Die Schattenbucht (eBook)
416 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-15888-0 (ISBN)
Ohne ersichtlichen Grund und ohne emotionale Regung springt Marlene Adamski vom Balkon ihres Hauses in die Tiefe. Sie überlebt, spricht seither jedoch kein Wort mehr. Psychologin Ina Bartholdy findet keine Erklärung für das Verhalten der 62-jährigen Bäckersfrau, doch der Fall lässt sie nicht los. Sie fährt ins mecklenburgische Prerow, um nach ihrer Patientin zu sehen.
Marlene wird scheinbar liebevoll umsorgt. Doch das Verhalten ihres Ehemanns macht Ina stutzig. Keine Sekunde lässt er sie mit Marlene allein, will offensichtlich verhindern, dass sie mit Ina spricht. Was hat dieser Mann zu verbergen? Und was hat er mit den merkwürdigen Vorfällen zu tun, die sich in Prerow häufen?
Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. 2013 verwirklichte er einen lang gehegten schriftstellerischen Traum und veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman »Das Nebelhaus«, der 2017 mit Felicitas Woll in der Hauptrolle der Journalistin Doro Kagel verfilmt wurde. Seither begeistert Eric Berg mit jedem seiner Romane Leser und Kritiker aufs Neue und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 21/2016) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 20/2016) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 19/2016) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 18/2016) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 17/2016) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 16/2016) — Platz 13
1
September
Dieser Fall war nicht wie die anderen – eine gesunde Frau sitzt bei Kaffee und Kuchen auf dem Balkon ihres Hauses und blickt auf das im Nachmittagslicht sanft schimmernde Wasser des Bodstedter Boddens. Plötzlich und ohne erkennbare innere Regung steht sie auf, klettert über das Geländer und stürzt sich in die Tiefe. Sie überlebt den Sprung, spricht seither jedoch kein Wort mehr.
Ina war so etwas nicht gewohnt. Hinter jedem Suizidversuch steckte eine Geschichte, die es für sie hervorzuholen galt. Manche ihrer Patienten mussten nur angepikst werden, und schon sprudelten die Tragödien ihres Lebens in schnellen Sätzen aus ihnen heraus, gespickt mit Vorwürfen an Ehepartner, Eltern, Freunde und das Leben. Andere gaben ihre Erlebnisse nur in Häppchen preis, zögerlich, jedes Wort abwägend, als sei es das alles entscheidende, unterbrochen von langen Pausen und stillen Tränen. Wieder andere betrachteten die Klinikpsychologin gar als Gegnerin, antworteten feindselig und sarkastisch oder schickten Ina weg, um sie bald darauf doch wieder herbeizuzitieren und zu beschimpfen. Über kurz oder lang und mehr oder weniger redeten sie alle auf irgendeine Weise über die kleinen und großen Katastrophen, deretwegen sie in der Klinik gelandet waren, an diesem Ort, an dem wie nirgendwo sonst der Hunger nach Leben und Lebensmüdigkeit aufeinandertrafen.
Marlene Adamski hingegen war verstummt, so wie manche Kinder, die ein schreckliches Trauma erlitten hatten. Doch diese Patientin war zweiundsechzig Jahre alt, und auf ein größeres Problem, geschweige denn ein Trauma gab es nicht den geringsten Hinweis.
In den Akten suchte Ina vergeblich nach Gründen für die Schatten, die sie unter Marlenes Augen entdeckte. Zusammen mit ihrem Ehemann führte die Frau eine gut gehende Bäckerei auf der Halbinsel Darß, nannte ein schuldenfreies Haus ihr Eigen, war physisch in bester Verfassung und hatte keinerlei Vorgeschichte, was psychische Erkrankungen anging. Letzteres allein war natürlich wenig aussagekräftig, schließlich erwuchsen Depressionen und Selbstmordgedanken selten ausschließlich aus handfesten, für jedermann erkennbaren Problemen. Ihr Dünger waren vielmehr Faktoren wie Einsamkeit, das Einerlei der Tage, Erfolgsdruck und die Unfähigkeit, aus einem als Teufelskreis wahrgenommenen Zustand auszubrechen.
Doch auch hierfür konnte Ina keinerlei Anhaltspunkte entdecken. Ihre Patientin sammelte Geld für syrische Flüchtlinge und sang im Gemeindechor. Nun gut, die Adamskis waren kinderlos. Doch während Marlenes zweiwöchentlichen Aufenthalts in der Psychiatrie am Stadtrand von Rostock hatte sie auffallend viel Besuch bekommen. Die vielen Freundinnen und Cousinen, mit denen Ina gesprochen hatte, erzählten ihr übereinstimmend, dass kaum ein Gemeindemitglied sozial engagierter und besser integriert war als Marlene Adamski. In der Bäckerei war sie die gute Seele, die Kunden kannte sie mit Namen und begrüßte sie mit einem Lächeln und per Handschlag.
Blieb die Ehe der Adamskis, über die Ina bisher nur wenig wusste. Marlenes Mann Gerd kümmerte sich rührend um seine Frau. Wenngleich er ein Mensch zu sein schien, der die Schuld zuletzt bei sich selbst suchte, kam Ina die Fürsorge, die er seiner Frau entgegenbrachte, echt vor. Kurzum, es gab einfach keinen Anhaltspunkt, was die Ursache für den Suizidversuch sein könnte, und die Psychologin stand vor einem Rätsel. Dass Marlene nicht mit ihr sprach, machte es unmöglich, das Motiv zu ergründen. Ina hätte die Sache auf sich beruhen lassen können, denn Marlene Adamskis Entlassung stand bevor, und sie würde demnächst neue Patienten betreuen: Opfer von Gewalttaten, Unfällen oder Mobbing, von Stress und Übermüdung zermürbte Menschen, Drogenabhängige, Patienten mit Gehirntumoren und schwachen Herzen, die sie zu begleiten hatte. Doch die schweigende Frau mit den Schatten unter den Augen wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Hatte sie nicht auch deswegen ein halbes Jahr zuvor von Schwerin an die Klinik in Rostock gewechselt, weil sie an ihrem neuen Arbeitsplatz mehr Zeit für die Patienten hatte? Früher musste Ina sich bei den nach einem Selbstmordversuch eingelieferten Patienten mit Aussagen wie »Ich tu’s ganz bestimmt nicht wieder« zufriedengeben und nach ein paar Minuten zum nächsten Termin eilen. Im Jahr darauf sah sie die Menschen dann wieder. Schlimmer noch waren jene, die sie nicht wiedersah, weil sie beim zweiten Mal mehr »Erfolg« gehabt hatten als beim ersten. Ihre Zahl kannte Ina nicht, aber das machte es nicht einfacher. In der Rostocker Klinik hatte sie immerhin das gute Gefühl, alles für ihre Patienten tun zu können, was in ihrer Macht stand, zumal sie nur an zwei Tagen pro Woche als Angestellte arbeitete und an den anderen drei Tagen eine eigene Praxis in Ahrenshoop betrieb. Auf diese Weise konnte sie ihre Patienten länger betreuen, als es normalerweise möglich gewesen wäre. Nur bei Marlene Adamski biss sie in der Hinsicht auf Granit.
Das Schweigen der Bäckersfrau hielt Ina teilweise für bewusst gesteuert und weniger für die Folge eines Schocks, weshalb sie davon ausging, es mit etwas mehr Zeit brechen zu können. Denn trotz ihrer verbalen Zurückhaltung nahm Marlene ihre Umwelt durchaus wahr. Sie reagierte auf Bewegungen und Geräusche ebenso wie auf Menschen, die das Krankenzimmer betraten. Sie verzog den Mund, wenn ihr das Essen nicht schmeckte, und sie erwiderte Umarmungen. Lächeln sah Ina sie allerdings nie, außer ein Mal, als sie ihrer Patientin, um deren Vertrauen zu gewinnen, von ihrer Liebe für die Ostsee im Allgemeinen und den Darß im Besonderen erzählt hatte. Damals blickte Marlene geradezu selig drein, so als hätte Ina sie an einen untergegangenen Ort des Glücks erinnert. Die Psychologin spürte, sie und ihre Patientin könnten emotional zusammenfinden.
Gerd Adamski jedoch legte darauf keinen Wert.
»Das schaffen wir auch so«, sagte er, als er seiner Frau nach ihrer Entlassung in den geräumigen Audi half. Ina war mit den beiden zum Parkplatz gegangen, trotz des leichten Regens. Die äußeren Verletzungen Marlene Adamskis waren zwar fast vollständig verheilt, aber sie wirkte noch nicht ganz sicher auf den Beinen.
Er schloss die Beifahrertür und sprach, während er um das Auto herumging, mit leiser, tiefer Stimme. »Marlene hat zu viel gearbeitet, sich zu viel zugemutet. Die Bäckerei, das Ehrenamt, der Chor, der Haushalt … Sie hatte ja gar keine Zeit mehr für sich.«
»Mag sein«, erwiderte Ina. »Aber Menschen springen im Allgemeinen nicht wegen eines zu vollen Terminkalenders vom Balkon, Herr Adamski. Das ist allenfalls der Auslöser, niemals die Ursache. Ich empfehle Ihrer Frau dringend weiterhin eine professionelle psychologische Begleitung. Meine Praxis in Ahrenshoop ist die einzige auf dem Darß, aber falls Sie wen anders bevorzugen, habe ich Ihnen einige Adressen von Kollegen in Rostock aufgeschrieben.«
Er reichte ihr die Hand. Sie war klobig, behaart und von fünfundvierzig Jahren fast täglichem Teigkneten sehr kräftig, doch der feste Druck war nicht unangenehm.
»Danke, dass Sie sich um Marlene gekümmert haben, Frau Doktor. Ehrlich, ich bin sehr froh darüber. Aber das wird schon wieder. Ein bisschen Pflege und Aufmerksamkeit …«
»Mit ein bisschen Pflege werden verkümmerte Pflanzen vielleicht wieder«, sagte Ina, wobei die ungeduldige Erwiderung von ihrer sanften, geduldigen Stimme abgemildert wurde. »Natürlich sind Ihre Fürsorge und Aufmerksamkeit äußerst wichtig und hilfreich. Dennoch kann ich nicht genug betonen, dass der Heilungsprozess bei Ihrer Frau gerade erst begonnen hat. Dass sie nicht spricht, ist der auffälligste Hinweis, wenngleich nicht der einzige.«
»Auch das bekommen wir hin«, sagte Gerd Adamski mit einer solchen Sicherheit, als müsse er zu Hause nur ein Rezeptbuch aufschlagen. Bevor Ina ihn weiter bedrängen konnte, fügte er hinzu: »Sehen Sie, Frau Doktor, Sie sind Psychologin und wollen sicher nur das Beste für Marlene. Sie erzählen mir was von Ursachen und psychologischer Begleitung und so ’nem Zeugs. Aber wir kommen schon zurecht, wir sind einfache, hart arbeitende Leute. Bäcker, verstehen Sie?«
So, wie er es ausdrückte, hörte es sich an, als würde jeder Bäcker einmal im Leben einen Selbstmordversuch unternehmen, und danach sei die Bedrohung ausgeschwitzt und überstanden wie bei Mumps. Natürlich kannte Ina diese ablehnende Haltung gegenüber Psychologen, zum einen von den Erfolgsverwöhnten, die meinten, sich und ihr Leben auch ohne fremde Hilfe jederzeit im Griff zu haben, und zum anderen von denjenigen, für die psychologische Betreuung etwas für Weicheier war. Der Übergang war fließend, und Gerd Adamski gehörte eindeutig zur zweiten Kategorie.
Ina musste Marlene also ziehen lassen, und wenngleich sie nach wie vor an die Frau dachte, war sie bald schon von den neuen Patienten absorbiert.
Dann jedoch geschah etwas Merkwürdiges. Ina erhielt an zwei aufeinanderfolgenden Tagen auf ihrem rein beruflich genutzten Handy mehrere Anrufe, bei denen sich am anderen Ende niemand meldete, sobald sie abnahm. Ein Keuchen oder dergleichen war jedoch nicht zu hören. Nach einigen Sekunden legte der Anrufer jedes Mal wieder auf.
Irgendwann fragte Ina aus einer Ahnung heraus: »Frau Adamski? Marlene?«
Und siehe da, diesmal blieb der Anrufer länger am Apparat.
Die Psychologin beschloss, Marlene aufzusuchen und sie zu überreden, Patientin ihrer Praxis zu werden. Sie rechnete mit einem kleinen Abenteuer, einem leicht ungewöhnlichen Außeneinsatz mit nutzbringenden Erkenntnissen.
Wider Erwarten wurde etwas ganz anderes daraus: ein Schicksalstag in ihrem...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Abenteuerroman • eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Küstengrab • Nebelhaus • Ostsee • Prerow • Psychologischer Spannungsroman • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-641-15888-5 / 3641158885 |
ISBN-13 | 978-3-641-15888-0 / 9783641158880 |
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