Annäherung (eBook)

Notizen aus 14 Ländern

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04841-6 (ISBN)
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«Wunderland - das war China für mich, als mein Vater 1960 von dort zurückkam und seine farbigen Dias zeigte: vergoldete Drachen. Fahrradarmeen. Menschen, die in drei Minuten irrwitzige Scherenschnitte herstellen oder aus einem Stück Seife und nur mit Hilfe eines Kamms ein wunderbares, feingliedriges Püppchen. Dass China nicht mehr dasselbe ist, das mein Vater vor einem halben Jahrhundert bereiste, ist mir bewusst. Dennoch erwarte ich so etwas wie einen Kulturschock, der dann auch eintritt, allerdings umgekehrt. Das Schockierende an Schanghai ist, wie wenig sich China hier vom Westen, genauer: von Amerika unterscheidet.» Ob im Baltikum, auf Kuba, in Griechenland, Ungarn oder - ein halbes Jahrhundert nach dem eigenen Vater - auf dem Weg von Nanking nach Schanghai: Eugen Ruge ist um kein klares Wort verlegen, aber immer bereit, Erwartungen mit Erfahrungen zu vertauschen. Er bereist Russland, die USA, Mexiko, zunächst auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte, im Rahmen seiner Recherchen für den noch im Entstehen begriffenen ersten Roman. Mit dem literarischen Durchbruch und dem internationalen Interesse beginnt ein neues Kapitel. Und doch bleibt der Reisende sich treu, betrachtet Menschen, Sitten, Landschaften mit unabhängiger Anteilnahme und kritischem Humor. Seine Reisen sind, was sie waren: Annäherungen. Erkundungen.

 Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» wurde er unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Seitdem erschienen die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung», die Romane «Cabo de Gata», «Follower» und zuletzt «Metropol».

 Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» wurde er unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Seitdem erschienen die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung», die Romane «Cabo de Gata», «Follower» und zuletzt «Metropol».

Russland


Juli 2005

Kommen mittags in Domodedovo an. Keine Zollkontrollen, wie befürchtet (wir haben zwei Dauerwürste dabei). Nur die Passkontrolle zäh. Die Beamten mit unbewegten Gesichtern.

Ist es wirklich dreißig Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war?

Der Flughafen: groß, hell, westlich. Der Aeroexpress nach Moskau-City kostet hundertzwanzig Rubel – dreieinhalb Euro. Ein klappriger Zug, wie es ihn auch in London oder Boston geben könnte. Neu: Menschen verkaufen im Zug Zeitungen, Erfrischungsgetränke, irgendwas.

Vierzig Minuten Fahrt. Draußen Russland. Das Land, aus dem ich komme. Vororteindrücke, nichts Überraschendes. Dreck, Baustellen, Ruinen, Unkraut. Ich lese Zeitung: Kasachstan strebt offenbar wieder eine Union mit Russland an. Wie auch Belorussland. Anscheinend schon seit langem, ich habe nur nicht davon gehört. Doch noch einmal eine Art Neuauflage der Sowjetunion?

Pawelezkij-Bahnhof. Wir treten auf die Straße hinaus: Moskau. Hohe Häuser. Matte, rötliche Farben. Die breiten Straßen. Der chaotische Verkehr. Nur der Geruch ist anders. Vor dreißig Jahren roch es nach «Russenauto». Damals waren fast ausschließlich Taxis unterwegs: billig, fast so billig wie die Straßenbahn. Das ist vorbei. Das Taxi vom Flughafen hätte vierzig Euro gekostet, wie man uns gesagt hat. Wir haben darauf verzichtet.

Mit der Straßenbahn bis zur Proletarskaja. Heißt also immer noch so. Auch die Metro heißt noch Wladimir Iljitsch Lenin. Selbst die Schaffnerin in der alten Straßenbahn scheint einer früheren Epoche zu entstammen.

Ein weißes Neubauhaus, Stroikovskaja Uliza Nummer sowieso. Die untere Etage ist komplett von den einzelnen Bewohnern vergittert worden. Skurril: Die seltsamen rostigen Eisenkästen, die verstreut zwischen den Häusern herumstehen, sind, wie sich herausstellen wird, Garagen!

Aufgang 1, Wohnung 4. Tanja empfängt uns. Tanja ist die Tochter der besten Freundin meiner Schwester, eigentlich Halbschwester, die heute in Boston lebt. Soll ich jetzt die Geschichte meiner Schwester erzählen?

Was ist das? Was schreibe ich hier? Für wen? Eigentlich sollten es ein paar Notizen werden, Gedächtnishilfen für meine Familiengeschichte. Aber jetzt denke ich plötzlich daran, dass die Reise eine Rahmenhandlung für den Roman abgeben könnte. Oder ist eine Zehn-Tages-Reise als Rahmenhandlung zu klein? Was heißt überhaupt Handlung? Ist das, was hier passiert, Handlung? Und: Werde ich, wenn ich eine authentische Reise zum Ausgangspunkt wähle, nicht unwillkürlich in eine Art Wahrheitsfindungsgeschichte hineinrutschen? Werde ich mich plötzlich an Fakten halten müssen, statt meiner Phantasie freien Lauf zu lassen?

Keine Lust auf Fakten. Keine Lust auf Wahrheitsfindungsliteratur, welche ja von der Existenz einer Wahrheit ausgeht, einer Wahrheit, die wie ein Edelmetall irgendwo in der Tiefe verborgen liegt und die man nur ans Licht zu holen braucht, um sie allen zu zeigen.

 

Tanja, so hieß es, komme gerade aus Paris. Meine Vorstellung: Nur reiche (und infolgedessen unangenehme) Russen fahren nach Paris. Bin erleichtert, dass Tanja sich als ganz normale Russin erweist. Die kleine Eigentumswohnung, in der sie irgendwie noch mit den Eltern zusammenwohnt, ist vielleicht sechzig Quadratmeter groß, drei sozialistische Neubauzimmer, eine winzige Küche.

Da sitzen wir und trinken, weil es heiß ist, Wasser aus der Leitung, das fürchterlich nach Chlor stinkt. Tanja findet das Moskauer Wasser anscheinend okay. Sie findet auch, ich sähe jung aus für mein Alter. Merkwürdig. In Deutschland sagt man mir stets das Gegenteil. Aber das russische Leben schafft offenbar andere Maßstäbe.

 

Spaziergang durch Moskau am nächsten Morgen. Die neurussischen Worte, die ich dreimal lesen muss, um zu begreifen, was da in kyrillischen Buchstaben geschrieben steht: джекпóт (Jackpot!), хит (Hit!).

Ein riesiges Plakat über der Straße: Wann fahren Sie endlich Ihren Bentley? Das ist sie – die neue Zeit.

Wir gehen zuerst zum Roten Platz. Die Kremlmauer, die ewige Flamme, die Gedenksteine für die «Heldenstädte». Ich kann nicht leugnen, dass mich das berührt, auch wenn der Kreml ein Ort der Macht ist, auch wenn es mich befremdet, wie stark diese Nation ihr Selbstbewusstsein noch immer aus jenem gewonnenen Krieg bezieht, dem sie den schrecklichen Namen «Großer Vaterländischer» gegeben haben.

Andererseits ist dieser Ort von trotzigem Pathos umweht, scheinen sich diese roten Mauern gegen alles Zeitliche zu stemmen, gegen alle Moden, alles Geschwätz, alle Politik. Mich rührt der Ernst, mit dem der blutjunge, picklige Soldat die ewige Flamme bewacht. Ich weiß, dass ein großer Teil der Opfer dieses Krieges der Unfähigkeit, der Selbstherrlichkeit und der Menschenverachtung Stalins zu verdanken ist, und dennoch werde ich an den Gedenksteinen für die «Heldenstädte» starr vor Ehrfurcht und Trauer.

Irgendwo vor den Toren Moskaus lag übrigens meine Mutter vier Jahre lang in einem feuchten Erdbunker, vier Stunden Wache, vier Stunden Schlaf, und hat, sozusagen als lebende Zielscheibe, die Scheinwerfer bedient, mit denen deutsche Flieger, die Moskau angriffen, geblendet wurden.

Ich esse ein Eskimo-Eis – in Amerika würde es jetzt vielleicht «Little Inuit» heißen. Hier heißt es immer noch «Eskimo», aber es schmeckt nicht mehr so. Liegt es an mir, am Eis? Wie gern habe ich als Kind Eskimo-Eis auf dem Roten Platz gegessen.

Dann zum Hotel Metropol, unserem ersten Ziel. Ein riesiges, prächtiges Jugendstilhotel, das vor der Renovierung noch prächtiger gewesen sein soll. Ich wusste nicht, dass es so prächtig ist, und ich wusste nicht einmal, dass es so zentral liegt – nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt. Hier also hat meine Großmutter ein Jahr lang auf ihre Verhaftung, und das heißt: auf ihre Erschießung, gewartet, zusammen mit dem größten Teil der sogenannten OMS, des legendären Geheimdienstes der KOMINTERN. Aber während die anderen tatsächlich fast alle erschossen wurden, ist meine Großmutter zusammen mit Stiefgroßvater Hans nach Paris ausgereist.

Ich weiß sogar, in welchem Zimmer meine Großmutter und Hans gewohnt haben, aber die Zimmer sind neu nummeriert, und das Personal an der Rezeption des Nobelhotels (das billigste Zimmer kostet 700 Euro) ist nicht aufgelegt, mit einem dahergelaufenen Deutschen über irgendwelche Geschichten aus den dreißiger Jahren zu reden. Wenigstens den gewaltigen, altmodischen Fahrstuhl schauen wir uns noch an, auf dessen Anfahrgeräusch meine Großmutter hier vermutlich jeden Morgen gegen vier Uhr gewartet hat: die Zeit, um die «abgeholt» wurde.

Dann suchen wir das KOMINTERN-Gebäude. Es muss in der Maneschnaja Uliza sein. Wir suchen eine Weile vergeblich. Ich erwarte ein Schild an dem Gebäude – nichts zu sehen. Ich frage einen Polizisten danach. Der Polizist, so wird sich zwei Tage später herausstellen, steht direkt vor dem Gebäude. Der Mann macht ein nachdenkliches Gesicht: Mhm, ja, KOMINTERN, das habe er schon mal gehört …

Ich frage Passanten auf der Straße, die aussehen, als wären sie gebildet: Keiner weiß was. Die KOMINTERN! Die ruhmreiche Kommunistische Internationale, Vereinigung aller Kommunistischen Parteien, Herz und der Kopf der Weltrevolution!

Auf der Suche nach dem Gebäude gehen wir die Maneschnaja abwärts, fast bis zur neu aufgebauten Christ-Erlöser-Kathedrale, die 1931 gesprengt und zu einem offenen, beheizten (!) Schwimmbad umgebaut worden war: eine Riesenattraktion für mich als Kind. Ich erinnere mich, wie ich einmal zusammen mit Jakow Samuelowitsch Drabkin, dem Historiker, in dem warmen Wasser geschwommen bin, und frage mich jetzt, ob ich mich unwissentlich der Gotteslästerung schuldig gemacht habe.

Zum Schluss noch zur Lubjanka, dem KGB-Gefängnis, in dem Onkel Walter verhört worden ist, bevor er für zehn Jahre ins Arbeitslager geschickt wurde. Ich fotografiere es heimlich, aus der Hüfte. Aber was sieht man schon auf dem Foto? Einfach ein großes Haus. Übrigens werden, so hat Walter berichtet, die Zugänge durch den Hintereingang ins Gebäude gebracht. Diesen getraue ich mich nicht zu fotografieren.

 

Am nächsten Tag unterwegs mit der Moskauer Metro. Damals, vor dreißig Jahren, für mich ein Wunder – und heute noch immer beeindruckend, obwohl die Züge laut und altmodisch sind. Sie verkehren alle zwei Minuten, und anstelle von komplizierter Anzeigenelektronik, wie man sie in Berlin findet, beginnt hier, sobald ein Zug abgefahren ist, eine Zwei-Minuten-Uhr rückwärts zu laufen: russische Methode, aber es funktioniert. Ich ertappe mich dabei, vor Martina einen seltsamen Stolz zu empfinden.

Die Metro ist tief, es dauert ewig, ehe einen die Rolltreppe auf das Niveau der Gleise befördert. Überhaupt sind die Wege in Moskau lang. Die Straßen, die mir in der Kindheit riesig vorkamen, sind immer noch riesig. Man geht nicht über Ampelkreuzungen, man wandert.

Menschen als Litfaßsäulen – Werbung. Sind Menschen hier inzwischen billiger als Plakatflächen?

Wir schauen uns die Lomonossow-Universität an – allerdings wird mir bald klar, dass mein Vater nicht hier studiert haben kann. Das berühmte Gebäude im Stalin’schen Zuckerbäckerstil ist erst später errichtet worden.

Wir essen in einem Jolki-Palki, einer neurussischen Restaurant-Kette. Der Name eine Verballhornung des russischen Mutterfluchs, eine an sich sinnlose Wortkombination –...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2015
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte 2005-2013 • Baltikum • China • Erinnerung • Griechenland • Kuba • Mexiko • Reise • Russland • Skandinavien • USA
ISBN-10 3-644-04841-X / 364404841X
ISBN-13 978-3-644-04841-6 / 9783644048416
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