Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
640 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403301-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende -  Alfred Döblin
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Alfred Döblins letzter großer Roman - erstmals in der ursprünglichen Fassung Der englische Soldat Edward Allison kehrt traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg in sein Elternhaus zurück. Er fragt nach der Schuld am Krieg und löst damit einen Reigen von Erzählungen aus, die ganz unterschiedliche Facetten von Schuld beleuchten, vor allem auch innerhalb der eigenen Familie. Ein Meisterwerk der Erzählkunst, neu ediert auf der Grundlage des ursprünglichen Typoskripts. Herausgegeben von Christina Althen und Steffan Davies

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Erstes Buch


Die Heimkehr


Man brachte ihn zurück. Es fiel ihm nicht zu, den asiatischen Kontinent zu betreten.

Fünf Tage nach dem Durchschleusen des Panamakanals bei Morgengrauen warfen sich zwei japanische Selbstmordflieger auf das Schiff. Der erste segelte schräg aus einer Wolkenwand herunter, glitt durch den weichen Nebel, der auf dem sanft schaukelnden Ozean lag, streifte die Schiffsbrücke, durchbohrte das Deck und riß heulend und flammenspeiend breite Löcher in die Schiffshaut. Gierige Wassermassen sprudelten heran. Man errichtete aus Matratzen und Brettern einen Damm. Er half noch beim Abdichten und beim Wegschleppen der Opfer.

Dann war der zweite Flieger da. Die Menschenbombe sauste senkrecht aus der schweren Wolke herab, die wie eine trächtige Kuh oben hinzog, schmetterte durch das Deck und wühlte sich in den Maschinenraum ein.

Er wurde aufgehoben wie eine Puppe, um sich und über sich gedreht und flog in Flammen und schwarzem Rauch mit Maschinenteilen, Sprengstücken, Holzfragmenten, mit Leichen, Verwundeten und abgerissenen Gliedern. Nichts hatte Bewußtsein in dem heißen Wirbel.

Der Kreuzer brannte aus. Die überlebende Mannschaft mit einer Hilfskolonne von einem Nachbarschiff rettete alles, was noch Lebenszeichen gab, auf einen anderen Kreuzer hinüber. Ihn fand man entfernt von einer Explosionsstelle auf einer dunklen Eisentreppe, die er hinuntergekollert war.

Das Wasser gurgelte friedlich und einschläfernd um die Schiffe, die sich weiter östlich bewegten. Die trächtige Kuh oben schleppte sich schwerfällig fort. Sie hatte einen langen Weg hinter sich und einen noch längeren vor.

Im Bauch des Kreuzers, im Operationsraum, brannten die starken elektrischen Lampen. Auf den Gängen, im Vorraum, stauten sich die Bahren mit den Halbverbrannten, Verstümmelten; junge Wesen, die noch atmeten, aber nicht mehr das Ansehen von Menschen besaßen. Die eilige heiße Fahrt in die Luft hatte ihnen das genommen.

Sein linkes Bein war nicht vorhanden. Man trug die Knochen- und Fleischreste ab, entfernte Holz- und Metallstücke aus den Armen und Schultern, säuberte die klaffende Fleischwunde am Rücken. Man konnte das mit einem Minimum an Narkose; der Schock machte ihn fast empfindungslos. Eine Bluttransfusion vor dem Eingriff, eine Transfusion während der Arbeit, dann noch die anderen Drogen, Sulfa und Penicillin, Tetanusantitoxin hatte er schon erhalten.

Als man ihn vom Tisch nahm, war sein Puls nicht schlecht. Er atmete ruhig, flach und fühlte sich kühl an.

Nach zwei Tagen flog man alle Überlebende, die dem Risiko einer Reise noch ausgesetzt werden konnten, nach Westen über das Meer und setzte sie an der warmen pazifischen Küste Amerikas ab. Hospitäler auf den Hügeln unter Palmen nahmen sie auf. Die Schrecken konnten hier verebben.

Unten lag flach ausgebreitet eine große Stadt. Ihre Häuser kletterten die Hügel herauf. Blühende bunte Gärten umgaben prächtige Villen, Garagen und blaue Schwimmbassins. Durch die gepflegten Alleen fuhren im Strom unhörbar Autos. Es gab weite Geschäftsstraßen, durch die Autobusse und Elektrische sausten; Stühle und Bänke voller Menschen auf grünen Parkplätzen. Frauen überschritten den Damm und betrachteten glänzende Schaufenster mit Kostümen, Schuhen, Hüten, Schmuck. Es war heiß. Man löffelte Eiscreme in den Drugstores und warf einen Penny in den Musikautomaten auf dem Tisch; die leise, summende Jazzmusik.

Er reagierte auf keine Frage. Er war wie diese Menschen auf der Straße, ein zwanzigjähriger Mann, vor Wochen auf Urlaub durch eine große fremde Stadt, London, spaziert, hatte sich an der Ecke eine Zeitung gekauft und im Gehen, die Zigarette im Mund, das Neueste vom Kriegsschauplatz zur Kenntnis genommen. Er hatte seinen Militärwagen gelenkt und vor einem Geschäft gehalten, wo er sich für sein Zivil, nach dem Krieg, Schlipse und Handschuhe kaufte. Er vergaß auch die Blumen für die Mutter nicht, für seine junge, elegante Mutter, stark duftende, tiefrote Nelken.

Sein blaßgelbes Gesicht zeigte keine Spur eines geistigen Lebens; es war faltenlos glatt wie das eines Säuglings. Es rötete sich, wenn das Fieber stieg, seine Augen glitzerten; kein Laut, kein Stöhnen aus dem trockenen Mund.

Dann war es soweit, daß man ihn mit einer Gruppe anderer an die Ostküste transportieren konnte, in einem der endlosen Lazarettzüge, nach Boston, wo sie das englische Hospitalschiff erwartete, das sie in die europäische Heimat zurücktrug.

Es gab nun schon keinen Krieg in Europa mehr. Diesen Krieg hatte er von Anfang an mitgemacht, bei der Abwehr des Blitzbombardements, im Signalkorps, bei der Vorbereitung der Invasion des Festlandes. Er nahm teil am Kampf in der Normandie, am Vormarsch durch Frankreich und Belgien. Er wurde auf eigenen Wunsch nach dem Fernen Osten abkommandiert, als man sich zum Sturm auf Japan rüstete.

Nichts war auf dem atlantischen Ozean mehr zu fürchten. Es war Sommer geworden. Ein glänzender Tag folgte dem andern. Das große Schiff, das ihn heimwärts trug, schaukelte leicht. Friedlich hob und senkte sich der mächtige schwarze Eisenkörper.

Die Horizontallinie schnellte auf, senkte sich. Man wurde in die Höhe getragen, glitt in die Tiefe. Im Schiff surrten die Maschinen. Man lag in Reihen nebeneinander auf dem Deck, gegen den Wind geschützt.

Es war am Nachmittag eines ungewöhnlich stillen Tages, als sich von einem der Betten auf Deck ein durchdringend schriller Schrei erhob, ein Schrei, wie ihn jemand ausstößt, der den Mord auf sich zukommen sieht. Der Schrei, der sich überschlug, ging in ein langes helles Kreischen über. Er alarmierte das Deck. Die Kranken riefen durcheinander nach Schwestern und Pflegern. Man lief von allen Seiten herbei.

Der Amputierte Edward Allison keuchte aus seinem Bett, blaurot, als wenn er erstickte, zerrte an seinen Decken und hatte sich einen Teil seiner Verbände abgerissen. Er stieß mit seinem gesunden Bein wuchtig gegen das Fußbrett und schleuderte seinen Körper von rechts nach links, von links nach rechts, im Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, dem er sich entziehen wollte. Namenlose Angst lag auf seinem Gesicht. Seine Augäpfel waren bis zur Weiße entblößt. Seine Lippen zitterten, seine Zähne klapperten, Schweißtropfen auf der Stirne.

Den Schwestern und Ärzten, die ihn festhielten, antwortete er nicht. Der Kampf setzte mit neuer Stärke ein. Er kreischte den Feind in einer unbekannten Sprache an. Das Entsetzen steigerte sich. Während man mit ihm rang, gab man ihm eine Spritze. Man trug ihn rasch von Deck, mit Rücksicht auf die andern: die meisten hier hatten Furchtbares erfahren, viele zitterten schon, die Krise konnte sich wie ein Lauffeuer über das ganze Schiff verbreiten.

Er blieb unten still. Seine Augen bewegten sich und verfolgten alles, was um ihn vorging.

Als man sich Europa näherte und er wieder auf Deck lag, zeigte man ihm die ersten Möwen und machte ihn auf die Unruhe an Bord aufmerksam. Man fuhr an Inseln vorbei. Kleine Schiffe ließen sich sehen. Und plötzlich nach einer Mahlzeit, die er sich ohne Sperren hatte einlöffeln lassen, fand man ihn verändert, mit großen, trüb fragenden Augen. Und siehe da, er bewegte die Lippen.

Eine Schwester näherte sich. Er flüsterte etwas. Sie beugte sich über ihn. Er flüsterte: »Was ist? Wo bin ich?«

»Auf dem Schiff. Wir sind bald zuhause. Man sieht schon Land.«

Er starrte sie an: »Welches Land?«

»England, Mister Allison.«

»Wer ist Mister Allison?«

Sie berührte seine Schulter: »Sie. Der hier, ja. Sie sind Mister Edward Allison. Kommen Sie, legen Sie sich richtig.«

»Wer ist Edward Allison?«

»Da sehen Sie die dunkle Linie. Wir sind angelangt. In fünf Stunden gehen wir an Land.«

Und als sie freudig nach dem Arzt lief, um ihm den Umschwung im Verhalten ihres Patienten zu berichten, und mit dem Arzt zurückkam, hatte der sich im Bett gestreckt und lag wieder still und starr, wieder in den Abgrund gerutscht, mit dem leeren, glatten Gesicht eines Säuglings, wie ein Naturgegenstand, ein Baumstamm, die Oberfläche eines Teichs.

 

Ein weißes Klinikzimmer nahm ihn auf, europäischer Boden, nicht der ersehnte des wunderreichen Asiens. Man benachrichtigte seine Familie.

Frau Alice, die Mutter, hatte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht. Sie konnte jung und mädchenhaft hold aussehen. Ihre Augen blickten offen, tief und eindringend. Wenn sie ihre Lippen nicht zusammenkniff, wie sie öfters tat, wodurch ihr Gesicht einen scharfen Ausdruck bekam, hatte sie einen weichen aufgeworfenen Mund. Sie war schlank, straff und leicht und bewegte sich langsam. Auf die Nachricht von seiner Verstümmelung hatte sie sich wochenlang eingeschlossen und machte einen apathischen Eindruck, wenn sie sich zeigte. Jetzt schwang sie das Telegramm, verkündete die Neuigkeit und weinte und lachte durcheinander. Sie fing am selben Tage an das Haus für seinen Empfang bereitzumachen, sein Zimmer zu schmücken, – und immer wieder auf einen Stuhl zu sinken und vor sich hin zu weinen. Bald erfuhr man, Edward werde in das nahe Sanatorium überführt, dessen Leiter im Allison-Haus aus und ein ging. Frau Alice saß in ihrem Zimmer und wartete, wie gesegnet.

Kathleen, die Tochter, drei Jahre jünger als Edward, ein ernstes, nüchternes Wesen, die den Krieg bei einem Automobilkorps mitgemacht hatte, beobachtete die Mutter und fragte sie aus. Sie wunderte sich über den Eindruck, den die Neuigkeiten auf die Mutter machten. Sie fand die Mutter lächerlich. Und nun fing Alice an, sich schönzumachen, Kathleen sah, daß sie eine junge interessante Mutter hatte, ein anderer...

Erscheint lt. Verlag 21.1.2016
Reihe/Serie Alfred Döblin, Werke in zehn Bänden
Nachwort Christina Althen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angst • Anspruchsvolle Literatur • Edward Allison • Elternhaus • Gewalt • Klassik • Krieg • Mutter • Mütter • Roman • Sohn • Söhne • USA • Vater • Väter • Verzweiflung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-403301-3 / 3104033013
ISBN-13 978-3-10-403301-3 / 9783104033013
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