Die Macht der Steine (eBook)

Roman

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
Heyne (Verlag)
978-3-641-17535-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Macht der Steine -  Greg Bear
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Die wandernden Städte
Vor Jahrtausenden bauten Christen, Moslems und Juden gewaltige selbsterhaltende Städte auf dem Planeten Gott-der-Schlachtenlenker, die ständig in Bewegung sind. Sie sollten das Leben der Gläubigen schützen und erhalten - aber auch die Reinheit von Glaube und Lehre, denn jeder, der gegen die Gebote verstößt, wird ausgesetzt. Da jeder Mensch ein potenzieller Sünder ist, sind diese Kolosse längst menschenleer und dem Verfall preisgegeben - und zu einer Bedrohung für die Bewohner dieser Welt geworden ...

Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern.

Es war in der Mitte des Monats Tammuz; Dürre plagte das Land. Das Dorf Akkabar war in der Nähe des Zusammenflusses zweier Wasserläufe gelegen, die normalerweise schiffbar waren, in einer ansonsten öden und eintönigen Weite, wo einst ein einziger breiter Strom sich dem Meer entgegengewälzt hatte. Die Flüsse waren jetzt völlig ausgetrocknet. Einige Dörfler glaubten, dass der Grundwasserspiegel unter die Bohrtiefe der meisten Brunnen der Gemeinde gesunken war; andere hingegen interpretierten die Trockenheit als Strafe Allahs für eine Vielzahl von Sünden. Doch an wen konnte man seine Gebete um Vergebung noch richten? Sie hatten die Erde vor über tausend Jahren verlassen. Unter dem heißen blauen Himmel von Gott-der-Schlachtenlenker konnte sich niemand mehr an die Richtung erinnern, in der Mekka lag.

Die vierzigjährige Reah war eine vom Leben gebeutelte Lumpen- und Knochensammlerin. Sie hatte sich ganz bewusst dafür entschieden, dem Weg der Teufel zu folgen, der nur von Albträumen und ifrits beschritten wurde, zu denen sie vielleicht auch gehörte: ein besonders gut getarnter ifrit. Allmählich bekam sie wieder einen klaren Kopf, und sie wühlte weiter im Müll herum. All das war in den letzten zehn Jahren eingetreten, nachdem ihr Mann und ihre Tochter in einem Brand umgekommen waren.

In der Stadt fiel nur wenig Abfall an. Da stand sie nun in ihrem schwarzen Mantel, mit zum Schutz vor dem Staub und der Sonne verschleiertem Gesicht, und blickte mit schwarzen Augen auf den gestapelten Felsenschutt, verdurstetes Vieh, zerbrochene Keramik, alte, zersplitterte Kisten und eine scharrende Katze. Ihre abgetragenen Sandalen schlurften unsicher über den zusammengebackenen Dreck. Sie drehte sich um und betrachtete das Nordtor von Akkabar. Von dem, was es hier gab, konnte sie nicht mehr leben. Die Leute produzierten nicht genügend Müll.

Sie schlurfte durch die Tore der Stadt und ging zwischen schläfrigen Wachen hindurch, die zu müde waren, um sie zu treten. Sie konnte den Durst an einem der wenigen öffentlichen Wasserhähne stillen, die noch aktiv waren, aber der Hunger nagte in ihr. Mit dem letzten Rest ihres Verstandes wartete sie auf das Einsetzen der Dämmerung, zog sich auf dem vom Mondlicht beschienenen leeren Platz aus und wusch ihre einzige Kutte, bis sie ansehnlich genug wirkte, um sich als arme Witwe ausgeben zu können. Sie arrangierte die Kapuze und den Schleier so, dass ihr struppiges Haar darunter verborgen wurde. Am Rande des Marktes wartete sie auf den Morgen.

Nachdem die Händler ihre Stände aufgebaut hatten, spazierte sie zwischen den Reihen hindurch und erweckte den Anschein, die halbvollen Körbe mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu begutachten. Mit Fliegenklatschen bewaffnete Jungen beobachteten sie mit zu Schlitzen verengten Augen, als sie mal diese, mal jene verschrumpelte Frucht inspizierte. Als sie glaubte, dass die Jungen mal etwas unaufmerksam waren, schob sie eine Hand in den Ärmel und ergriff eine halbverfaulte Orange. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, war sie leer.

Sie hatte drei Früchte ergattert und hielt nach der günstigsten Fluchtroute Ausschau, als der Aufseher des Marktplatzes wie ein Dschinn aus dem Staub vor ihr auftauchte. »Wer bist du, Frau?«, fragte er. Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. »Du weißt, was es bedeutet, zu stehlen?«

Reah wandte sich ab und wollte wegschlurfen. Der Aufseher packte sie am Arm, woraufhin eine Orange aus dem Ärmel kullerte. Einer der Jungen lachte und hob die Frucht auf. »Es sind harte Zeiten«, wusste der Aufseher. »Wir müssen alle essen.« Reah schaute ihn hoffnungsvoll an. »Wer stiehlt, stiehlt das Essen aus dem Munde unserer Kinder. Ist dir das klar?« Sein Gesicht rötete sich, und der Blick schweifte in die Ferne. Eine innere Wut wallte in ihm auf, und weder Reahs demütige Haltung noch ihre ängstlichen Augen konnten ihn besänftigen.

»Dieben hackt man die Hand ab«, grummelte er. »So steht es geschrieben, billah! So hatten unsere Väter es vor langer Zeit gehalten. Aber in unserem Elend und im Exil haben wir diese Gesetze vergessen. Nun ist es an der Zeit, sich ihrer wieder zu erinnern!«

Reah schüttelte erneut den Kopf und traute sich nicht, etwas zu sagen.

»Ich habe letzte Woche hier einen Dieb steinigen lassen!«, rief der Aufseher und hob die Hand. Er schlug ihr auf den Kopf, und sie fiel in den Staub. »Brüder, hier ist eine Diebin! Eine Ausgeburt von Iblis, eine Lebensmitteldiebin!«

Die morgendlichen Einkäufer versammelten sich um sie. Reah sah kein Mitleid in ihren Augen. Sie stand auf und hob trotzig die Hände, wiegte sich hin und her und versuchte, sie mittels ihrer Kraft zu vertreiben. Sie würde ihnen helfen, sich mit einem ifrit anzulegen.

Ein Stein flog aus dem Kreis und traf sie im Rücken. Sie vergaß ihre Angst und den Hunger und rannte los. Die Menge folgte ihr wie ein einziges wildes Tier. Sie wich einem Stein aus, stieß gegen einen langsam dahinrollenden Wagen und stürzte zu Boden. Die Menge umstellte sie erneut. Sie sah die unter den Kutten nach ihr tretenden Beine und hörte Glocken. Eine Vielzahl läutender Bronzeglocken umgab sie, die wie Insekten summten. In der Menge erkannte sie einen Mann mit einem strengen Gesicht, einen Muezzin vielleicht, der aber noch Teil der Masse war, mit gnadenlosen glasigen Augen, mit leicht nach oben gerichtetem Kopf, gen Himmel schauend, einen Stein in der Hand. Er hob die Hand.

Sie erhob sich und klammerte sich an ihn. »Ich stelle mich unter Euren Schutz«, sagte sie mit rauer Stimme. »Niemand darf mir das verwehren.«

Er schaute auf sie herab, und der Pöbel hielt inne. Sein Blick wurde klar, und er murmelte Flüche vor sich hin.

»Ullah yáffuk'ny minch!«, rief der starke Mann. Nur ein Muezzin oder ein Gelehrter beherrschte die alte Sprache so gut.

»Es ist Allahs Wille«, flüsterte sie, wobei ihre Augen ihn in ihren Bann zogen. »Du kannst dich nicht weigern.«

Der Mann schüttelte den Kopf und hielt die Menge zurück mit erhobener Hand. So verlangte es der Brauch – er konnte jemanden, der bei ihm Schutz suchte, nicht zurückweisen. Sie stand jetzt unter seinem Schutz, und sein Glaube verpflichtete ihn dazu, Schaden von ihr zu wenden, zumindest fürs erste. Die Menge umkreiste sie unruhig. Reah blickte über seine Schulter auf die Steine und Hände und kalten Gesichter. »Wölfe«, sagte sie. »Ich werde vor Wölfen davonfliegen.«

»Halt«, sagte der Mann. »Sie ist nicht bei Verstand. Es ist nicht recht, eine Kranke zu steinigen …«

»Auch eine Kranke muss das Gesetz respektieren«, wandte der Aufseher ein. Sie schaute zum Gesicht des starken Mannes auf.

»Er hat recht«, konzedierte dieser. »Du musst die Stadt verlassen, oder sie werden dich steinigen.«

Sie nickte. Die nächste Stunde hatte keinen großen Erinnerungswert für sie. Nur die Schöpfkelle mit Wasser, die Aushändigung eines Säckchens mit trockenem Brot und ein paar Feigen, die Tasse Leban aus dem fast leeren Krug der Frau des Muezzins. Er gab ihr einen abgeschabten Wasserbeutel und eskortierte sie zum Südtor, wobei er ihr die Richtung wies. Sie musste Akkabar umgehen und sich dann nördlich halten, aber nicht vor der Abenddämmerung. Ihr Leben in Akkabar war vorbei. Er sprach ein Gebet für sie und sagte ihr, dass sie sich in den Schatten eines leeren Anbaus am Tor setzen solle.

»In der Nacht«, sagte er. »Wenn es sich abgekühlt hat. Shalaym alaycham.« Während des Gebets und der Verabschiedung verfiel er in den umgangssprachlicheren Ton der Politiker der Stadt. Er händigte ihr den Wasserschlauch aus und zog sich dann durch das Tor zurück.

Reah schaute ständig auf die flache Flussebene, bis ihr die Augen tränten. Sie schlief eine Weile und erwachte vom entfernten Summen nachtaktiver jagender Insekten. Die Dunkelheit brach herein. Sie erhob sich vorsichtig, klopfte den Staub aus dem Umhang, begann die Wanderung um die Mauern der Stadt und schlug schließlich eine nördliche Richtung ein.

Im Norden lebten die Habiru, wohlhabender als die Moslems, aber ebenfalls verflucht. Bei ihnen könnte sie vielleicht Essen und Unterkunft erhalten. Während sie marschierte, fuhr sie mit den Fingern an den Lehmkugeln eines Rosenkranzes entlang und sprach unbeholfene Gebete, von Herzen kommende Danksagungen für erstklassige Lumpen, saubere Knochen, Metallstücke, Glassplitter und genießbare Nahrung.

Keine lebende Stadt hatte jemals das Schwemmland betreten. Vor tausend Jahren, vor dem Exil, war der alte Fluss durch das ganze Land geströmt. In der Erinnerung der Städte tat er das auch heute noch. Sie hielten sich auf der anderen Seite der Berge oder im sechs Kilometer entfernten Vorgebirge. Reah beschirmte die Augen und machte direkt im Norden die Silhouetten von Türmen aus. In einer lebenden Stadt hatte sie nichts zu suchen.

Als junges Mädchen war sie einmal in die Nähe einer Stadt gekommen, als sie mit ihren Eltern eine Reise unternommen hatte, um mit den Habiru Tauschgeschäfte abzuwickeln. Das war noch vor der Zeit gewesen, als die Handelsrestriktionen zwischen Christen, Juden und den paar Muslimgemeinden verschärft wurden. Die Stadt war prächtig gewesen, mit den Türmen, die in der Nacht glühten und summten wie ein magischer grüner, voller Insekten hängender Baum. Sie hatten im Schein zweier Vollmonde gerastet und sich ein als Picknick gestaltetes Abendessen mit den Familien der Geschäftspartner ihres Vaters geteilt. Eine der alten Frauen, die für drei Generationen als Geschichtenerzählerin fungierte, hatte ihnen zuerst von der Erschaffung der Monde berichtet, wie abgerichtete Vögel, so groß wie ganze Berge, Ladungen von Lehmziegeln in die Lüfte befördert...

Erscheint lt. Verlag 30.7.2015
Übersetzer Martin Gilbert
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Strength of Stones
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte eBooks • Future History • Greg Bear • Religion • Stadt
ISBN-10 3-641-17535-6 / 3641175356
ISBN-13 978-3-641-17535-1 / 9783641175351
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