman in den Vorstellungen von Nancy auf und in denen von Lily, für die Mrs Ramsay »eine erhabene Gestalt, die Gestalt einer Kuppel« (S. 99) hat. Die Kuppelform, die das Solide und das Ätherische vereint, war der wesentliche Kern ihres Plans für das Buch.
Dieser Plan stand Woolf von Anfang an klar vor Augen. Sie formulierte ihn in Listen und Aufstellungen von Bestandteilen oder Zutaten, die – wie bei der Zubereitung eines Bœuf en Daube – genau aufeinander abgestimmt und exakt auf den Punkt gebracht werden mußten. Als der Roman im Frühjahr 1927 erschien, blickte sie zurück auf die »unerwartete Art & Weise, in der diese Dinge sich plötzlich selbst hervorbringen – eins über dem andern im Lauf von etwa einer Stunde … so habe ich The Lighthouse ausgedacht, eines Nachmittags hier im Square« (S. 314).
Mag sein, daß sich ihr die Form des Ganzen urplötzlich eröffnete (»ohne jede Vorüberlegung, soweit ich es sehe«, sagt sie in einem Brief an Vanessa [S. 316]), aber die Zutaten hatten sich über Jahre angesammelt: seit ihrer Kindheit; seit den »Reminiszenzen«, die sie 1908 über ihre Eltern geschrieben hatte; seit den Erinnerungen an »Hyde Park Gate 22«[3], die zwischen 1920 und 1921 zu Papier gebracht wurden. Schon am 17. Oktober 1924, dem Tag, an dem sie die letzten Worte von Mrs Dalloway schrieb, gibt es einen kryptischen, ahnungsvollen Eintrag in ihrem Tagebuch: »Ich sehe bereits The Old Man«[4], als sei die Figur von Mr Ramsay das nächste, womit sie sich beschäftigen müsse. Als die Veröffentlichung von Mrs Dalloway immer näher rückte, kristallisierten sich die Zutaten für Zum Leuchtturm bereits heraus. In ihrem Notizbuch (»Notizen fürs Schreiben«[5]) stellte sie sich am 6. März 1925 eine Sammlung »der Geschichten der Menschen auf Mrs D’s Gesellschaft« vor und...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2016 |
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Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus |
Übersetzer | Karin Kersten |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiographie • Autobiographisch • Briefe • Erzählungen • Essays • Geistergeschichte • Kindheit • Lily Briscoe • Mrs Ramsay • Mutter • Psychoanalyse • Roman • St. Ives • Tagebuch • Talland House • Vater |
ISBN-10 | 3-10-403661-6 / 3104036616 |
ISBN-13 | 978-3-10-403661-8 / 9783104036618 |
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