Muksmäuschenschlau (eBook)

Wie ich als Hauptschulproll ein Abi mit 1+ hinlegte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
251 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-1380-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Muksmäuschenschlau -  Yigit Muk
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Er hatte die besten Voraussetzungen für ein Leben als Krimineller: aufgewachsen in Neukölln, meistens bekleidet mit Trainingshose und Rippenshirt, zwei Mal sitzengeblieben, und Mitglied einer Straßengang war Yigit Muk auch noch. Mit der Hauptschulempfehlung sollte es direkt an eine bekannte Brennpunktschule im Bezirk gehen. Eine gute Adresse für alle, die ihre berufliche Zukunft in der Schutzgelderpressung sehen.

Und trotzdem hat Yigit Muk 2012 Berlins bestes Abitur geschrieben! Wie ein Kanake zum Einserschüler wird, was an Deutschlands Problemschulen wirklich los ist, und welche Rolle Lehrer und Gesellschaft dabei spielen, erzählt dieses Buch - ehrlich, ungeschönt und sehr lustig.

Kapitel 1


Kaltstart


Mit der Einschulung ändert sich alles. Es gelten andere Maßstäbe. Vorbei die Zeiten, in denen es reicht, einfach nur niedlich zu sein. Aus Kindern werden Mitglieder der Leistungsgesellschaft. Wer jetzt noch nicht mit dem Puddinglöffel den eigenen Mund trifft, der hat es schwer. Und mit einem Gedicht, das nicht in Mandarin vorgetragen wird, rührt man nun bestenfalls noch die Großmutter zu Tränen.

Bei meiner Einschulung war ich extrem aufgeregt. Das erste größere Zusammentreffen mit anderen Kindern stand bevor. Wie ein Kinder-Konvent, organisiert von der Berliner Schulbehörde. Das war etwas vollkommen Neues und Abenteuerliches für mich. Ich war zuvor nicht mal im Kindergarten gewesen. Für ein deutsch-türkisches Kind ist das nicht weiter ungewöhnlich. Meine Mutter blieb 24 Stunden am Tag zu Hause und durfte ohne Begleitung meines Vaters praktisch nicht vor die Tür. Hätte ich zum Kindergarten gewollt, hätte ich schon heimlich mit dem Bobby Car hinfahren müssen.

Verlockend war es, keine Frage. So sehr ich meine Mutter liebte, gerne hätte ich mit den anderen Kindern im Haus getauscht, die morgens ihre Kinderzimmer verließen und mittags zurückkehrten. Wie kleine Berufspendler. Sie konnten am Mittagstisch guten Gewissens den halbleeren Teller Spinat wegschieben und sagen: »Mutti, ich leg mich zwei Stunden aufs Ohr, es war ein harter Vormittag. Erst morgens haben wir erfahren, dass es drei Grundfarben gibt. Gegen Mittag hieß es dann, dass man sie auch mischen kann. Wo führt das noch hin?«

Nachmittags hörte ich sie dann im Treppenhaus auf dem Glockenspiel Alle meine Entchen üben und war neidisch. Die Sehnsucht nach nur einem einzigen Tag im Kindergarten wurde beinahe überwältigend: Vielleicht, so grübelte ich, würde ich es mit dem Bobby Car ja tatsächlich bis dorthin schaffen.

Rückblickend weiß ich natürlich, dass ich nicht die geringste Chance gehabt hätte. Nicht im Berliner Straßenverkehr. Mir hätte dasselbe Schicksal geblüht wie jedem Türken, und ich wäre mit meinem Bobby Car keine zwei Straßen weit gekommen, ohne von der Polizei herausgewunken zu werden: »Kann ickma Führerschein und Fahrzeugpapiere sehen, bitte? Ihnen ist schon aufgefallen, dass die Rücklichter defekt sind, wa? Ditt sind ja praktisch nur Aufkleber.«

Prompt hätte ich wieder zu Hause bei meiner Mama gesessen – oder »Anne«, wie es auf Türkisch heißt. Am Tag meiner Einschulung konnte ich somit nur hoffen, dass keinerlei Vorkenntnisse vorausgesetzt wurden hinsichtlich der Mischung von Grundfarben, dem Glockenspiel im Allgemeinen oder Alle meine Entchen im Besonderen. Da hätte ich alt ausgesehen. Gleiches galt für den Unterrichtsstoff der Vorschule, die ich ebenfalls nie besucht hatte. Denn als wir 1993 aus dem Türkeiurlaub zurückkamen, wollten meine Eltern mich zwar an einer Vorschule anmelden, doch die Anmeldefrist war bereits abgelaufen. Zudem herrschte schon damals chronischer Platzmangel an Berliner Vorschulen.

Und während jedes andere Kind sich an dieser Stelle vermutlich gefreut hätte wie Bolle, noch ein weiteres sorgenfreies Jahr verbringen zu dürfen, war ich am Boden zerstört. Ich flehte meinen Vater an, einen Stuhl für mich zu kaufen, damit es einen Platz mehr gäbe in der Vorschule und ich doch noch hinkonnte. Aber es half nichts. Es mangelte nicht am Sitzmobiliar, wie mir mein Vater erklärte. »Deutschland ist ein reiches Land«, sagte er, »es gibt hier für jeden einen Stuhl. Nur nicht für jeden einen Platz.«

Kinder, die nicht in der Vorschule waren, mussten vor der Einschulung noch eine Art Eignungstest absolvieren. Die Lehrerin, die den Test durchführte, war eine Türkin, und ich erinnere mich bis heute an ihren Namen. Auch erinnere ich mich noch genau an die Aufgabe, die es zu lösen galt: Ich musste nacheinander einen Kreis, ein Dreieck und ein Quadrat auf ein Blatt zeichnen. Ohne die Reihenfolge zu ändern: Kreis, Dreieck, Quadrat, Kreis, Dreieck, Quadrat. Immer und immer wieder. Ich fragte mich schon damals, was der Test sollte. Ich war sechs! Ich wollte auf die Grundschule, nicht auf die Kunstakademie. Entsprechend ließ meine Konzentration auch irgendwann nach. Doch vielleicht ging es genau darum. Ich machte einen Fehler, dann war der Test vorüber. Die Kunstakademie musste warten. Dem Besuch der Grundschule und dem offiziellen Start meiner Schulkarriere aber stand nun nichts mehr im Weg.

Die Eindrücke während der ersten Wochen auf der Rathenau-Grundschule in Nord-Neukölln waren überwältigend. Allein visuell war es berauschend, die ganze Schule war derart übersät von Graffiti, dass eine große Zeitung damals sogar titelte: »Würden Sie Ihr Kind auf diese Schule schicken?« Dazu lauter fremde Kinder um mich herum und immer etwas zu tun. Ich merkte nicht mal, dass kaum ein deutsches Kind unter den Schülern war. Deutsch natürlich nicht im staatsbürgerlichen Sinne; der ein oder andere hatte sicher den Adler im Kinderpass. Deutsch mehr im Sinne von Lichtschutzfaktor dreißig, sobald die Sonne durchkommt.

Insgesamt befanden sich in meiner Klasse vielleicht fünf deutsche Kinder, von circa 30 Schülern. Das war gar nicht mal schlecht. Mein zehn Jahre älterer Bruder, der ebenfalls auf die Rathenau-Grundschule gegangen war, hatte nicht ein einziges deutsches Kind als Mitschüler. Zu seiner Zeit wurden die ausländischen Kinder noch in einer extra Klasse gesammelt und getrennt von den deutschen Kindern unterrichtet, konzentriert sozusagen. Denen war das natürlich egal, ihren Eltern meistens ebenso. Sie dachten vermutlich: Was soll’s, ist wenigstens Deutschland. Umso mehr Irritation rief bei den Eltern dafür ein bestimmter Lehrer an der Rathenau-Grundschule hervor. Er trug einen Zwirbelbart und war meistens von oben bis unten in Samt gekleidet. Denjenigen, die aus einem anatolischen Bergdorf nach Deutschland gekommen waren, mutete diese Gesamterscheinung also einigermaßen skurril an. Dazu sein kauziges Verhalten. Wenn er in ein Klassenzimmer kam, ging er stets ein wenig in die Hocke, legte die Hände auf die Kniescheiben und machte mit seinen Knien dann diese kreuzende Bewegung, die man sonst nur aus Filmen mit Charlie Chaplin kennt. Synchron zu dieser Slapstick-Nummer sang er: »Rock the microphone!« Die Zeile stammte aus einem Breakdance Song, was die Sache keineswegs besser machte.

Außerdem fasste er den Schülern auf die Schulter, wenn er hinter ihnen stand, um ihre Arbeitsweise zu kontrollieren. Das mochte nicht jeder. Und die Erweiterung dieser pädagogischen Berührung auf eine Schultermassage schon gar nicht. Das hat er bei einem Schüler tatsächlich einmal getan. Fehlte nur noch, dass er Öl rausholte und sich die Hände damit einrieb. Der Betroffene machte jedenfalls die nachhaltige Erfahrung, dass Massagen nicht zwangsläufig entspannend sein müssen. Seinem Gesichtsausdruck zufolge sah er eher aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Wenig später wurde das Auto dieses Lehrers von einer Gang geklaut und zerstört. Bestimmte Leute mögen es eben nicht, wenn man ihre kleinen Brüder massiert. Ob mit Öl oder ohne.

Gelegen war die Schule für mich denkbar günstig, nämlich direkt hinter unserem Wohnhaus. Ich musste einfach nur den Block umkreisen und nicht mal eine Straße überqueren. Dabei kam ich an zahlreichen Gebäuden vorbei, die seit ewigen Zeiten dort standen. Das waren hauptsächlich heruntergekommene Altbauten, deren Fassaden mit Graffiti beschmiert waren. Der gesamte Schulkomplex, der sowohl die Rathenau-Grundschule als auch die Max-Planck-Oberschule umfasste, lag etwas nach hinten verlagert. Der Weg von der Straße zum Pausenhof und den anliegenden Klassenräumen führte von der Seite des Rathenauplatzes zwischen zwei großen Wohnhäusern hindurch. Unmittelbar vor dem Durchgang zum Schulgelände lag ein kleiner Vorplatz, auf dessen Kopfsteinpflaster ich mich im weiteren Verlauf meiner Schulkarriere noch oft prügeln sollte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem Rathenauplatz, steht noch heute eine kleine Imbissbude, die bereits seit etwa vierzig Jahren vom selben Eigentümer, einem Deutschen mit zerzaustem, rotem Vollbart, betrieben wird. Schon die Mutter eines Kumpels von mir, die ebenfalls zur Rathenau-Grundschule gegangen war, hatte sich dort ungesund ernährt. »Transfettsäuren seit zwei Generationen«, so könnte der Slogan der Bude lauten. Täglich standen mindestens zwanzig Kinder gleichzeitig in der Warteschlange auf der Mittelinsel.

Aufgrund der Nähe zu meinem Zuhause war es jedenfalls vollkommen unnötig, dass meine Eltern mich brachten. Stolz wie Oskar ging ich also alleine zur Schule. Nur wenn ich an dem kleinen Vorplatz mit dem Kopfsteinpflaster ankam und sah, wie die anderen Kinder zum Abschied von ihren Eltern noch ein Küsschen auf die Wange bekamen, trübte sich mein Gemüt etwas. Eigentlich verdiente ich das Küsschen von allen am meisten, fand ich. Denn ich war mit Abstand der kleinste Junge in der Klasse. Manchmal überlegte ich, mich beim Abschiedszeremoniell der anderen Kinder kurzerhand hinten anzustellen. Ich würde einfach die Wange hochrecken und das Küsschen entgegennehmen. Wer würde einem kleinen süßen Türken schon widerstehen können?

Allerhöchstens Kurden.

Ich war so klein und dünn, dass meine Lehrerin Frau Schulte einmal zu mir sagte: »Yiğit, wärst du so lieb? Du bist doch so klein.« Dann zeigte sie mit ihrem Zeigefinger auf die Schere, die ihr unter den Tisch gefallen war. Und während ich brav ihrem Wunsch entsprach und die Schere holte, rief mein Mitschüler Moritz von hinten: »Yiğit ist der Kleinste der Schule!« Am liebsten hätte ich die Schere vom Boden aufgenommen, mit aller...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Comic / Humor / Manga
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • aktuell • Aktuelles Zeitgeschehen • Argumente • Berlin • Brennpunktschule • Culture Clash • Debatte • Deutschland • Diskussion • Ereignisse • Gegenwart • geschehen • Gesellschaft • Integration • Integration (Gesellschaft) • Jungend • Kontroverse • Politik • Politik und Gesellschaft • politisch • Problemschule • pro und contra • Schulabschluss • Straßengang • Türke
ISBN-10 3-7325-1380-7 / 3732513807
ISBN-13 978-3-7325-1380-2 / 9783732513802
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