Berlin am Meer -  Sarah Mondegrin

Berlin am Meer (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
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978-3-89656-590-7 (ISBN)
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Am falschen Ort, zur falschen Zeit, das war Noreen allzu oft in ihrem Leben. Daher wundert es sie nicht, dass sie die einzige Lesbe weit und breit ist, die ein paar ruhige Januartage in dem besten Zwei-Sterne-Hotel Bournemouths verbringt. Freudige Verwirrung liefert jedoch Stella, die Frau mit den 'schönsten Schlüsselbeinknochen diesseits des Horizonts'. Die Hundefriseurin aus Berlin weckt längst totgeglaubte Gefühle in Noreen, auch wenn lange Strandspaziergänge im bitterkalten Südengland nicht wirklich die Romantik fördern. Trotz holpernder Anbahnung und peinlicher Missverständnisse merkt Noreen, dass aus dieser kurzen Zufallsbegegnung vielleicht mehr werden könnte. Allerdings erst nach Stellas Abreise. Jetzt ist guter Rat vonnöten: Wie findet man in einer Metropole wie Berlin jemanden, von der man nur den Beruf und den Vornamen kennt? Mit britischem Understatement gelingt der heute in Berlin lebenden Autorin Sarah Mondegrin ein erfrischendes Romandebüt. Lockere, brillante Literatur mit subtilem, trockenem Humor und hohem Gute-Laune-Faktor.

Sarah Mondegrin lebt seit Vor-Mauerzeiten in Berlin. Nach dem Studium arbeitete sie bei der Stiftung für FrauenLiteraturForschung in Bremen, danach in einem Frauenhotel in Wales. Mitte der neunziger Jahre sammelte sie wertvolle Erfahrungen in einem Hundesalon in San Francisco. Seit einigen Jahren leitet sie Kurse für Kreatives Schreiben.

Kapitel 1


Wann ich Stella begegnet bin? Ich gebe es nicht gern zu, aber unmittelbar bevor mir das Glück zuteil wurde, der Frau mit den schönsten Schlüsselbeinknochen diesseits des Horizonts über den Weg zu laufen, verschwendete ich halbverschlafene und dennoch kostbare Urlaubstage am Meer damit, über Igel nachzudenken. Gegen Igel ist eigentlich nichts einzuwenden. So stachelig sind sie, so unabhängig, so geschäftig und so gut gelaunt. Das genaue Gegenteil von mir damals. Ich beneidete sie.

Und warum? Nun, es war circa vier Monate, bevor ich vierzig wurde. Geburtstag feiern gehörte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Und die Vorstellung von vierzig sich auf einer zuckrigen Torte zusammendrängenden Kerzen erzeugte in mir schon seit Wochen den Wunsch, mich zu einer hermetisch abgeriegelten Kugel zusammenzurollen. Doch sechsunddreißig Stunden, nachdem Stella lachend ihren Koffer ins Foyer des Hotels geschoben hatte – so lange sollte es immerhin dauern, bis ich wirklich mit ihr sprach –, war ich endlich aus meinem emotionalen Winterschlaf aufgeschreckt.

Mein Äquivalent dazu, als pieksende Kugel mucksmäuschenstill die Augen zuzukneifen, hatte darin bestanden, einen Tag nach Weihnachten allein nach Bournemouth zu fahren. Ich lebe in einer Kleinstadt im Norden Englands. Für Bournemouth sprach, dass ich dort in wohltuender Anonymität planschen konnte. Die speckigen Zeigefinger, die an der Supermarktkasse in meine Richtung stachen und Mummie darüber informierten, dass da „meine Lehrerin“ stand, hatten begonnen – seit wann? –, mich wehrlos zu machen. Vor mir auf dem Warenband türmten sich Monatsbinden, Kloreiniger und eine Doppelpackung Hershey’s Kisses. Nur gut, dass ich den Scotch im Regal gelassen hatte. Mein Privatleben – reduzierte es sich wirklich auf die Ansammlung solcher Konsumgüter? – war den Augen des zahnspangigen Grundschülers und seiner Mutter schutzlos preisgegeben. Exponiert als öffentliche Person und lebenslänglich zu kultureller Vorbildfunktion verurteilt, waren mir einige Aspekte meiner Arbeit als Lehrerin inzwischen regelrecht verhasst.

Bournemouth bot Abwechslung. Niemand kannte mich hier. So sollte es auch bleiben. Ich entrollte mich zögernd aus meiner Igel-Kugel und dehnte meine langen, etwas knochigen Arme und Beine.

„Und? Wie willst du jemals wieder eine Freundin finden?“ Am Abend vor meiner Abreise stellte Veronica mit ruppiger Zärtlichkeit ein Glas Tomatensaft vor mich hin. Ich strich mir meine unkoordinierbaren Haare aus dem Gesicht; sie wirkten im Spiegel neuerdings lasch. Der Anblick erinnerte mich an eine ausgebleichte Medusa. Als ich sieben war, hatte mein Haar rotgolden in der Sonne geleuchtet wie das Fell eines Irish Setters. Ich probierte ein beschwichtigendes Lächeln.

„In unserem Alter ist das doch nicht mehr so wichtig. Ich habe doch euch.“

„Was?“ Veronica schnellte auf ihrem Sofa vor. Ich griff nach meinem Glas, um es vor ihrem Ellbogen zu schützen.

„Willst du dich mit neununddreißig etwa aufs Altenteil zurückziehen?“

„Altenteil?“ Ich senkte die Stimme. Im Flur telefonierte giggelnd Veronicas dreizehnjährige Tochter. Das war doch keine Atmosphäre für eine Unterhaltung zwischen zwei mittelalterlichen Frauen.

„Altenteil würde ich das nicht gerade nennen.“

„So? Wie denn dann?“ Veronica verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Sie sah aus wie ein verärgerter Adler. Ich kniff den Mund zusammen und deutete mit dem Kopf in Richtung Flur. Ich hasste es, wenn mein Mund sich auf diese Weise zusammenzog. Davon bekam ich vermutlich Falten. Aber meine Mimik war immer lebhaft gewesen. Vielleicht musste ich mir das für den Rest meines Lebens – wie lange konnte das noch sein? – abgewöhnen.

Veronica winkte ab. Ella, sollte das heißen, interessierte sich nicht für die Gespräche ihrer alten Mutter.

„Ich meine doch nur“, flüsterte ich – die Unterhaltung war mir bereits von Herzen zuwider –, „wenn man älter ist, dann kann man die Dinge viel gelassener auf sich zukommen lassen.“

Wie wenig wusste ich doch damals über mich. Einer Frau in meiner Lage hätte ich auf einer Skala von eins bis zehn eine verächtliche minus siebzehn gegeben. Schließlich benahm ich mich genau wie diese Siebenjährigen, die sich in Schwimmbädern hoch oben auf dem schwingenden Sprungbrett aneinander klammern. Da runterspringen? Niemals! Ihre Haare, die sich feucht auf den Schulterblättern kringelten, sind fast wieder trocken, so lange zappeln sie schon drei Meter über dem Wasser herum. Achtmal haben sie sich probeweise die Nase zugehalten, doch dann schrecken sie quiekend wieder zurück. Nun, das Quieken ließ ich aus, doch auch ich schaffte es nicht, mich ins Tiefe fallen zu lassen. Ich hatte alles überstürzt. Und ich tat nichts. Diese Tendenz zu Widersprüchen in meinem Leben war in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Hätte ich geahnt, welche Ausmaße das anzunehmen vermochte, hätte ich mir vollends gewünscht, mich in einen Igel zu verwandeln. Ein Liebesleben war unter diesen Umständen sowieso nicht mehr möglich.

Keine lesbische Liebesgeschichte, die im Sea-Hotel in Bournemouth beginnt, ist einfach. Denn das Sea-Hotel ist ein Familienhotel. Allein reisende Lesben neigen nicht dazu, an solchen Orten aufzutauchen, ausgeschlossen. Sollten sie es – gegen jede Wahrscheinlichkeit! – aber doch tun, dann bietet das den Vorteil, dass sie hier kaum übersehen werden. Andererseits erwartet keine Lesbe, dass eine andere ihr absonderliches Interesse teilt und sich ausgerechnet dort zwei Tage nach Neujahr eingräbt wie eine Wüstenspringmaus, wenn alle, die etwas auf sich halten, zu Hause eingekuschelt sind und Mince Pies knabbern oder an wirklich romantischen Plätzen wie dem Lake District traumhaften Sex in hübschen Gästezimmern haben. Vielleicht wäre hier eine Entschuldigung an Bournemouth und alle Lesben, die dort schon romantische Wochenenden verbracht haben, fällig.

Wenn aber doch eine andere Lesbe dort auftauchen sollte, folgt der Verblüffung gleich die Frage: Warum? Warum tut sie das? Hat sie gerade eine beleidigte Geliebte in der Candy Bar in Brighton hinter sich gelassen? Oder in einem hübschen Gästezimmer im Lake District? Oder – noch schlimmer – macht sie etwa eine Phase von Selbstmitleid durch? Genau wie ich, obwohl ich mich so bemühe vorzugeben, dass dem nicht so ist?

Und wenn es bei ihr so sein sollte: Warum finde ich sie trotzdem so unglaublich attraktiv?

Das Sea-Hotel liegt nicht weit vom Strand. Trotzdem kann man von dort nicht den kleinsten Blick aufs Meer erhaschen. Allerdings sieht man von keinem Hotel dieser Preisklasse in Bournemouth das Meer. Für diese Äußerung beabsichtige ich mich nicht zu entschuldigen, denn Stellas Gesicht magnetisiert mich in diesem frühen Stadium unserer Begegnung. Ich möchte sie einfach nur anschauen.

Es war ein Wintermorgen an der Dorset-Küste. Ich erinnere mich, wie sie den Füller zwischen ihren Zähnen hielt wie eine Zigarre. Ihre lachenden Lippen öffneten ihr Gesicht, statt es zu versiegeln, wie ich es bei so vielen anderen Frauen in den letzten Jahren gesehen hatte. Sie trug eine Mütze in der Form eines Schneemanns, die sie tief in ihre runde Stirn gezogen hatte. Ich vermisste den Anblick ihres dicken, dunklen Haars, in das meine Hand sich hineinwühlen wollte. Ich war von der Vorstellung besessen, ihren Nacken am Haaransatz zu umfassen, während wir uns küssten. Die Mütze sah wirklich lächerlich aus, selbst ich, die ich in meiner Verzückung bereit war, alles, ausnahmslos alles, an dieser Frau hinreißend zu finden, hätte das – wenn auch widerstrebend – zugegeben. In gewisser Weise bedeutete die Schrulligkeit der Mütze eine Erleichterung, weil mir meine Anbetung dieser Fremden in den wenigen etwas klareren Momenten geradezu unheimlich war. Der Mützenschneemann wippte auf Stellas Kopf und freute sich über den imaginären Schnee, den außer ihm niemand sehen konnte. Sie nahm das blaue Ende des Füllers aus dem Mund und steckte ihn zurück in ihre Tasche, zu den Ansichtskarten, die sie eben an ihre Freundinnen geschrieben hatte. Dann erzählte sie mir davon, dass es in Deutschland nur rote Eichhörnchen gab. Solche wie die grauen hier hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Ihre Stimme hüpfte auf den mir bekannten Worten auf und ab wie eine Surferin auf einer Welle. Manchmal geriet sie ins Stocken, weil sie sich in einer ungelenken grammatischen Konstruktion verfangen hatte. Sie zog die schwarzen Augenbrauen zusammen und sah suchend auf das Meer, als ob von dort das Wort zu ihr heraufleuchten könnte.

Ein Sonnenfleck schimmerte für einen Moment auf dem wintergrauen Flügel der See. Meine Augen streichelten die Nacktheit von Stellas schlanken Fingern – zum Postkartenschreiben hatte sie die Handschuhe ausgezogen –, sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu, und ich höre das banale Geräusch noch heute. Es war, als hätte ich eine Deutlichkeitsdroge genommen. Die Farbe der Wolken spiegelte sich in Stellas dunklen Augen, und das Meer ruhte in seiner ganzen Größe schieferfarben auf der Glasplatte eines Mikroskops, das Gegenwart hieß. Ich wollte nichts weiter als den Wind in mir aufbewahren und mir vorstellen, wie sich die Härchen an Stellas Wange unter meinen Fingerspitzen anfühlen würden, wenn ich sie in der Nacht berührte, während die Straßenlaternen vor dem Hotel das Zimmer mit künstlichem Mondlicht fluteten. Hoch über uns segelten Möwen in ihrem entfernten Zuhause aus Licht. Ich konnte ihre roten Füßchen erkennen, die sie parallel ausgestreckt hatten. Stella schob ihre Tasche zwischen uns zurecht. Sie war noch immer fast eine Fremde...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-89656-590-7 / 3896565907
ISBN-13 978-3-89656-590-7 / 9783896565907
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