Necroville (eBook)

Roman

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
Heyne (Verlag)
978-3-641-17309-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Necroville -  Ian McDonald
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Willkommen in Necroville!
Im 21. Jahrhundert hat die Nanotechnologie die Welt verändert: Die Gesetze von Geburt und Tod sind außer Kraft gesetzt. Wer stirbt, kann problemlos wiedererweckt werden. Inzwischen machen die Wiedererweckten ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Aber sie werden zu Stigmatisierten, zu Bewohnern gigantischer Städte, den Necrovilles, in denen sie unter ihresgleichen leben können. Sie entwickeln ihre ganz eigene, absolut fremdartige Kultur - mit furchtbaren Konsequenzen ...

Ian McDonald, 1960 in Manchester geboren, ist langjähriger Fernsehredakteur und Schriftsteller. Mit 22 veröffentlichte er seine erste Story, seit 1987 lebt er hauptberuflich vom Schreiben. Viele seiner Science-Fiction- und Fantasy-Romane sind mit Genre-Preisen wie dem Hugo, dem Locus und dem Nebula Award ausgezeichnet. Ian McDonald lebt in Nordirland.

1. NOVEMBER
ABEND, 21 UHR 30


Über der Terrakottalandschaft außerhalb des Flug- und Raumfahrthafens hatte der Aviator die zwei parallelen Reifenspuren im Staub ausfindig gemacht und war, ganz wie ein Zeiger der Richtung des planetaren Magnetkerns, der Straße gefolgt, die nach Westen verlief. Durch das Kabinenfenster hatte Trinidad beobachtet, wie die Reifenabdrücke der Straße, die Straße der Autobahn, die Autobahn der Schnellverkehrsstraße wichen und nach und nach im Umkreis die unvermeidliche, buntscheckige, grell aufgemotzte Schar der Nutznießer auftauchte: Tankstellen, billige Fress-Schuppen, Teppichhäuser und Diskounter, Motels Zum Gebrochenen Herzen. Dort lag eine Ortschaft: ein fein ordentlicher, sorgsam bewässerter Raster von Häuschen mit Garten; Swimmingpools glitzerten, Tennisplätze boten ihre roten Rechtecke dar, und Wupp!, schon war das Kaff unter dem Schatten des Rotor-Transmissionsgehäuses entschwunden. Der Aviator überquerte in ständigem Auf und Ab die Anhöhen, streifte über den Windkraftwerken auf den Höhenkuppen fast die Spitzen der Windräder, schwirrte hinab in die Täler, hielt sich an die ununterbrochene Piste der Autobahn, die die ausgedehnten agrikulturellen Flächen der Obstplantagen durchschnitt, flog so niedrig, dass die Wipfel der TQ-Gentech-Bäume hin und her schwankten und die Totlandarbeiter aufblickten, wenn ihnen sein Schatten unvermutet den fotochromatisch versengten Rücken kühlte.

Vom Töten in Hochstimmung, plünderte die Jagdgesellschaft die Bordbar, krallte sich Trinkbares, Rauchbares und sonstiges Einverleibbares. Man lachte viel, die Stimmen tönten laut. Bellisario flirtete offen mit Vaya Montez. Bald werden sich, dachte Trinidad, die schönen Schenkel für ihn spreizen. Der Tod war das stärkste Aphrodisiakum. Schnell steuerte der Aviator dem großen Bacchanal entgegen, der Allertotennacht. Weshalb sollte das Fleisch die Hügel verlassen und durch die beleuchteten Tore der Totenstadt drängen, wenn nicht, um mit dem Verspritzen milchiger Samenflüs sigkeit, dem Zucken von Eierstöcken sein großes ICH BIN zu erklären?

Vorspiel im Horizontalflug. Tief in ihren Herzklappen erleichterte es Trinidad, dass die Episode mit Bellisario ihren Abschluss nahm. Es befreite sie vom Erfordernis der Vortäuschereien, sie konnte ihre hoffnungsvolle Suche nach jemandem fortsetzen, bei dem sie mehr als irgendetwas fand.

Vielleicht erwies es sich, sinnierte sie, während der Totpilot den Aviator über die letzte Anhöhe und hinunter in die feuchte Küstenregion lenkte, dass sie es in Wirklichkeit gar nicht benötigte; dass das Etwas, das kein Irgendetwas war, sich in ihr selbst finden ließ, nicht im Spiegel fremder Leben.

 

Am Ende der westwärtigen Straße erreichte man – unter anderem – den von Reifengummi verschmierten Beton eines vorstädtischen Landefelds, auf das der Aviator sich senkte, als wäre er ein auf eine Stecknadel gespießter Käfer, das Fahrgestell wie Beine ausgestreckt, die Flügel zur Präsentation ihrer diffizilen Strukturen nach den Seiten gebreitet. Das Pfeifen der Turbinen verröchelte. Morphisches Tektoplastik knackte, kühlte ab. Die Kabinentür klappte auf. Als Trinidad das Landefeld betrat, übertrug sich wieder die charakteristische Ausdünstung der Stadt auf sie, ihrer Stadt: das süßliche Pheromon einer HyperCity mit zwanzigundsoundsoviel Millionen lebenden und toten Seelen. Überwiegend der Mief komplizierter Kohlenwasserstoffe. Aber auch Zypressen- und Efeuduft. Die Gerüche fremdartiger Kräuter, seit alters gebräuchlicher spanischer Gewürze. Körperwärme. Langzüngige, von Nektar schwere Blüten. An Zweigen allmählich schwellende Früchte. Zitrusgewächse und Kletterpflanzen, Bougainvillea und Rose von Jericho. Ebenso erdige Duftnoten: Staub, Schmutz, durch die Sonne erhitzter Asphalt. Öle und Essenzen. Kräftiges Odeur von Kot und Verderbtheit. Eine Mixtur aus Ozon und Neon. Holzfeuer-Qualm, Thymian und das nichtmenschliche Aroma der Toten. Laser und Stahl. Alles verstrichen über eine Grundlage: der feine, allgegenwärtige Geruch des fernen, tiefen, kühlen Ozeans.

Sula chauffierte Trinidad heim. Der Gerüchemischmasch kroch ins Auto, während es durch die einst gut situierten, inzwischen ruinierten favelas der noncontratistos fuhr. Die Namen von Vierteln wie Pomona, Montclair und Charter Oak hatten heute den leicht schrillen Klang der Verzweiflung, ergänzten das schwindelerregende Gemisch der Gerüche um den Gestank des Verfalls und den Bratenduft von auf Holzkohlengrill geröstetem Hund. Durch die seguridado-Kontrollposten ging es in die von Blätterdächern überschatteten Kurven und Serpentinen der Abhänge La Crescentas. Hier herrschten andere Geruchsschwerpunkte vor: dumpfiger Dunst wucherfreudigen Grüns, Modrigkeit gefallenen Laubs und der Duft tropischer Früchte, deren Gewicht die vom Wagen unterquerten Äste beugten.

Moschusbrodem der Stadt. Necroville-Parfüm. Der Hauch all dessen haftete auf Trinidads Haut. Sie versuchte ihn abzuduschen, doch infolge der Hitze des Tages verschwitzte sie ihn aus sämtlichen Poren. Er tränkte gleich wieder die nach der Jagdkleidung angezogenen, frischen Sachen. In der Kühle ihrer La-Crescenta-residencia erlangte Trinidad die Offenbarung, sie könne des Geruchs der Furcht erst ledig werden, wenn sie sie ihrer Heimaterde zurückgab, der Stätte, wo jedes Etwas sich in nichts verwandelte, und sie selbst auf diese Weise eine Wiedergeburt erlebte.

Die Terrakotta-Heiligen der Ucurombé-Hagiografie, der bei den Kindern des Privilegs als modisches Attribut beliebten Remix-Religion aus brasilianischem Animismus und Postkatholizismus, schauten mit ihren Mummenschanzgesichtern unbewegt aus ihren Schreinen zwischen den Wurzeln der großen Pagodenfeige zu – des Baums der Erleuchtung –, während Trinidad ihr silbernes Taschenfläschchen entstöpselte und ihnen zum Dank ein großzügiges Trankopfer darbrachte. Zu ihren Füßen lagen die dünnen Knöchlein und zerfetzten Fellchen der Kleintiere, die Trinidad, zunächst knauserig, ihnen geopfert hatte, damit sie ihr enthüllten, wie sie das Irgendetwas in Liebe umschmieden könnte.

Jetzt hatten sie ihr eine Antwort gewährt.

»Das kann ich nicht«, jammerte Trinidad. »Nicht dort …«

Keine andere Möglichkeit, sagten die stieren Idole.

Mit Tritten kippte sie sie mitsamt ihren niedlichen Schreinen um und lief, während sie nach Sula keifte, ins Haus zurück, sich darüber im Klaren, dass sie, falls sie nun in ihrem Schwung erlahmte, immer und ewig Gefangene ihrer Furcht bliebe.

 

Vor Toten hatte sie keine Furcht; genausowenig vor Menschenmengen. Sie hatte Furcht vor Toten, wenn sie in Massen auftraten. Dann vermischten und verstärkten sich die individuellen, ohnedies sonderbaren Gerüche der Toten zu einem pheromonalen Geheul der Nichtmenschlichkeit. Trinidad empfand die Tektoplastikkarosserie des Wagens als unzulänglichen Schutz gegen das Gedränge der Auferstandenenleiber, die auf den Avenues dem weithin sichtbaren V des Necroville-Tors entgegenstrebten. Das Auto glich einer zerbrechlichen Eierschale, Trinidad einem darin zusammengekrümmten Embryo.

Große Elektro-Gelenkbusse schwenkten arrogant über die ihnen zugewiesenen Fahrspuren. Vor und hinter Trinidad schnaubten monströse Lastzüge mit drei oder vier Anhängern vor Ungeduld. PediTaxis flitzten wie picadores in der Stierkampfarena kreuz und quer durchs Gewühl, suchten Lücken, auf ihren Verdecks schwankten ihre Firmenlogos. Fahrräder und Alkoholmopeds sausten gefährlich dicht an langsam dahinschleichenden Fahrzeugkolonnen entlang. Überall spürte man das Geschiebe, Gedrängel und Geschubse der zehn Millionen Toten der Necroville, die zu den ihnen bewilligten Wohnsitzen heimkehrten, bevor das Abend-Himmelszeichen verblasste.

Trinidad konnte keinen Rückzieher mehr machen, selbst wenn sie es gewünscht hätte.

Das Glendaler Tor nach Saint John, der Necroville aller Necrovilles, wölbte sich hoch und breit über dem Gewimmel, das sich unter seinen Leuchtbalken hindurchzwängte. Mit Tesler-Waffen ausgerüstete seguridados warfen nur flüchtige Blicke auf Totensigna und Passierscheine, ehe sie den Pendlern zunickten und sie einließen. Ihre Wachsamkeit galt nicht denen, die hinein-, sondern jenen, die hinauswollten. So unabwendbar wie bei der Geburt presste das Gewoge des Zustroms Trinidad auf das strahlend-grell erhellte Tor zu. Ein Bus rollte durch den Eingang, ein Rudel PediTaxis beförderte Lebendnachtschwärmer zum Karneval. Den Lastzug vor Trinidad winkten die Wächter sofort durch, weil die aufgeladenen Container groß und deutlich, in unübersehbarem Neonglanz, mit dem Totensignum markiert waren, und dann kam sie an die Reihe.

Ein Wachmann beugte sich an ihr offenes Seitenfenster. Trinidad sah ihr Spiegelbild in seinem Datavisier. So klar konnte man ihr die innere Spannung ansehen? Zahlensalat geisterte über das gesichtslose Gesicht des Wächters, während ihre Auto Ware ihm Identifikationsdaten zuleitete. Diskret prüften Scanner und Sensoren, die den Zweck hatten, den Quicklebendigen vom Toten zu unterscheiden, sie rasch, wie man so sagte, auf Herz und Nieren.

»Fahren Sie zum Karneval?« erkundigte sich der Wächter. Trinidad nickte. Unterhalb des verspiegelten Visiers zeigte sich ein Lächeln. »Na, dann viel Vergnügen, aber trinken Sie lieber nicht zu viel. Kann sein, denen ist’s egal, wenn Sie mit dem Wagen jemanden plätten, aber denken Sie an die Rückfahrt.«

Und einen Moment später war sie durchs Tor nach Saint John gelangt, der Totenstadt: der...

Erscheint lt. Verlag 30.7.2015
Übersetzer Horst Pukallus
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Necroville
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Cyberpunk • diezukunft.de • eBooks • Ian McDonald • Irland • Nanotechnologie • Near future
ISBN-10 3-641-17309-4 / 3641173094
ISBN-13 978-3-641-17309-8 / 9783641173098
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