Zweite Geburt (eBook)
480 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403714-1 (ISBN)
Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 ?Doktor Shiwago? abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. a. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau.
Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 ›Doktor Shiwago‹ abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. a. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau. Christine Fischer, Privatdozentin für Slawische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Jena, hat sich in ihrer Dissertation mit Musik und Dichtung bei Pasternak beschäftigt und zahlreiche Übersetzungen insbesondere aus der russischen Lyrik (darunter Lermontow, Fet, Achmatowa und Pasternak) vorgelegt.
Der kurzweilige Garten
übersetzt von Ilse Tschörtner
1. Der kurzweilige
Schön wie ein Fakt im Fragebogen
Sind alle Daten, die erzählen
Vom trunkenen Nachaußenwogen
Des Kurzweiligen einer Seele.
Auch es – ein Garten, voll von Arten,
Die müde abwarfen den Flor,
Und bunten Spielen, wie der Garten
Vom Weg am Ufer bis ans Tor.
Auch es wird, birgt es den bizarren
Park hinterm Pavillon im Teich,
Dem Schattenriss einer Gitarre,
An der die Saiten sprangen, gleich.
1917
2.
Von Wohlstand, gar üppigen Mählern
Und Jakob-Möbeln umstellt,
Verdorrt das wie Zweige von Käfern
Singsummende Naturell.
Es springt durch die Zinken wie Funken,
Berührst und traktierst du, sie stramm
Zu raffen, die Teufelshalunken
Der Selbstliebe mit dem Kamm.
Die Haltung: »Wie kommt ihr dazu?«
Ist Liebe, doch hüllt geschwinde
Dein Mund dich in Spott: »He ihr, Ruhe!
Verrückter als kleine Kinder!«
O Frische, smaragdene Dolden,
Vom Regen berauscht, Gefrans
Süß schläfernden Unfugs, o golden-,
O göttlicher Firlefanz!
1917
3. Der Nussstrauch
Der Nussstrauch enthebt dich des Tages im Wald,
Und Sonnmünzen fallen bald mit dem Kopf
Aufs schwelende Schwarz eines Baumstumpfes, bald
Mit trübgrünem Adler auf einen Frosch.
Gebüsch überholt dich, der Wald wird, dein Heim,
Je tiefer du heimkehrst, ein Ozean.
Sich lichtende Wipfel und Rundholz in Reihen,
Ein Fink wie ein Schiffchen, wie Schaum Gesang.
Und – querdurch, mit Tauchen, im Zickzack herum,
Azurbläue sammelnd, und mit der Fracht
Vorbei und davon … Und der Wald reckt sich stumm
Und staunt aus den Wolken dem Schiffchen nach.
Wo Himbeere und Gewitter sich finden,
Sich Wolke und Flechtendorn berühren,
Dort glimmt violett, dass die Sinne uns schwinden,
Der Moorgrund verglommener Heidentümer.
1917
4. Im Wald
Ein lila Schleier Hitze trübt die Wiese,
Und Kathedralendämmer füllt den Wald.
Wie hier nicht küssen? Hat sie nicht den Riesen
Wie heiße Wärme Wachs ganz in Gewalt?
So träumt’s sich auch – du schläfst nicht, liegst versonnen
Und spinnst dir einen Traum, du dämmerst müd,
Und auf den Wimpern brennen schwarze Sonnen,
Hervorgelassen unter hellem Lid.
Rings rinnen Lichter, Schillerkäfer, schimmernd
Steht über deiner Stirn Libellenglas.
Den Wald erfasst ein angespanntes Flimmern
Wie eines Uhrmachers Pinzette, die nicht fasst.
Als wär er eingenickt von diesem Ticken.
Doch über allem schlägt, im Bernsteinbrand
Des Äthers, die erprobte Uhr, dort rücken
Die Zeiger weiter nach dem Hitzestand.
Es schiebt und schüttelt sie, die Nadeln beben,
Sät Schatten, attackiert, durchlöchert, plagt
Die Rahen Finsternis, die höher streben
Ins blaue Uhrblatt, in die Glut des Tags.
Als kreiste hier des Glückes Urzeit, gleißte
Im Abendrot von Träumen die Natur.
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, heißt es.
Doch diese beiden, scheint es, schlafen nur.
1917
5. Spasskoje
Ein September wie selten entblättert sich wieder,
Wieder heißt es aus Spasskoje fort in die Stadt.
Hinterm Zaun tauschen Echo und Hirt ihre Lieder,
Überm Wald schallt und hallt eine einsame Axt.
Diese Nacht ging ein Frösteln durchs Moor hinterm Park.
Dann kam Sonne – erschien und verwischte zum Schemen.
Selbst die Gräser friert’s unter dem Tau bis ins Mark,
Und die Birkenhaut blaut wie von Kälteödemen.
Und der Wald murrt, auch er möchte ausruhn vom Tanz,
Seine Schneehöhle baun, seinen Bärenschlaf halten.
Überhaupt, gleicht er mit seinen Schneisen nicht ganz
Einem Nachruf mit trauergeränderten Spalten?
Gab er auf, sich zu regen, zu häuten und flecken,
Tiefer senkend den wässrigen Stirnbalg, zu haaren?
Doch er spricht noch, und wieder sind Sie, und erschrecken,
Wieder fünfzehn!, o Kind, ach, wohin mit den Jahren?
Sind es nicht schon zu viele für Übermutsspiele?
Viel wie Vögel in Sträuchern und Mäuse im Feld!
Manchen Horizont hat man sich selber mit ihnen
Oder anderen bis zum Erblinden verstellt.
Ein an Typhus erlöschender Komiker hörte
Die homerischen Lachsalven der Galerie –
Ähnlich hat es ein Holzhaus, voll schmerzlicher Zärte,
Heut am Wege aus Spasskoje halluziniert.
1918
6. Es wird sein
Morgendämmer wiegt die Kerze,
Zündet die Schwalbe an, lässt sie frei.
Und wieder sage und sag ich euch:
So frisch wird auch das Leben sein.
Ein Schuss ins Dunkel – die Morgenröte,
Babach! Im Fluge erlischt der Brand,
Gelegt von dem fernen Ladestock.
So frisch wird auch das Leben sein.
Nach außen ist es nur ein leichter Wind,
Was zitternd sich an uns schmiegte nachts.
Der Regen blieb fröstelnd im Morgen stehen.
So frisch wird auch das Leben sein.
Ein unwahrscheinlicher Narr, zum Lachen.
Was spielte er sich zum Wächter auf?
Er sah doch: Eintritt ist nicht erlaubt.
So frisch wird auch das Leben sein.
Gebiete, solange du Herrin bist,
Gebiete nur mit dem Wink des Tuchs,
Solange wir im Dunkeln sind,
Solange der Brand nicht erloschen ist.
1919
7. Wintermorgen
Die Luft sinkt in grauen Falten herab,
Und leise erinnert der Schnee an: »So müde …«
Und: »schlummern, ’s ist Zeit« und dann – wie der Tag
Mit Singsang und Sirup fiel hinter die Wiege.
Herauskommend rangst du erst mal nach Atem,
So stach die Haut. Kinder mit Ranzen, der Weg
Ins Weite, wie er sich lautlos in Falten
Wie die eines riesigen Fischernetz’ legt.
Wie leicht legten sich zusammen: das Märchen
Vom Fisch, der vom Wagen schwirrt, oder vom Fuchs
Und Baum, Schuppen, Fenster, Wollfaden, Scherchen,
Der Fäustling, die kalte verwunderte Luft.
Und dann, von den Blümchen, unter dem Zeisig,
Begann es durch Mutwillen oder Addieren,
Durch sie wohl, die Arithmetik, so eisig,
Die Schultafel rüttelnd, zu stürmen und stieben.
Ein Zahn blutete, man pinselte ihn.
Im Auge des Doktors indes spielte schummernd
Gekästelter Irrwitz: Schneebälle hin
Und her, dazu Ranzen und schläfrige Krakel als Summe.
Dies Märchen heut wieder: summend und gähnend,
Die Zeitung mit Schnee fegend, über die Weiten
Der Schaumkronen aus Trottoiren und Mähnen
Sich hin wie ein riesiges Fischernetz breitend.
Der nämliche Schreck der nestlosen Wipfel
Heut, wattig, gefroren, mit Klappfensterwucht,
Zerräufelt beim Tee die wollenen Zipfel
Der Schneenacht zu kalter verwunderter Luft.
1918
Wie Kinder für sich, die lachend
Besinnungslos Unsinn machen,
Haben wir Nacht, Tag und Nacht
Durchredet, durchlesen, durchlacht.
Und mancher, den eine Note
Im Vers nicht mehr losließ, drohte
Dem Morgen, sich zu betrinken,
Bevor die Trambahnen gingen.
Und morgens rief, scharrend im Schnee
Und schaukelnd, ein Vogel: He,
Welch Schnapskorken hat dir Schalk
Nachts solch eine Fratze gewalkt?
Und auf stand der Tag aus heißem
Müllgrubenschimmel, den Kreisen
Der Feuerleitern, vom Ragen
Der Holzstapel angeschlagen.
1919
Ich weiß nicht, was scheußlicher ist:
Ein fauliges Blatt aus dem Viehstall
Oder das, was alles im Schal,
Unterm Schnee ist und im Vergangnen.
Ein Tunichtgut, Tölpel und Tor,
Zwischen Bäumen hier, da zwischen Häusern,
Lässt der graue Oktober die Krähen
Über Karakuljacken flattern.
Das Knacken der Zweige hört sich an
Wie das Knacken hartbackener Kringel.
Dass der Wind sie, statt zu schütteln, doch raffte!
So fallen sie ab Stück für Stück.
Sie fallen auf den frostigen Staub.
Ach, frühzeitig wohl, noch im Dunkeln
Fing der Wirbelwind heute an,
Die Kümmelkringel zu schütteln.
1919
Na, das musste nun sein – sich recken,
Krächzen und in dies Chaos aufschießen,
Um den ganzen Oktoberschrecken
Auf dem Kiosk wie Flügel zu schließen.
Von den Türmen ein Sodom schicken
Auf das rastlose Köpfegewoge,
Wo auch du, mit dem Hütchen nickend,
Das...
Erscheint lt. Verlag | 25.2.2016 |
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Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiographie • Briefe • Dichtung • Doktor Schiwago • Erzählung • Erzählungen • Essay • Gedichte • Leben • Lyrik • Majakowski • Mandelstam • Moskau • Nobelpreis • Prosa • Russische Literatur • Schutzbrief • Schwester • Werkausgabe • Wladimir Majakowski |
ISBN-10 | 3-10-403714-0 / 3104037140 |
ISBN-13 | 978-3-10-403714-1 / 9783104037141 |
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