Diesseits des Van-Allen-Gürtels (eBook)

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2015 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56931-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Diesseits des Van-Allen-Gürtels -  Wolfgang Herrndorf
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Die Zwangsbekanntschaft zweier Kunstakademiestudenten wächst sich zu einer uneingestandenen Dreiecksgeschichte aus, die auf der Brenner-Autobahn zu einem unrühmlichen Abschluss kommt. Ein Krankenpfleger setzt sich mit dem Geld eines Patienten nach Asien ab und endet in der Polizeistation eines japanischen Fischerdorfs. Ein Mittdreißiger und ein verzogener Halbstarker unterhalten sich auf einem einsamen Balkon über den Kosmos. - Die Verlorenheit von Herrndorfs Figuren ist groß, und die erzähltechnische Raffinesse sowie der Unterhaltungswert seines Buches sind es auch. «Es geht also doch: Man kann auf Deutsch intelligente und zugleich extrem lustige Geschichten schreiben.» (Süddeutsche Zeitung) «Nicht realistisch, sondern gegenständlich, gläsern und geheimnisvoll, komisch und unheimlich, mitreißend und abstoßend ... Ein kurzes langes Buch voller nie nachlassender Spannung.» (Gustav Seibt) «Seinen zwischen Normalität und Perversion lavierenden Trauergestalten haftet nichts Belehrendes, nichts Schwerfälliges an. Diese Habenichtse aus Brandenburg oder Berlin werden von einer federleichten Prosa getragen, und diesen scheinbaren Widerspruch erzählerisch zu gestalten, darin besteht die nicht geringe Leistung Wolfgang Herrndorfs.» (Neue Zürcher Zeitung) «Wenn der Sinn der Literatur darin besteht, Dinge zu verändern, dann sind Wolfgang Herrndorfs Erzählungen keine Literatur.» (Frankfurter Rundschau) «Sechsmal unterhält er bestens und bringt die Oberflächen zum Tanzen, und immer achtet er sorgsam darauf, dass sich darunter wirklich nichts finden lässt. Wenn sich dennoch die eine oder andere Lebenswirklichkeit findet, ist das nicht mehr Herrndorfs Sache, genauso wenig wie die Einschätzung: Besseres als diese Geschichten kann der Popliteratur im Moment nicht widerfahren.» (Der Tagesspiegel) «Ein dolles Buch.» (Die Zeit)

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels». Es folgten die Romane «Tschick» (2010), «Sand» (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch «Arbeit und Struktur» (2013) und der unvollendete Roman «Bilder deiner großen Liebe» (2014). 2023 wurde die Biographie «Herrndorf» von Tobias Rüther veröffentlicht.

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels». Es folgten die Romane «Tschick» (2010), «Sand» (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch «Arbeit und Struktur» (2013) und der unvollendete Roman «Bilder deiner großen Liebe» (2014). 2023 wurde die Biographie «Herrndorf» von Tobias Rüther veröffentlicht.

Blume von Tsingtao


Eine gute Geschichte muss einen Anfang haben, eine Mitte und ein Ende, und zwar genau in dieser Reihenfolge, hat Chabrol einmal gesagt. Der große Chabrol. Bevor ich seinem Gebot Folge leiste, möchte ich jedoch noch einen Satz voranstellen: Der Mensch ist verrottet. Das sollte eigentlich als Motto über allem obendrüber stehen. In Schönschrift und mit einem kleinen, blassen Punkt am Ende: Der Mensch ist verrottet.

Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich damit kein moralisches Urteil verbinde. Ich bin der Letzte, in den kulturpessimistischen Choral alter Säcke einzustimmen, die jedes Mal, wenn Dieter Bohlen sich zu Wort meldet oder das Tamagotchi erfunden wird, sofort ein Buch schreiben, wo drinsteht, warum jetzt die Welt untergeht. Wirklich nicht. Aber ich fürchte Sie zu langweilen. Bitte um Entschuldigung.

Mit der Episode aus meinem Leben, die ich erzählen möchte, hat das alles auch nicht das Geringste zu tun. Ich werde meine Gedanken, so Gott will, bei Gelegenheit und in Form einer Untersuchung nachreichen. Ein Traktat über den Neuen Asianismus ist bereits unterwegs, dazu einige allgemeine Überlegungen zur Psychologie des Chinesen – und auf speziellen Wunsch Herrn Schmidts auch die Beantwortung der Frage, warum Hedonismus ohne Bildung zum Scheitern verurteilt ist. Aber wie gesagt, darum geht es nicht. Wenn man täglich den Resten biologischer Kriegsführung, die von den zuständigen japanischen Stellen als Mahlzeit II bezeichnet wird, ausgesetzt ist, hat man ganz andere Probleme. Da hilft es auch nicht, wenn einem Herr Schmidt … ja, Herr Schmidt.

Mein Freund Herr Schmidt ist eine Art Botschaftspraktikant, wenn ich das richtig verstanden habe, ein ausgezeichnet gekleideter junger Mann ohne Manieren und begeisterter Anhänger neueren deutschen Romanschaffens. Neuerer deutscher Schwachsinnsliteratur, ehrlich gesagt. Kein Zuspruch, keine Zeitungen, keine Unterhaltung – aber zentnerweise diese Bücher, die der arme Mann hier abwirft wie Sandsäcke gegen die unmoralische Flut meiner Existenz. Ich will nicht ausfällig werden. Ich habe Deutschland seit vielen Jahren nicht gesehen. Aber seinen literarischen Zeugnissen nach zu urteilen, und aus der Ferne sieht man bekanntlich schärfer, befindet man sich geistig-kulturell in einem Zustand wie Belgisch-Kongo 1914. Das ist der Grund, warum ich so brillant beginne.

Literaturliste der letzten 14 Tage: ein Buch von Thomas Bernhard, zwei von Judith Hermann. Ein Meisterwerk von Günter Grass (mit Fickzeichnungen!), zwei Bücher, deren Inhalt ich nicht begriffen habe und die, glaube ich, auch keinen hatten, von Florian Hensel und Jana Illies, zuletzt etwas entsetzlich Gottloses von Heinz Bude. Einer der Autoren soll sogar einen Preis gewonnen haben – ich habe schon wieder vergessen, welcher, habe es natürlich auch nicht nachprüfen können –, halte die Information aber für eine von Herrn Schmidts Erfindungen. Da müssten die Preisrichter am Ende doch Bonobos gewesen sein. Und dann heute, mit dem Transport eingetroffen, das Schönste, das Allergrößte zuletzt: ein Wälzer mit abgerissenem Deckel, auch das Vorsatzblatt abgerissen (als ob jemand Filter gebraucht hätte), sodass ich nicht erkennen kann, wer es geschrieben hat oder wie es heißt. Herr Schmidt sagte, es sei der Renner in Deutschland, und er muss es ja wissen. Es handelt von einem Hermaphroditen, einem 5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphroditen, und Sie können mich auf der Stelle mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen, wenn Sie der Meinung sind, etwas Dümmeres sei jemals auf Deutsch geschrieben worden. Da Sie das Buch vermutlich nicht kennen, eine kurze Szene daraus: Die Türken vertreiben die Griechen aus Smyrna, alles brennt, Hunderttausende sterben. Ein Typ und sein Flittchen stehen auf einem Hügel, und der Typ sagt: «Desdemona! Die Türken kommen, wir müssen auswandern!» Das Flittchen antwortet: «O Gott, Lefty! Wo sollen wir denn hin?» Lefty: «Wir fahren zu Tante Lina nach Amerika.» Flittchen: «Dann nehme ich die Seidenraupen mit.» Und so weiter und so fort, zweitausend Seiten lang. Seidenraupen, mein Arsch.

Ich will nicht lamentieren. Für eine Eingabe ans Außenministerium reicht es nicht, und es geht hier auch nicht um Querulantentum oder um Moral, wie ich eingangs schon sagte. Aber können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man monatelang keinen Input hat außer diesem hirnzerstörenden Müll? Ironie der Geschichte: Mir macht es fast gar nichts aus. Ich bin ein extremer Masochist.

Wo dieser Eckpfeiler einmal in den Boden der Prosa gerammt ist, kann ich im Grunde auch ordentlich beginnen. Lassen wir den Quatsch mit dem Asianismus mal weg. Ich will Ihnen eine kurze Geschichte erzählen. Wenn Sie irgendwas nicht verstehen oder Fragen haben, können Sie mir gerne schreiben. Aber falls es so Fragen sind wie – ob ich in meiner Kindheit zu viele Tabellen gezeichnet habe oder warum ich nicht über Beziehungsgerede schreibe, sparen Sie sich Briefmarke und Antwortkuvert besser. Ich habe keine weiteren Ambitionen, als Sie hinreißend zu unterhalten, und ich verspreche Ihnen, dass das nicht besonders schwierig sein kann. Meine Vorteile sind: Ich bin erstens nicht verrückt. Und zweitens gehört Nächstenliebe zu meinem Beruf. Ich bin Pfleger.

Oder ich war Pfleger. Im Grunde bin ich Künstler. Aber im Brotberuf an der neurologischen Abteilung der Charité. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt. Es war nicht der Job meines Lebens, aber er half mir in einer schwierigen Phase … na ja, und so weiter und so weiter. Das übliche Gerede.

Ich hatte also Nachtdienst. Einer meiner Patienten hieß Herr Shiitake. Herr Shiitake gab mir Geld dafür, dass ich mehrmals in der Woche mit einem Endoskop seine Körperöffnungen untersuchte, um dort Nanoorganismen zu entfernen, von denen er seiner Ansicht nach befallen war. Besonders, wenn er Besuch aus einem nahegelegenen Altenheim hatte, Frauen mit blauen Haaren, war es ihm wichtig. Ich musste dann mit wehendem Kittel hereinspazieren und die empörten Parasiten in kleine Reagenzgläser sammeln. Meistens durfte ich an seinen Besucherinnen, die sich vor der Ansteckungsgefahr fürchteten, ebenfalls eine Prophylaxe vornehmen. In den riesigen Mündern, Ohren und Nasen alter Leute herumzustochern ist keine wahnsinnig angenehme Erfahrung, aber dafür bekam ich zwischen zwanzig und fünfzig Mark die Woche von Herrn Shiitake.

Warum er Shiitake hieß, habe ich nie herausgefunden. Er war kein Asiate oder so, er hatte nur sehr schlitzförmige Augen. Er war in seiner Jugend lange Zeit zur See gefahren, und ich nahm an, dass er sich dabei den Namen zugezogen hatte. Mit seiner Bettlägerigkeit war es nicht weit her. Er hatte ein leichtes Nervenleiden und weigerte sich aufzustehen, das war alles. (Die Ärzte sahen das natürlich anders.)

Mit den Jahren besuchten Herrn Shiitake immer weniger Leute. Wahrscheinlich starben sie in ihren Anstalten, ohne dass er es mitkriegte. Eines Tages kamen gar keine Besucher mehr, und wenig später verschied Herr Shiitake still und friedlich an einer Überdosis Schlaftabletten, wie die meisten Patienten auf unserer Station. Wer wollte es ihnen übelnehmen.

Sein richtiger Name, das stellte sich jetzt heraus, war Nils Johann Nansen, aber wir fanden keine Angehörigen, denen wir seine Sachen schicken konnten. Er hatte die letzten Jahre auf der Station verbracht, und sein weltlicher Besitz passte in einen Reisekoffer. Mit diesem Koffer war er rüstig und gesund bei uns eingezogen, hatte den Koffer unter sein Bett geschoben, und dort war er verstaubt. Während einer Nachtschicht untersuchte ich seinen Inhalt und fand neben allerlei uninteressantem Zeug eine mit schwarzem Japanlack überzogene Schachtel. Auf der Oberseite war ein feuerspeiender Drache in Intarsien abgebildet, allerdings ein sehr seltsamer Drache, denn das Feuer kam ihm hinten aus dem Kopf, eine Fehlprägung sozusagen. Ich hatte die Schachtel vorher nie bemerkt. Sie sah aus wie etwas, das man beim Teeversand als Kundengeschenk erhält. Innen war sie mit rotem Filz ausgeschlagen und enthielt nichts weiter als ein kleines Amulett an einem Halsband. Das Amulett bestand aus zwei tropfenförmigen Lederstücken, die miteinander vernäht waren, allerdings nicht überall gleich sorgfältig. Nahe der Öffnung für das Halsband war ein anderer, gröberer Faden verwendet worden. Ich durchtrennte den Faden. Im Innern des Amuletts lag ein verschrumpelter, weißlicher Ring, wie ein zertrockneter Tortellini oder eine Vorhaut. Ich betrachtete lange diesen Tortellini, legte ihn zurück ins Amulett und nähte es gerade mit chirurgischem Werkzeug wieder zu, als es auf der Station klingelte.

In Zimmer 17 lag eine alte Frau, die nachts nicht mehr unterscheiden konnte, ob sie Schmerzen hatte oder träumte. Sie war schwer zu sedieren und hatte deshalb ein Einzelzimmer. Als ich die Tür öffnete, hatte sie den Lichtschalter bereits gefunden und rief, ich solle ihrer Nichte Bescheid sagen, sie müsse sich von dem Schwarzen trennen. Ich versprach, sofort hinzufahren.

«Und jetzt schauen Sie mal hier, Frau Hansen, wo ist denn Ihr Kopfkissen?»

«Sie wohnt in Bleyen-Bleyen», sagte Frau Hansen.

Das sei mir völlig klar, antwortete ich, nichts anderes als absolut und völlig sonnenklar. Ich schlug ihre Arme zur Seite und flößte ihr auf Anordnung Sauerbruchs zwei 10er-Valium ein.

«Wenn’s wieder in der Toilette ist, können Sie heute Nacht auf der Bettpfanne schlafen.»

«Oh, das wäre doch nicht nötig gewesen, Dr. Hendrik!» Sie krallte sich an meinem Kittel fest, wünschte, ich würde aus meinem Leben noch etwas machen, und gab mir Instruktionen, eine Mauer um Europa herum zu errichten. Schließlich sackte sie weg.

Als...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2015
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Grenzsituation • Komisch • Nonkonformismus
ISBN-10 3-644-56931-2 / 3644569312
ISBN-13 978-3-644-56931-7 / 9783644569317
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