Die Seiten der Welt (eBook)
592 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402949-8 (ISBN)
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
›Nachtland‹ begeistert durch seine hochspannende Handlung und den fantastischen Kosmos, den der Autor geschaffen hat
Wer nicht an die Magie von Büchern glaubt, hat dieses Buch noch nicht gelesen.
Erneut hat es Kai Meyer geschafft, den Leser auf eine packende Reise durch die Welt der Bibliomantik mitzunehmen.
Das Fantasy-Ideen-Gewitter geht weiter! Und es prasselt wieder eine tolle Geschichte auf den Leser herab. Band 2 knüpft nahtlos an die Qualität des ersten an.
Ein richtig ›buchiges‹ und phantastisches Abenteuer – und schön sind beide Bücher auch noch!
Der zweite Teil von Kai Meyers ›Die Seiten der Welt. Nachtland‹ […] sprüht schon wie Band 1 vor fantastischen Einfällen
Ganz klar, dieses Buch gehört zu den besten des Jahres 2015!
Abenteuer und Phantasie auf jeder Seite!
Erster Teil Die Alexandrinische Flamme
1
Schon seit Wochen roch Furia nach Büchern: Sie war auf dem besten Weg, eine erstklassige Bibliomantin zu werden.
Ihre sommersprossige Haut duftete nach Papier und Buchbinderleim, ihr langes blondes Haar nach Druckerschwärze. Sie hatte diesen Geruch geliebt, seit sie ein Kind gewesen war, aufgewachsen in Salons und Sälen voller Bücher. Man hätte meinen können, sie hätte den Duft ihrer Umgebung angenommen. Stattdessen aber ging er von ihrem Körper aus, so als wäre sie selbst zu einem Buch geworden.
Sogar jetzt, im Freien, konnte sie ihn riechen.
Sie kauerte an der niedrigen Ummauerung eines Flachdachs, hoch über den engen Gassen von Libropolis. Zahllose Rauchsäulen standen am grauen Himmel über der Stadt der verschwundenen Buchläden, schienen wie Kletterpflanzen in den Ziegelschloten der Häuser zu wurzeln. Vor Furia lag ein dreigeschossiger Abgrund. Exlibri aus aller Herren Bücher drängten sich dort unten über den Schwarzmarkt des Ghettos.
»Bist du sicher, dass du das hinbekommst?«, fragte Isis Nimmernis. Die ehemalige Agentin der Adamitischen Akademie kniete neben Furia und spähte hinab in die Gasse.
»Summerbelle hat mich gut trainiert.«
»Summerbelle«, sagte Isis geringschätzig, »mag eine begabte Bibliomantin sein. Aber das hier wird womöglich schlimmer als alles, was sie bei den Bardenbrüdern erlebt hat.«
»Sie behauptet was anderes.«
»Sie gibt nur an.«
Furia warf Isis einen Seitenblick zu. »Wirklich, ich schaff’ das schon.«
Isis verzog einen Mundwinkel, aber ihre Mimik wirkte ebenso erschöpft wie alle ihre Bewegungen in den letzten Stunden. Sie hatte neue Fältchen an den Augenwinkeln: eines für jeden der sechs Monate, die seit ihrem Kampf mit der Umgarnten vergangen waren. Ihr helles Haar war straff zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Härchen auf ihren Unterarmen fast durchsichtig. Sie war eine schöne Frau Mitte dreißig, aber die Härte in ihren Zügen hatte sie vorzeitig altern lassen, erst recht, seit sie die Seiten gewechselt und sich dem Widerstand gegen die Akademie angeschlossen hatte.
Auch jetzt lag wieder Sorge in ihrem Blick. Offenbar kreisten ihre Gedanken um das, was sich unten in der Gasse tat. Oder, besser, gerade nicht tat.
»Es hätte längst losgehen müssen«, murmelte sie. »Finnian ist zu spät dran.«
»Er kann nichts unternehmen, solange die Buchegel nicht schlüpfen«, entgegnete Furia mit gerunzelter Stirn. Sie hatte das Gefühl, Finnian in Schutz nehmen zu müssen, nach allem, was er während der letzten drei Monate in Kauf genommen hatte.
Hirudo librorum, der gemeine Buchegel, war ein gefräßiger Verwandter des Buchwurms vermis librorum. Gnade der Bibliothek, die er als Mahlzeit erkor. Vor Wochen hatte Finnian mehrere tausend Eier in dem Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite verteilt. Heute war der Tag, an dem die Buchegel schlüpfen würden. Der eintägige Lebenszyklus der winzigen Parasiten ließ sich auf die Minute genau berechnen, vorausgesetzt, man kannte den exakten Zeitpunkt, an dem ihre Eier gelegt worden waren. Dahingehend hatten Furia und Finnian sich auf die Angaben des gierigen kleinen Mannes verlassen müssen, der die Egel in einem der tieferen Refugien züchtete. Er hatte keine Fragen gestellt, lediglich seine üppige Bezahlung eingestrichen und war im Gedränge des Basars untergetaucht, auf dem die Transaktion stattgefunden hatte.
Wären seine Informationen korrekt gewesen, hätte hirudo librorum vor neun Minuten schlüpfen müssen. Alles war vorbereitet, jeder auf seinem Posten, um das bevorstehende Chaos auszunutzen. Nur dass das Chaos nicht ausbrechen wollte.
Isis ließ durch keine Regung erkennen, ob ihr Zweifel an der Mission kamen. Was daran liegen mochte, dass die Erfolgschancen von vornherein bescheiden waren. Furia wusste so gut wie sie, dass die Sache böse enden konnte, noch ehe sie begonnen hatte. Das war ihnen allen von Anfang an klar gewesen, Furia und Isis ebenso wie Cat und Summerbelle. Und natürlich Finnian, der das größte Risiko trug.
Über dem Gassengewirr des Ghettos hing wabernder Lärm. Zahllose Stimmen vermischten sich mit dem Scharren der Schritte auf dem Pflaster, dem Schlagen von Türen und Fenstern, den Fahrradklingeln und klappernden Pferdehufen. Im Ghetto der Exlibri fuhren nur wenige motorisierte Gefährte, dann und wann ein Moped, noch seltener ein Transporter. Schob sich doch mal einer durch die dichtbevölkerten Straßen, dann war es ein dreirädriger Piaggio, gerade schmal genug, um sich in den engen Schneisen nicht zu verkeilen.
In der Gasse unterhalb des Beobachtungspostens, den Furia und Isis bezogen hatten, verteidigten fliegende Händler unerbittlich ihre Plätze. Auf dem Schwarzmarkt gab es alles, was sonst nur selten den Weg ins Ghetto fand. Viele Exlibri waren bereit, ihren kargen Monatslohn für Parfüm und Kosmetik, Modeschmuck und Zigaretten auszugeben. Besonders umlagert waren die Verkäufer von alten Videokassetten mit Literaturverfilmungen. Exlibri liebten Filme, die auf Romanen basierten, aus denen sie selbst einst gefallen waren. Nichts amüsierte sie mehr als ein Schauspieler, der jemanden spielte, den sie wiedererkannten. Da digitale Medien in den Refugien nicht funktionierten – hier gab es weder Computer noch Speicherdiscs –, behalf man sich mit antiken Röhrenfernsehern und mechanischen Videorekordern der ersten Generation. Besaß jemand beides, scharten sich ganze Nachbarschaften um den Bildschirm und schauten sich unter schallendem Gelächter staubtrockene Buchadaptionen an.
Isis blickte ungeduldig auf ihre Armbanduhr, dann zum verhangenen Himmel. »Das ist nicht gut.« Buchegel schlüpften nur bei Tageslicht, und es war bereits gefährlich düster geworden.
Sie hatten die dunklen Kapuzenmäntel über sich gebreitet, um sich vor Blicken aus der Luft zu schützen. Auf der anderen Seite der Gasse erhob sich ein verschachtelter Komplex aus Gebäuden. Anbauten waren in alle Richtungen gewuchert: solide Ziegelklötze, Bretterschuppen auf den Dächern, sogar Türme mit Schießscharten. Marduk, der gefährlichste Unterweltboss des Ghettos, hatte den ganzen Block in eine Festung verwandelt, dann einen zweiten und schließlich einen dritten Straßenzug in seinen Besitz gebracht. Außerhalb des Ghettos wäre es undenkbar gewesen, die pittoreske Architektur von Libropolis durch Neubauten zu zerstören – die ganze Stadt ähnelte einem englischen Dorf voller Sprossenfenster und Erker –, doch darum scherte Marduk sich nicht: Er hatte weite Teile der hinteren Blocks niederreißen und Hallen aus roten Ziegelsteinen errichten lassen, mitten im Zentrum seines Reiches. Furia konnte von hier aus nur die Dächer sehen, eines hinter dem anderen, aneinandergereiht wie gewaltige Containerschiffe in einem Hafen. Und ausgerechnet dort lag ihr Ziel, in der letzten der drei großen Hallen. Der einzige Weg dorthin führte quer durch Marduks Hauptquartier.
»Hol schon mal dein Seelenbuch raus«, sagte Isis.
Furia schob die Hand in eine Tasche ihrer Cargohose und ertastete das Schnabelbuch. Sie spürte, dass es zitterte. »Was ist los?«, fragte sie leise, als sie es unter dem Mantel hervorzog.
Der Schnabel, der sonst an seinem Rüsselhals vorwitzig aus dem Lederdeckel ragte, hatte sich zurückgezogen. Zwischen knittrigen Hautringen, zusammengeschoben wie eine Ziehharmonika, schaute nur die gelbe Spitze hervor. Man hätte sie für einen skurrilen Buchschmuck halten können – oder einen umgedrehten Handtuchhalter –, ohne je auf die Idee zu kommen, dass der kleine rote Band ein Eigenleben besaß.
Das Buch erbebte von neuem, bekam aber keinen Ton heraus.
»Es ist wegen Marduk«, vermutete Isis. »Er veranstaltet oft Schnabelbuchkämpfe, um seine Leute bei Laune zu halten. Tagelange Turniere, bei denen Hunderte Bücher zerfleddert werden.« Sie warf Furias Seelenbuch einen kurzen Blick zu. »Du hast von ihm gehört, nicht wahr?«
Der Schnabel zuckte auf und ab, die Andeutung eines Nickens.
»Ach je«, entfuhr es Furia mitfühlend. Sie streichelte ihr Seelenbuch und wollte es behutsam öffnen, aber die Seiten lösten sich nicht voneinander, das Buch war wie zugeklebt. »Was machst du denn? Ich bin doch bei dir.« Um ihre bibliomantischen Kräfte freizusetzen, musste sie ein Seitenherz spalten, und das ging nur, wenn sie ihr Seelenbuch aufschlug.
»… akkke …«, krächzte das Buch.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Furia einschmeichelnd. »Ohne dich bin ich aufgeschmissen.«
»Iiiih … auube … akkkke …«
»Bitte?«
»Ich glaube … hab eine … Panikattacke!«
Isis beäugte das verkrampfte Buch mit einem Grinsen. »Sieht aus wie ein Problem mit dem Schließmuskel.«
Der Schnabel schob sich einen Fingerbreit vor. Obgleich er keine Augen besaß, brachte er es fertig, vorwurfsvoll auszusehen. »Ich und die meinen sind von sensibler Wesensart«, sagte er wehklagend. »Unser Dasein ist ein Tal der Tränen, ein Leidensweg der Entbehrungen. Gerade du müsstest die Gefühlswelt eines Buches verstehen, Isis Nimmernis!«
Die knurrte nur etwas, das Furia nicht verstand, und konzentrierte sich wieder auf die andere Straßenseite.
Eine Sekunde lang war das Buch abgelenkt, und Furia nutzte die Gunst des Augenblicks. Mit einem Ruck schlug sie es auf. Dabei prallte der Schnabel auf die Dachziegel.
»Sag ich’s nicht?«, rief das Buch mit einem Seufzen, als laste alles Elend der Welt auf seinem Rücken. Leben und Zeiten des...
Erscheint lt. Verlag | 25.6.2015 |
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Reihe/Serie | Die Seiten der Welt | Die Seiten der Welt |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Akademie • Bestseller • Bibliomanten • Bibliomantik • Bibliomantin • Bibliothek • Biliomantin • Brief • Bruder • Buch • Bücher • Buchladen • England • Familie • Fantasy • Furia • Gefahr • Geheimnis • Grenze • Jugend • Kai Meyer • Kampf • Katakombe • Krieg • Macht • Magie • Nacht • Origami • Phantastik • Refugium • Residenz • Tod • Tyrannei • Welt • Wort • zweites Buch |
ISBN-10 | 3-10-402949-0 / 3104029490 |
ISBN-13 | 978-3-10-402949-8 / 9783104029498 |
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