Pardon wird nicht gegeben (eBook)

(Fischer Klassik PLUS)

(Autor)

Sabina Becker (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
432 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403816-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pardon wird nicht gegeben -  Alfred Döblin
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Döblins meisterhafter Familien- und Epochenroman Eine Witwe zieht nach Berlin und versucht sich dort mit ihren drei Kindern durchzuschlagen. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch richtet sich ihr neu erwachter Ehrgeiz auf die Karriere des ältesten Sohnes. Und tatsächlich gelingt dem Sohn in den Zwanziger Jahren in Berlin der gesellschaftliche Aufstieg. Dann aber stellt die Wirtschaftkrise alles in Frage ... Mit einem Nachwort von Sabina Becker

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Die Großstadt


Morgens brachte er den Kleinen zur Schule. Die Mutter hatte, wie er in die Küche kam, vergrämt am Gasherd gesessen, die Matratze stand schon an der Wand. So grau und elend war das Gesicht der Mutter, so still ihre Bewegungen, daß er, wie er den Jungen in der Schule abgegeben hatte, wieder nach Hause lief, zitternd die vier Treppen hinauf, was wollte er denn sagen, ach, er hätte kein Taschentuch, er hätte seinen Hut vergessen.

Sie war nicht in der Küche, sie lag in der Stube, auf dem ungemachten Bett des Kleinen. Sie raffte, als Karl aufklinkte, das Kissen beiseite und flüsterte: »Was ist denn?« »Ich hatte bloß meinen Hut vergessen.«

Der Hut lag auf einem Stuhl, Karl nahm ihn nicht. »Was stehst du rum?« »Steh doch auf, Mutter.« »Du sollst gehen, sag ich dir.« Er leise, ohne sie anzusehen: »Nein, ich geh nicht, du sollst aufstehen.« Sie fuhr hoch, hatte ihren strengen Ausdruck. »Ich geh nicht runter, Mutter, wenn du nicht aufstehst.«

Sie ließ ihre Beine herunter, faßte ihn um die Schultern, nahm im Gehen den Hut vom Stuhl und führte den Jungen umschlungen durch die Küche zur Tür. Die öffnete sie, schob ihn hinaus, stülpte ihm draußen den Hut fest auf den Kopf, gab ihm die Hand. Er sah sie bettelnd an. Wie sie ihn mühsam anlächelte, bezwang er sich und ging.

 

Draußen war es noch so heiß wie vorige Woche, als sie abfuhren. Das Mähen hatte er noch mitgemacht, jetzt wird wohl schon das Einfahren begonnen haben, das schöne große Gut, wir haben nichts mehr. Er stand vor der Haustür, was soll ich machen, Mutter weiß sich keinen Rat, sie hat den Kopf verloren, an wen soll ich mich wenden. Er setzte sich in Bewegung, marschierte los. Irgendwohin lief er. Die Menschen sah er an, bei jedem die Frage, wovon lebt der, wovon der, woher haben die’s. Woher hatte es der Vater. Wenn ich jetzt auf dem Land wäre, würde ich mich vermieten, jetzt ist viel Arbeit, warum ist die Mutter nur hierher gekommen.

Nach einiger Zeit hatte er die enge ärmliche Gegend seiner Straße hinter sich, ein anderer Menschenschlag ging hier herum, die Straßen waren oft mit Bäumen besetzt, es waren Alleen mit richtigen Bäumen, dann Plätze mit Kindern und Steinfiguren. Er sah sich um, blickte dahin, dorthin, dachte immer: ich muß zugreifen, ich muß was finden, wie machen sie’s nur. Aber wie war hier alles so bequem! Alles war da. Das Brot lag fertig in den Geschäften, grobes Brot, feines Brot, Kuchen, Semmeln, das hatte den ganzen schweren Weg hinter sich, da war schon alle Arbeit getan, das Jäten, Pflügen, die Aussaat, das Mähen, Einbringen und das Dreschen und die Mühle und der Handel mit der Genossenschaft und die Mehlsäcke und das Schleppen. Sie hatten nur damit zu tun, zu backen, es süß und fein zu machen, zu bestreuen und in die Fenster zu legen. Manche Bäckereien hatten Marmortische und Stühle hingestellt, und da saßen schmucke Leute und vor die schoben Mädchen mit weißen Schürzen Kuchen und die fertige Sahne, das hatte viele Muskeln und Schweiß gekostet, die feine Sahne zu machen, das Warten der Kühe, das Futterfahren, das Melken, Kübelschleppen, das Dungabfahren und dann die Plage mit der Molkerei. Davon merkten sie hier nichts, die Leute bekamen hier alles vorgesetzt, sie saßen in den schattigen Läden, nippten an den blanken Löffeln und nachher zogen sie das Portemonnaie und zahlten.

Lange stand der Bursche vor einer Konditorei. Zu Hause hatte ihr Bäcker auch einen kleinen Verkauf gehabt, aber das war eine Art Handwerker, der ihnen ein Stück Arbeit abnahm. Eine kleine mit Bäumen bestandene Grünfläche war in der Nähe, der Bursche setzte sich auf eine Bank, behielt die Konditorei im Auge. Da quälte man sich auf dem Land und hatte noch die Trockenheit und den Hagel und das Unkraut, das kümmerte sie hier alles nicht. Sie wußten vielleicht nicht mal, welche Arbeit es auf dem Land gab. Was sollte er hier mit seinen Muskeln? Zugreifen? Was denn? Über dem kleinen Platz an den Sitzbänken vorbei fuhr ein Mann einen zweirädrigen Wagen und rief Eis aus. Der und jener ließ sich die kleine Bisquittüte geben, Karl hatte keinen Appetit danach, er sah nur wie alles reif vor die Leute geschoben wurde. Über ihm wölbte eine mächtige Buche ihr Laubwerk, ihre Blätter waren vom Straßenstaub bepudert, so zieht unsere Chaussee von der Bahn zu den Feldern, wir schinden uns und die haben’s gut und zu Hause liegt Mutter auf dem Bett und ich soll Geld verdienen.

Und die Ängstlichkeit setzte ihn wieder in Bewegung. Er ging. Woher haben sie’s nur. Aber da öffnete sich plötzlich die Straße wie ein Fluß, der ein Gebirgstal durchflossen hat. Die Straße nahm eine doppelte Breite an und war rechts und links besetzt von großen Geschäftshäusern, zwischen ihnen gab es Restaurants, die mit Wimpeln geschmückt waren, weiter hinten erhob sich weiß ein Denkmal mit vielen Figuren, auf einem zurückgeschobenen Platz, das breite säulenverzierte Gebäude hinter dem Denkmal war ein Theater. Aber was Karl vor allem verblüffte, waren an der Ecke die beiden Kaufhäuser. Sie waren die ersten in der Stadt, ihr Erscheinen hatte die gesamte Kaufmannswelt in der Stadt heftig erregt.

Wie wuchtige Schildwachen in blitzender Uniform postierten sie schon an der Ecke. Die Magazine hatten eine riesige Breite, prunkvoll waren sie ausgestattet mit Fahnen, Girlanden und goldener Verzierung wie zu einem Jahrmarkt, Musik blies aus einigen Fenstern. Karl wollte noch darüber nachdenken, wie die Menschen in der Stadt zu Geld kämen, aber da war er in das verwirrende Abenteuer dieser Magazine gezogen und staunte und sah und ging herum. Die Riesenströmung nahm ihn auf. Es wurde ausgerufen, musiziert, gekauft. Tausend Dinge waren ausgebreitet von den Dächern bis zum Boden, und über den Boden quoll es bis zu den Bordschwellen vor.

Als der Bauernbursche, den Strohhut mit dem Trauerband in der Hand, die Stirn rot und schweißig, das zweite Warenhaus verließ, war schon Mittag vorbei. Er kam an einer engen wagenverstopften Hinterstraße heraus. Mühsam schlängelte er sich zwischen den Fuhrwerken hindurch. Durch die Hauptstraße fuhr die neue Straßenbahn, sie war elektrisch, Wagen fuhren auf Schienen unter langen Drähten, es war ganz unwahrscheinlich, wie sich das ohne Pferd bewegte, der Kutscher stand vorn an einer Kurbel, er stand gewissermaßen in der leeren Luft und drehte, es sah gradezu komisch aus, aber der Wagen bewegte sich doch. Hier in der Seitenstraße aber trabten noch die lieben alten Tiere, die Pferde, die braunen und schwarzen, die guten mit ihren stillen Augen. Im Herüberschlüpfen strich er einem über die Schnauze, du bist auch hier.

Und der junge Mensch, der Tag aus Tag ein zehn Stunden mit allen Muskeln gearbeitet hatte, lehnte neben einem Zeitungsausrufer an der Häuserwand und fühlte sich müde, schlaff, verlangte Augen und Ohren zu schließen und sich auf den Boden niederzulassen. Weil das Schreien neben ihm ihn quälte, schleppte er sich noch ein paar Straßen weiter, der Lärm der großen Alleen und Warenhäuser schlug hier wie von einer fernen Schlacht herüber. Obwohl es übel roch, war es hier angenehm schattig, er war verwirrt, sein Gehirn beladen wie die Straße, wo die zwanzig Wagen sich in einander verfahren hatten. Er putzte seinen Strohhut, setzte ihn sich auf, er hatte das mahnende schwarze Band gesehen, und ungeheuer weit lag irgendwo in dieser Stadt seine Mutter in einer Stube, den kleinen Bruder hatte er heute in die Schule gebracht, er war ausgegangen, um Geld, Geld zu verdienen.

Dieser Bursche, der jetzt den Bordrand entlang pendelte, den Blick zu Boden, hatte schon die hängenden müden Schultern vieler, die hier standen und gingen, sein Blick war glanzlos wie vieler, die hier suchten. Ein Eisenbrunnen stand an der Straßenecke, er trank das laue Wasser aus der hohlen Hand auf Vorrat. Dann merkte er, daß er Hunger hatte, sein Brot in der Tasche war dumpf geworden, er aß es im Gehen, keiner sah ihn an, keiner beachtete hier ja den andern, seine Schultern hoben sich wieder, seine Füße wanderten wieder dahin, von wo das dumpfe Tosen kam.

Noch einmal nahm er die prächtige Parade ab, sie war schwächer in diesen frühen Nachmittagsstunden, dann lief er über eine Stunde, bis er die schwärzlichen leeren Mauern, die ärmliche Straße fand, wo er wohnte. Hier war er also jetzt zu Hause, in einer Stadt mit Elektrizität und Kaufhäusern. Seine Augen blickten vertrauter auf die kleinen Lebensmittel- und Kohlengeschäfte hier. Ja, sie waren alle arm, sie waren aus derselben Familie. Er stieß die Tür zu dem dumpfen und dunklen Flur seines Hauses auf. Sein erster Gang in die Stadt war zu Ende.

Lächelnd schwatzten oben die Flurnachbarn mit ihm, von denen er den Schlüssel holte, die Mutter war nicht da, Erich war eingeschlossen.

In der frühen Dämmerung trat sie dann in ihrem schwarzen Kleid über die Schwelle, das Gesicht verhängt wie immer, und zog die Tür hinter sich zu. Er hatte erzählen wollen, wie er dem Kleinen erzählt hatte, der hatte den Mund aufgesperrt und gebettelt, ihn bald mitzunehmen. Aber die Mutter, furchtbar stumm, mit bleigrauem Gesicht, räumte, kaum daß sie Hut und Schleier abgelegt hatte, in der Stube auf, der Junge sprang hinzu um zu helfen, sie wies ihn eisig in die Küche zu dem Kleinen. Als sie nachher hereinkamen, stand sie mit dem Rücken zu ihnen am Herd. Da fürchteten sie beide zu gleicher Zeit, sie würde sie weggeben, wie sie Marie weggegeben hatte, und erst fing Erich am Tisch über seinem Schreibheft krampfhaft zu schluchzen an, dann zitterten auch Karl die Backen. Die Frau drehte das Gas ab, legte den Löffel hin und wandte sich zu ihnen. Sie schob das Heft beiseite, wischte dem Kleinen mit ihrem Taschentuch die Tränen, nahm...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2017
Reihe/Serie Alfred Döblin, Werke in zehn Bänden
Nachwort Sabina Becker
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte ArmeLeuteRoman • Attentat • Berlin • Bürgermiliz • Epochenroman • Familienroman • Holzfabrikant • Korruption • Krise • Lebenskrise • Liebesabenteuer • Notstandsbau • Reaktion • Selbstmord • Straßenschlacht • Streikunruhen • Weimarer Republik • Wirtschaftskrise • Wirtschaftsroman • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-10-403816-3 / 3104038163
ISBN-13 978-3-10-403816-2 / 9783104038162
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