Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr um dort seine große Liebe wiederzufinden (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30919-5 (ISBN)
Per J. Andersson ist Journalist und Schriftsteller mit Schwerpunkt Indien. Er ist Mitbegründer von Schwedens bekanntestem Reisemagazin Vagabond und ist in den letzten 30 Jahren mindestens einmal jährlich nach Indien gereist.
- Spiegel Jahres-Bestseller: Sachbuch / Paperback 2016 — Platz 15
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Per J. Andersson ist Journalist und Schriftsteller mit Schwerpunkt Indien. Er ist Mitbegründer von Schwedens bekanntestem Reisemagazin Vagabond und ist in den letzten 30 Jahren mindestens einmal jährlich nach Indien gereist. Susanne Dahmann war nach dem Studium der Skandinavistik, Geschichte und Philosophie in Vertrieb und Lektorat eines Sachbuchverlags tätig. Seit 1993 arbeitet sie als freie Übersetzerin in Marbach am Neckar.
Seine Mutter war die Einzige, die verstand, wer der kleine Pikay eigentlich war. Sie hieß Kalabati, hatte dunkelblaue Strichtätowierungen im Gesicht, ein Goldherz in der Nase und Goldmonde in den Ohren. Das Einzige, was es heute noch von ihr gibt, ist ein Messingkerzenleuchter in Form eines Elefanten. Das war ihr Lieblingsleuchter. Wenn Pikay den Leuchter betrachtet, wie er jetzt auf dem Kaminsims in dem gelben Haus im Wald steht, dann denkt er an sie.
Im Dorf war es traditionell ihre Aufgabe, anlässlich der jährlichen Feste magische Figuren auf die Hauswände zu malen. Sie hatte den künstlerischen Blick und eine geschickte Hand bei der Malerei. Ihre Künste wurden von allen im Dorf angefragt, sogar von den Brahmanen. Wenn ein Fest bevorstand, stand sie früh auf, bestrich die braunen Lehmwände der Hütte mit Kuhdung und fing an, sie zu dekorieren. Wenn sie mit dem Haus der Familie fertig war, machte sie beim Nachbarn weiter. Am Tag bevor das Fest begann, ging sie zwischen Morgen- und Abenddämmerung von Haus zu Haus und malte Menschen mit schmalen Beinen und Armen, Schlingpflanzen und Blumen mit schlanken Blättern. Die weiße Farbe, die sie auf die terrakottaroten Lehmwände malte, hatte sie aus Reismehl und Wasser selbst hergestellt. Im ersten blassgelben Morgenlicht am Tag des Festes sah man auf allen Dorfhütten schöne Muster. Alles war Kalabatis Werk.
Pikay schaute zu, wenn seine Mutter die Wände bemalte, und fragte sich oft, warum sie niemals auf Papier malte.
Kalabati war im Stamm der Kutia Kondh geboren.
»Unser Stammesvolk, das sind die Nachfahren der dunklen Waldmenschen, die so lange man denken kann hier gewohnt haben, ja, seit Tausenden von Jahren, ehe das Steppenvolk herkam und den Wald abholzte und anfing, Weizen und Reis anzubauen«, erzählte sie Pikay.
»Mit dem Steppenvolk, den Bauern, kamen Krieg und Krankheiten. Das Steppenvolk war es, das die Menschen einteilte in solche, die mehr, und solche, die weniger wert sind. Ehe die Steppenhindus kamen, unterschieden wir nicht zwischen einem Volk und einem anderen. Zu der Zeit war kein Mensch, der in den großen Wäldern wohnte, vornehmer als ein anderer.«
Die Mutter war der einzige Mensch, den er richtig kannte. Der Rest der Familie war ihm mehr oder weniger fremd. Wenn sein Vater und seine Brüder am Samstagabend mit den Fahrrädern aus der Stadt angefahren kamen, um ihren freien Sonntag zu Hause im Dorf zu verbringen, hatte er ein komisches Gefühl im Bauch. Wenn der Vater das Fahrrad an die Hauswand stellte und ihn hochhob, bekam er Angst und fing an zu weinen.
»Weine doch nicht, sieh nur, dein Papa kommt mit Süßigkeiten für dich«, versuchte Kalabati ihn zu trösten.
Dann verstummte er, biss die Zähne zusammen, nahm schluchzend ein zuckerknisterndes Burfi, ein luftiges und feuchtes Gulab jamun oder einen zähen englischen Karamell aus der Hand des Vaters und kroch seiner Mutter auf den Schoß.
Jeden Morgen badete Kalabati ihn im Kondpoda-Fluss. Manchmal gingen sie auch zum großen Strom hinunter, wo es nach den Wildblumen duftete, die am Ufer wuchsen, und nach den runden Fladen aus Kuhdung, die auf der sonnenbeschienenen Böschung zum Wasser hinunter zum Trocknen lagen. Die Mutter ermahnte ihn, vorsichtig zu sein und nicht zu weit raus zu schwimmen, trocknete seinen Rücken mit einem Zipfel ihres Sari ab und rieb ihn mit Kokosöl ein, sodass er im Sonnenschein glänzte. Dann kletterte Pikay auf einen Stein, der von dem rauschenden Wasser glatt geschliffen war, tauchte ein und schwamm und kletterte wieder auf den Stein. Das konnte er eine Ewigkeit lang tun. Er fror niemals und erkältete sich auch nie, weil die dicke Schicht Öl auf der Haut das Wasser abperlen ließ und ihn so lange warm hielt, bis die Sonne höher am Himmel stand.
Im Sommer, kurz vor dem Monsunregen, waren Bach und Fluss fast ausgetrocknet. Der Mahanadistrom hatte an Stärke abgenommen, denn der Hiraku-Damm, der ein paar Tagesreisen mit dem Kanu stromaufwärts gebaut worden war, hatte ihn seiner wilden Wassermassen beraubt. Anfang Juni floss nur noch ein kleines Rinnsal in der Mitte des Flussbetts. Der Wassermangel war eine Geißel für alle im Dorf. Wenn sie im Austausch dafür Strom bekommen hätten, dann hätte das Leiden wenigstens einen Sinn gehabt, doch der Strom, den man im Wasserkraftwerk produzierte, wurde woanders gebraucht. In der Abenddämmerung knisterten immer noch die Holzfeuer, und die Öllampen flammten auf.
Als Fluss und Strom fast ausgetrocknet waren, gruben Kalabati und die anderen Dorffrauen in den großen Sandbänken provisorische Brunnen. Metertiefe Löcher, in die schließlich von den Seiten das Wasser hineinsickerte. Das Wasser trug Kalabati in verbeulten Blecheimern nach Hause. Einen Eimer auf dem Kopf, einen in jeder Hand.
Die Priester meinten, die Gegenwart der Unberührbaren besudele alles, was rein und heilig sei. Wenn Pikay sich dem Tempel des Dorfes näherte, bewarfen sie ihn jedes Mal mit Steinen. In dem Jahr, ehe er in die erste Klasse kam, legte er sich rachedurstig auf die Lauer. Als das Ritual begann und die Priester mit Wasser gefüllte Tonkrüge herbeitrugen, holte er die Steinschleuder heraus, sammelte Steine vom Boden auf, lud und schoss. Ploff! Ploff! Ploff! Langsam begann das Wasser aus den gesprungenen Krügen zu sickern. Die Priester entdeckten ihn und jagten ihn durchs Dorf.
»Wir werden dich töten!«, schrien sie.
Er versteckte sich in einem Gebüsch, das aus Kakteen bestand. Die Stacheln bohrten sich in seinen Körper, und er hinkte blutend nach Hause, um sich von seiner Mutter trösten zu lassen. Er dachte: Sogar die Pflanzen wollen mir übel.
Die Mutter streichelte seinen Rücken und sprach sanft und gut von der Welt. Auch wenn sie wusste, dass sie den Unberührbaren und dem Stammesvolk oft feindlich gegenüberstand. Pikay hatte keine Ahnung, warum die Brahmanen wütend auf ihn waren. Er begriff nicht, warum er sich vom Tempel fernhalten sollte, hatte keine Erklärung für die Steine, die man nach ihm warf. Das alles tat nur weh.
Seine Mutter verbarg die Wahrheit vor ihm und webte Träume und Hoffnungen mit beschönigenden Beschreibungen zusammen.
Wenn die Kinder aus den hohen Kasten Pikay versehentlich berührten, wuschen sie sich schnell im Fluss.
»Warum tun sie das?«, fragte er.
»Weil sie so schmutzig sind, da ist es nur gut, wenn sie mal baden«, antwortete die Mutter. »Die haben wirklich ein Bad nötig! Igitt, was waren die schmutzig!«, wiederholte sie so lange, bis seine Sorgen verschwunden waren.
Kalabati hatte nie in die Schule gehen dürfen, und sie konnte weder lesen noch schreiben. Aber sie wusste vieles andere. Sie konnte eigene Farben herstellen, schöne Muster malen und die Blätter, Samen und Wurzeln der Pflanzen zu wirkungsvoller Naturmedizin mischen.
Ihr Leben war in tägliche Pflichten aufgeteilt. Jeden Tag wurden die Arbeiten zur selben Zeit ausgeführt. Sie stand auf, wenn es noch dunkel war. Ihr Wecker waren die krähenden Hähne und ihre Uhr die Position des Morgensterns am Firmament. Pikay blieb dann noch auf seiner Strohmatte auf dem Boden liegen und hörte, wie sie den Boden, die Veranda und den Hof mit einer Mischung aus Wasser und Kuhdung wischte. Er fand es seltsam, dass sie Kuhkot benutzte, um sauber zu machen, und das blieb lange Zeit eines der Mysterien des Lebens, bis ihm die Mutter erklärte, dass es ein wirkungsvolleres Putzmittel war als das weiße chemische Pulver, das man im Dorfladen kaufen konnte.
Wenn Kalabati das Haus geputzt hatte, machte sie sich auf, um das Maisfeld der Familie zu versorgen und dann im Fluss zu baden. Wenn sie zurückkam, stand sie in ihrem dunkelblauen Sari auf der frisch geputzten Veranda. Ihr nasses, lockiges Haar glänzte in der Morgensonne, wenn sie sachte mit einem Baumwolllappen das Wasser aus den langen Haarsträhnen drückte.
Danach bekam der Tulsibusch mit den wohlriechenden grün-lilafarbenen Blättern Wasser, während sie ein Mantra sang. Dann ging sie zur Küchenecke, tauchte den Zeigefinger in eine schwere Steinschüssel mit zinoberrotem Farbpulver, drückte den Finger mitten auf ihre Stirn und betrachtete sich in dem gesprungenen Spiegel. Sie beugte sich vor und malte sich dicke Kajalstriche um die Augen. Das Kajal hatte sie selbst aus einer Mischung aus Ruß und »Ghi«, einer selbstgestampften konzentrierten Butter, hergestellt.
Wenn sie fertig war, stand Pikay auf, rollte die Strohmatte zusammen und bekam auch einen Punkt mit Kajal mitten auf die Stirn, der ihn gegen böse Mächte schützte, wie die Mutter sagte. Außerdem bekam er etwas Ghi auf die Stirn. Draußen in der Sonne schmolz dann die Butter und lief ihm ins Gesicht. Die Butter war Kalabatis Art, dem Rest des Dorfes zu sagen, dass ihre Familie nicht arm war.
»Es können sich nicht alle Butter und Milch leisten«, sagte Kalabati. »Wir aber schon.«
Sieh nur, die Familie Mahanandia hat so viel Butter, dass sie dem Kind die Stirn hinunterläuft – das, so hoffte Kalabati, würden die Dorfbewohner denken.
Der Körper rein, die Haare gekämmt, Kajal und Butter auf der Stirn. So war Pikay bereit, dem neuen Tag zu begegnen.
Das Stammesvolk, zu dem seine Mutter gehörte, hatte Tausende von Jahren zwischen den Bäumen gejagt und auf den Lichtungen angebaut. Inzwischen stellten die meisten von Kalabatis Verwandten am Ufer des Stroms Ziegel her. Sie sammelten Lehm vom Boden des Flussbetts und formten und brannten Ziegelsteine. Nur Pikays Onkel jagte immer noch. Pikay bekam von ihm eine...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2015 |
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Übersetzer | Susanne Dahmann |
Zusatzinfo | mit zahlreichen S/W-Abbildungen und einer Karte |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller • Fahrrad • Fahrradreise • Fahrradtour • Glück • Happy End • Inder • Indien • Inspiration • inspirierende Geschichten • Liebe • Memoiren • New Delhi - Boras • Reise • Reisebericht • Reiseliteratur • Schicksal • Schweden • Sehnsucht • Tagebücher • Tour • wahre Lebensgeschichte |
ISBN-10 | 3-462-30919-6 / 3462309196 |
ISBN-13 | 978-3-462-30919-5 / 9783462309195 |
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