Die Straße (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05051-8 (ISBN)
Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco. Cormac McCarthy starb im Juni 2023 in Santa Fe, New Mexico.
Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco. Cormac McCarthy starb im Juni 2023 in Santa Fe, New Mexico. Nikolaus Stingl, geb. 1952 in Baden-Baden, übersetzte unter anderem William Gaddis, William Gass, Graham Greene, Cormac McCarthy und Thomas Pynchon. Er wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Paul- Celan-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.
In der Nacht wachte er auf und lauschte. Er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Wo sind wir?, sagte er.
Was ist denn, Papa?
Nichts. Alles in Ordnung. Schlaf weiter.
Wir schaffen es doch, oder, Papa?
Ja. Wir schaffen es.
Und uns wird nichts Schlimmes passieren?
Richtig.
Weil wir das Feuer bewahren.
Ja. Weil wir das Feuer bewahren.
Am anderen Morgen fiel ein kalter Regen. Er wehte trotz der Überführung über das Auto und tanzte auf der Straße dahinter. Sie saßen da und starrten durch das Wasser auf der Scheibe. Als der Regen endlich nachließ, war ein Großteil des Tages vorüber. Sie ließen die Jacketts und die Decke auf dem Boden vor dem Rücksitz liegen und gingen die Straße hinauf, um weitere Häuser zu durchsuchen. In der feuchten Luft Holzrauch. Den Hund hörten sie nicht mehr.
Sie fanden einige Utensilien und ein paar Kleidungsstücke. Ein Sweatshirt. Etwas Plastikfolie, die sie als Plane verwenden konnten. Er war sich sicher, dass sie beobachtet wurden, sah jedoch niemanden. In einer Speisekammer stießen sie auf Reste eines Sacks Maismehl, über den sich in jener lang vergangenen Zeit Ratten hergemacht hatten. Er siebte das Mehl durch ein Stück Fliegengitter, auf dem eine kleine Handvoll getrockneter Kot zurückblieb, dann entzündeten sie auf der Betonveranda des Hauses ein Feuer, machten Fladen aus dem Mehl und buken sie auf einem Stück Blech. Sie aßen sie langsam, einen nach dem anderen. Die wenigen, die übrigblieben, wickelte er in ein Stück Papier und steckte sie in den Rucksack.
Der Junge saß auf der Eingangstreppe, als er am hinteren Ende der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses eine Bewegung wahrnahm. Ein Gesicht sah ihn an. Ein Junge, ungefähr in seinem Alter, in einen zu großen Wollmantel mit aufgekrempelten Ärmeln gehüllt. Er stand auf. Er rannte über die Straße und die Einfahrt hinauf. Niemand da. Er blickte zum Haus hin und rannte dann durch das tote Unkraut bis zum hinteren Ende des Gartens, an einen stillen schwarzen Bach. Komm zurück, rief er. Ich tu dir nichts. Er stand immer noch da und weinte, als sein Vater über die Straße gerannt kam und ihn am Arm packte.
Was machst du denn da?, zischte er. Was soll denn das?
Da ist ein kleiner Junge, Papa. Da ist ein kleiner Junge.
Da ist kein kleiner Junge. Was soll denn das?
Doch, da ist ein kleiner Junge. Ich habe ihn gesehen.
Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht vom Fleck rühren. Habe ich dir das nicht gesagt? Jetzt müssen wir gehen. Komm.
Ich wollte ihn doch bloß sehen, Papa. Ich wollte ihn bloß sehen.
Der Mann nahm ihn beim Arm, und sie gingen durch den Garten zurück. Der Junge hörte nicht auf zu weinen und blickte sich immer wieder um. Komm schon, sagte der Mann. Wir müssen gehen.
Ich will ihn sehen, Papa.
Es gibt niemanden zu sehen. Willst du sterben? Ist es das, was du willst?
Das ist mir egal, sagte der Junge schluchzend. Das ist mir egal.
Der Mann blieb stehen. Er blieb stehen, ging in die Hocke und zog ihn an sich. Es tut mir leid, sagte er. Sag das nicht. Du darfst das nicht sagen.
Sie gingen durch die nassen Straßen zur Überführung zurück, holten die Jacketts und die Decke aus dem Auto, marschierten weiter zum Bahndamm, wo sie hinaufkletterten, die Gleise überquerten, in den Wald eintauchten, den Wagen holten und den Highway ansteuerten.
Und wenn der kleine Junge niemanden hat, der auf ihn aufpasst?, fragte er. Wenn er keinen Papa hat?
Dort sind Leute. Sie haben sich bloß versteckt.
Er schob den Wagen auf die Straße und blieb stehen. Er konnte die Spuren des Lastwagens in der feuchten Asche erkennen, schwach und ausgewaschen, aber vorhanden. Er meinte sie riechen zu können. Der Junge zog an seiner Jacke. Papa, sagte er.
Was denn?
Ich habe Angst um den kleinen Jungen.
Ich weiß. Aber ihm passiert schon nichts.
Wir sollten ihn holen, Papa. Wir könnten ihn holen und mitnehmen. Wir könnten ihn mitnehmen, und den Hund auch. Der Hund könnte was zu essen fangen.
Das geht nicht.
Und ich würde dem kleinen Jungen die Hälfte von meinem Essen abgeben.
Hör auf. Es geht nicht.
Er weinte wieder. Was wird aus dem kleinen Jungen?, schluchzte er. Was wird aus dem kleinen Jungen?
In der Dämmerung setzten sie sich an einer Kreuzung auf die Straße, und er legte die einzelnen Blätter der Karte auf den Boden und studierte sie. Er tippte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. Hier sind wir, sagte er. Genau hier. Der Junge sah nicht hin. Der Mann studierte das verschlungene Streckenmuster in Rot und Schwarz, den Finger auf die Kreuzung gelegt, wo er zu sein meinte. Als sähe er sie ganz klein dort kauern. Wir könnten zurückgehen, sagte der Junge leise. Es ist nicht so weit. Es ist nicht zu spät.
In einem Waldstück nicht weit von der Straße entfernt fanden sie einen trockenen Lagerplatz. Es gab keine geschützte Stelle, an der sie ein Feuer hätten machen können, das nicht zu sehen gewesen wäre, also machten sie keines. Jeder von ihnen aß zwei Maismehlfladen, dann schliefen sie, in die Jacketts und Decken gehüllt, aneinandergeschmiegt auf dem Boden. Er hielt den Jungen in den Armen, und nach einer Weile hörte der Junge zu zittern auf und schlief etwas später ein.
Der Hund, an den er sich erinnert, folgte uns zwei Tage lang. Ich versuchte erfolglos, ihn anzulocken. Ich machte eine Drahtschlinge, um ihn zu fangen. Im Revolver waren drei Patronen. Keine zu erübrigen. Sie entfernte sich die Straße hinunter. Der Junge schaute ihr nach, dann schaute er mich an und dann den Hund, und dann begann er zu weinen und um das Leben des Hundes zu bitten, und ich versprach, dem Hund nichts zu tun. Ein bloßes Skelett, über das sich die Haut spannte. Am nächsten Tag war er verschwunden. Das ist der Hund, an den er sich erinnert. An irgendwelche kleinen Jungen erinnert er sich nicht.
Er hatte eine Handvoll Rosinen in ein Tuch eingeschlagen und in die Tasche gesteckt, und gegen Mittag setzten sie sich in das tote Gras am Straßenrand und aßen sie. Der Junge sah ihn an. Das ist alles, was noch da ist, stimmt’s?, fragte er.
Ja.
Müssen wir jetzt sterben?
Nein.
Was machen wir jetzt?
Wir trinken ein bisschen Wasser. Dann gehen wir weiter die Straße entlang.
Okay.
Am Abend stapften sie auf der Suche nach einer Stelle, an der ihr Feuer nicht zu sehen sein würde, über ein Feld. Zogen den Wagen hinter sich her über die Erde. So wenig Verheißungsvolles in diesem Land. Morgen würden sie etwas zu essen auftreiben. Die Nacht holte sie auf einer matschigen Straße ein. Sie bogen auf das Feld ab und trotteten einem fernen Gehölz entgegen, das sich hart und schwarz vor dem letzten Rest der sichtbaren Welt abzeichnete. Bis sie dort anlangten, war es finstere Nacht. Er hielt den Jungen bei der Hand, schob mit dem Fuß Zweige und Buschwerk zusammen und machte Feuer. Das Holz war feucht, aber er schälte mit seinem Messer die tote Rinde ab und schichtete Buschwerk und Stöcke um das Feuer herum, damit sie in der Hitze trockneten. Dann breitete er die Plastikplane auf dem Boden aus, holte Jacken und Decken aus dem Wagen, zog sich und dem Jungen die feuchten, schlammverkrusteten Schuhe aus, und dann saßen sie da, die Hände zu den Flammen hingestreckt. Er überlegte, was er sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein. Er hatte dieses Gefühl, das über die Benommenheit und dumpfe Verzweiflung hinausging, schon einmal gehabt. Dass die Welt auf einen rohen Kern nicht weiter zerlegbarer Begriffe zusammenschrumpfte. Dass die Namen der Dinge langsam den Dingen selbst in die Vergessenheit folgten. Farben. Die Namen von Vögeln. Dinge, die man essen konnte. Schließlich die Namen von Dingen, die man für wahr hielt. Zerbrechlicher, als er gedacht hätte. Wie viel war schon verschwunden? Das heilige Idiom wurde seiner Bezüge und damit seiner Wirklichkeit beraubt. Zog sich zusammen wie etwas, das Wärme zu halten versucht. Und irgendwann endgültig erlöschen wird.
In ihrer Erschöpfung schliefen sie die Nacht durch, und am Morgen war das Feuer nur noch tote schwarze Asche. Er zog seine schlammverkrusteten Schuhe an und blies, während er Holz sammeln ging, auf seine gewölbten Hände. So kalt. Es könnte November sein. Oder auch später. Er zündete ein Feuer an und ging bis an den Rand des Waldstückes, wo er stehen blieb und auf die Landschaft hinausblickte. Die toten Felder. In der Ferne eine Scheune.
Sie marschierten los, die ungepflasterte Straße entlang über einen Hügel, wo einmal ein Haus gestanden hatte. Es war vor langer Zeit abgebrannt. Im schwarzen Wasser des Kellers stand die verrostete Form eines Heizkessels. Eingedellt auf den Feldern, wo der Wind sie hingeweht hatte, Stücke von verkohltem Dachblech. In der Scheune ergatterten sie auf dem staubigen Boden eines Stahlblechsilos ein paar Handvoll irgendeines Getreides, das er nicht erkannte und das sie mitsamt dem Staub an Ort und Stelle aßen. Dann machten sie sich über die Felder auf den Weg zur Straße.
Sie folgten einer Steinmauer, vorbei an den Überresten eines Obstgartens. Die Bäume in ihren ordentlichen Reihen verkrümmt und schwarz, der Boden dicht mit abgebrochenen Ästen bedeckt. Er blieb stehen und blickte über die Felder. Wind im Osten. Die weiche Asche in den Furchen bewegte sich, kam zum Stillstand, bewegte sich erneut. Er hatte das alles schon gesehen. Auf den Grasstoppeln Formen aus getrocknetem Blut und Eingeweideschlingen, wo man die Erschlagenen ausgeweidet und fortgeschleppt hatte. Die Mauer dahinter zierte ein Fries von...
Erscheint lt. Verlag | 27.2.2015 |
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Übersetzer | Nikolaus Stingl |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amerikanische Literatur • Apokalypse • Dystopie • Endzeit • Endzeit Literatur • Existenzkampf • Film • Postapokalypse • postapokalyptische Literatur • Pulitzer-Preis • Überleben • Überlebenskampf • Überlebenswillen • USA • US-Literatur • Vater/Sohn • Weltuntergang • Zukunft |
ISBN-10 | 3-644-05051-1 / 3644050511 |
ISBN-13 | 978-3-644-05051-8 / 9783644050518 |
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