Kindes Kind (eBook)

(Autor)

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2015 | 2. Auflage
464 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60701-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindes Kind -  BARBARA VINE
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Schluss mit der Wohnungsnot: Als Grace und ihr Bruder Andrew das Haus ihrer Großmutter erben, ziehen sie zusammen. Doch was, wenn einer von ihnen mit einem Dritten zusammenleben will? Eine fatale Dreiecksbeziehung entsteht, aus der sich Grace in alte Bücher flüchtet - um darin ein ähnlich ungewöhnliches Geschwisterpaar wiederzufinden. Tabus, Schande, Verrat früher und heutzutage: ?Kindes Kind? ist Sittenbild und Psychothriller zugleich.

Barbara Vine (alias Ruth Rendell), geboren 1930, lebte in London. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen. 1996 erhielt sie von der Queen den Ehrentitel Commander of the British Empire und 1997 schließlich den Grand Master Award der Mystery Writers of America für das Gesamtwerk. Sie wurde auf Vorschlag von Tony Blair geadelt und ins House of Lords berufen. Barbara Vine starb 2015 in London.

[17] 3

Als Erstes fiel ins Auge, was für ein gutaussehender Mann James war. Nicht direkt wie ein Star, denn Schauspieler müssen heute nicht mehr unbedingt gut aussehen. Eher wie ein Filmstar der dreißiger und vierziger Jahre. Andrew besaß eine riesige Sammlung von DVDs. Die männlichen Stars, Clark Gable, Cary Grant, James Stewart und Gregory Peck, sahen alle umwerfend gut und zusammengenommen alle wie James aus – oder er sah aus wie sie. Vielleicht vor allem wie Cary Grant. Der soll ja angeblich nicht besonders helle gewesen sein, und wenn das stimmt, endet hier die Ähnlichkeit, denn James war hochintelligent. Er war – ist – groß, schlank, dunkelhaarig und hat eine völlig natürlich wirkende dauerhafte Bräune. Seine Augen sind dunkelblau, seine Zähne blitzen, wie bei Amerikanern üblich, er hat von Kopf bis Fuß einen perfekten Körper mit wohlgeformten, langgliedrigen Händen und kräftigen Beinen, die ich an einem heißen Tag nackt im Garten sah, muskulös, aber so makellos wie bei einem Kind.

Nach dieser Beschreibung könnte man denken, dass ich ihn begehrenswert fand, und in gewisser Weise tat ich das auch, aber nur so, wie man einen Mann auf einem Gemälde oder einem Foto anziehend findet. Und auch dann hätte ich versucht, meine Gefühle zu verdrängen, weil er Andrew gehörte und weil ich weiß, wie sinnlos es für eine Frau ist, sich [18] sexuell für einen schwulen Mann zu interessieren. Außerdem war er mir eher unsympathisch, und ich versuchte, auch das zu verdrängen.

Wir trafen in der Diele aufeinander. Die beiden waren gerade hereingekommen, und Andrew machte uns miteinander bekannt. James sagte kurz angebunden »Hi!« und bog dann gleich rechts ab, weil er offenbar schon wusste, dass die rechte Hälfte Andrew gehörte und die linke mir.

Vielleicht, redete ich mir ein, ist er schüchtern oder Frauen gegenüber gehemmt. Er verbrachte diese, nicht aber, soweit ich das beurteilen konnte, die nächste Nacht in unserem Haus. Ich ertappte mich dabei, dass ich am Morgen auf seine Schritte lauschte, und als ich hörte, wie Andrew ihn verabschiedete, und vom Zimmer meines Arbeitszimmers aus sah, wie James die Straße hinunterging, war ich erleichtert. Doch ich versuchte nach Kräften, mir dieses Gefühl zu verbieten, und sagte mir, dass man niemanden nach einer einzigen Begegnung beurteilen könne. Als James nach einer Woche wiederauftauchte, konzentrierte ich mich auf den Gedanken, wie schön das für Andrew war, der vor Freude strahlte.

James war nun immer öfter in Dinmont House. Natürlich ist das in einer Liebesbeziehung völlig normal. Wenn die Liebe nicht verpufft, wird sie ständig intensiver. Ich merkte, dass ich viel zu oft darüber nachdachte, spekulierte, sogar nach Zeichen Ausschau hielt, ob es etwas Ernstes war. Am schlimmsten aus meiner Sicht wäre es, wenn sie die Absicht hätten zusammenzuleben, mit anderen Worten, wenn James hierherziehen würde. Ich hätte Andrew darauf ansprechen können, wollte ihm aber keinen Floh ins Ohr setzen. Was töricht von mir war, denn wer würde mit einem [19] Liebhaber zusammenziehen, weil seine Schwester es ihm suggeriert hatte?

Weil ich die Entwicklung weiter beobachten wollte, bat ich sie an einem Samstagvormittag zum Kaffee. James war seit Donnerstagabend im Haus. Wir gingen in den Raum, den ich am liebsten hatte, das Arbeitszimmer von Verity. Wie der Salon (so hatte Verity ihn genannt), das unbenutzte Esszimmer und mehrere Schlafzimmer ist es voller Bücher. Bücher auf den Regalen, Bücher in den Schränken, in bis zu drei Reihen gestaffelt. James griff nach George Eliots Adam Bede, das mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch lag, blätterte kurz darin und sagte, er würde nie die Geduld aufbringen, so etwas zu lesen.

»Dieses Gelaber, Absatz um Absatz, Seite für Seite, Beschreibungen, Dialoge in Dialekt – schnarchlangweilig, der Kerl.«

»Es war eine Frau«, sagte ich schockiert, weil ich gedacht hatte, das müsste jeder wissen, schließlich hatte James selbst Bücher veröffentlicht. Schockiert aber auch über meinen abfälligen Ton. Ich versuchte immer noch, ihn zu mögen.

»Warum nennt sie sich dann George?«

»Weil ihre Chancen, gelesen zu werden, dadurch größer waren, als wenn die Bücher unter ihrem eigenen Namen erschienen wären.«

»War das nicht verlogen?«

Auch wenn ich ihm gerade über den Mund gefahren war – streiten wollte ich nicht mit ihm, und deshalb sagte ich nur, das sei eine originelle Betrachtungsweise, und fragte, ob sie schon gegessen hätten, etwas essen wollten.

[20] »Nein, danke, Sis.« Diesen ungewöhnlichen und veralteten Ausdruck hatte Andrew irgendwo aufgeschnappt, als wir Kinder waren. »Wir sind beide verkatert. Nur Kaffee, danke.«

James sah uns groß an. »Sis? Nie gehört! Wer sagt denn so was?«

 Ich brachte ein breites Lächeln zustande, aber meine Augen lächelten nicht mit. Dennoch war ich entschlossen, ihn zu mögen, komme, was da wolle. Als sie fort waren, setzte ich mich wieder an den Roman, von dem der Schriftsteller James Derain glaubte, er sei von einem Mann. Verity hatte mich immer ermahnt, »nicht da zu sitzen, wo die Spötter sitzen«, wie es in der Bibel heißt, und ich verbot mir deshalb sogar in Gedanken jeden Hohn und Spott, sagte mir, dass dieser Fehler selbst einem Gebildeten unterlaufen konnte. Also zurück zu Adam Bede. Beim Lesen fiel mir auf, dass George Eliot nirgends ausdrücklich schreibt, dass die siebzehnjährige Hetty Sorrel ein Kind erwartet. Auch dass Hetty von Arthur Donnithorne verführt wurde, können wir nur vermuten. Dem Leser wird lediglich gesagt, dass die beiden einen Kuss getauscht haben. Es gibt dunkle Andeutungen, dass ein großer Kummer auf der armen Hetty lastet, aber dass sie schwanger sein könnte, wird nie erwähnt. James würde das bestimmt verlogen nennen, aber wer sich schon mal mit viktorianischer Prüderie beschäftigt hat, weiß natürlich, dass die Autorin es nicht wagte, die Schwangerschaft der unverheirateten Hetty direkt anzusprechen, weil sie damit die Veröffentlichung des Romans gefährdet hätte. Wir erfahren von der Existenz des Babys erst, als man Adam sagt, dass es tot ist, und als Hetty unter Mordanklage vor Gericht steht.

[21] Vorgeblich spielt das Buch 1799, obwohl George Eliot es in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts schrieb. Wie wenig sich doch die Moralvorstellungen bis dahin verändert hatten. Ehe ich mir Adam Bede vornahm, hatte ich einen Artikel über eine Schule in Cheshire gelesen, in der sich junge Mädchen – fünfzehn Jahre oder jünger – auf den Realschulabschluss vorbereiten und ihre Babys mitnehmen können. Von so etwas konnte Hetty Sorrel nur träumen. Der Begriff der Schmach und Schande ist völlig verschwunden. Zu George Eliots Zeit – und auch noch bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts – ging es bei einer unehelichen Schwangerschaft vor allem darum, aber auch um Strafe und Vergeltung. Ich las noch einmal sorgfältig bestimmte Stellen in Adam Bede und überlegte, ob Hetty überhaupt wusste, dass sie schwanger war, ob sie sich vielleicht, weil sie ja auf dem Land lebte, über die möglichen Folgen ihrer Beziehung zu Arthur im Klaren gewesen war. Würde ein Mädchen, dem man nicht gesagt hatte, wie man schwanger werden konnte, den Zusammenhang zwischen sich und einer Kuh sehen, die auf einem Feld von einem Bullen besprungen wird?

Immerhin hatte mich das alles von Andrew und James abgelenkt. Nur George Eliot macht es möglich, dass wir die Heirat eines Mannes wie Adam Bede mit einer methodistischen Predigerin gutheißen. Wir verurteilen ihn nicht dafür, wir verdrehen nicht die Augen, weil er sich diese Frau nimmt, die auch die Wahl seiner schwierigen alten Mutter ist. Wir empfinden sogar so etwas wie schuldbewusste Erleichterung, dass er die arme kleine Hetty jetzt nicht heiraten kann, weil die zur Strafe für ihr Verbrechen deportiert [22] worden ist. Wie hätte sich das wohl bei Trollope angehört? In seinen Romanen gibt es mindestens eine »natürliche Tochter«, doch aus ihr wird eine reiche Frau mit besten Verbindungen, deren Leben eine günstige Entwicklung nimmt. Inzwischen bin ich bei Fanny Robin in Hardys Am grünen Rand der Welt angelangt – einer jungen Magd, die sich vor ihrer »Niederkunft« ins Arbeitshaus flüchtet. Um ein Haar hätte sie heiraten können, landet aber versehentlich in der falschen Kirche. Dabei liebt Sergeant Troy sie und nicht Bathsheba Everdene, die er ehelicht, nur hat von dieser Liebe die arme Fanny nichts, die stirbt allein und unglücklich im Kindbett.

Ich versuchte mir auszurechnen, wann die Verurteilung lediger Mütter vorüber war. Wann sie begann, ist die leichtere Übung: in ferner Vergangenheit, seit es die Ehe gibt, jene Verbindung, um die sich die Männer so gern drückten, von der die Frauen träumten und für die sie kämpften. Doch wann hörte die Gesellschaft auf, die Frauen auszugrenzen, fing sogar an, sie zu unterstützen, und ermutigte sie, mit ihren Babys wieder die Schule zu besuchen und ihre Zukunft in die Hand zu nehmen? Die konservative christliche Kultur der fünfziger Jahre hielt viele Frauen von vorehelichem Sex ab, doch das änderte sich mit der Pille. Ich komme auf die mittleren bis späten sechziger Jahre, in denen auch homosexuelle Handlungen aufhörten, eine Straftat zu sein.

Dass ich das ganz harmlos verkündete – wir hatten über eingetragene Partnerschaften gesprochen und dass auch die...

Erscheint lt. Verlag 28.10.2015
Übersetzer Renate Orth-Guttmann
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Child's Child
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Arzt • Erbe • Familie • Familiengeheimnis • Geschwister • Krimi • Roman • Ruth Rendell • Spannung • Thriller • Zusammenleben
ISBN-10 3-257-60701-6 / 3257607016
ISBN-13 978-3-257-60701-7 / 9783257607017
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