Lieber aufgeregt als abgeklärt (eBook)

Essays

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30899-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lieber aufgeregt als abgeklärt -  Eva Menasse
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»Wer den Mund aufmacht, macht sich angreifbar.« In Eva Menasses Essays und Reden lassen sich das Temperament und die unbändige Formulierlust dieser Autorin noch einmal neu entdecken: in liebevoll-boshaften Langzeitbeobachtungen über Deutsche und Österreicher, in engagierten politischen Interventionen, aber auch in leidenschaftlichen Bekenntnissen zu Lieblingsautoren wie Richard Yates, Alice Munro und Ulrich Becher. Ein besonderes Augenmerk gilt der öffentlichen Rolle des Schriftstellers, ein Feld, auf dem man in Deutschland bekanntlich nur alles falsch machen kann.Die Heinrich-Böll-Preisträgerin des vergangenen Jahres versucht zu ergründen, was der Preispatron heute denken, schreiben, tun würde. Sie hadert mit Günter Grass und hält ihm doch eine Geburtstagsrede, sie preist das literarisch-musikalische Genie Georg Kreislers und dankt Imre Kertész für die Mühe, die er sich und seinen Lesern mit seiner unerbittlichen literarischen Genauigkeit macht. Eva Menasses pointierte und elegante Texte werfen erfrischende Blicke auf die Gegenwart und beweisen die Relevanz von Literatur. Sie beziehen Stellung, sie sind ein starkes Plädoyer gegen Lauheit - und ein Lektüregenuss. »Der Gebrauch der Literatur ist mühsam. Sie stellt mehr Fragen, als sie Antworten gibt. Wenn sie antwortet, dann nicht auf die Fragen, die wir gestellt haben. Sie hat dunkle Falten und trübe Winkel, nur deshalb leuchtet sie und deshalb klärt sie auf.«

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Nicht christlich, sondern krank


Zur Debatte um die Präimplantationsdiagnostik

Im Leben eines Menschen gibt es nichts Schlimmeres als den Tod des eigenen Kindes. Eine besondere Spielart dieses absoluten Horrors ist die Totgeburt oder der frühe Kindstod. Im Mutterleib und direkt danach ist das menschliche Leben am empfindlichsten, am rätselhaftesten, am wunderbarsten. Wenn das Mysterium der Geburt mit dem Tod zusammenfällt, berührt es auch den Unbeteiligten tief und eiskalt; es erscheint so falsch, grausam und pervers.

Für die Frauen, die ein totes Kind gebären mussten, ist es eine Lebenskatastrophe, die unter Umständen niemals heilt.

Aber selbst die »normale« Fehlgeburt, wo der Körper die Frucht in den ersten drei Monaten abstößt, weil sie nicht gesund war, ist eine schwere psychische Belastung, die einer langen Zeit der Verabschiedung, Trauer und Verarbeitung bedarf. Die Therapeuten wissen das. Die Frauen, die es durchleiden mussten, wissen das. Und ihre Männer, die Beinahe-Väter, wissen das auch. Oft wissen es sogar die Pfarrer.

Wer es nicht weiß, ist unsere Gesellschaft als Kollektiv und unsere Bundeskanzlerin. Vielleicht ist das der letzte Bereich, wo unsere ach so fortschrittliche, aufgeklärte Gesellschaft, die ansonsten jeden Autounfall als traumatisierungsträchtig erkennt, noch zutiefst männlich geprägt und hundertprozentig frauenfeindlich ist. Es ist jedenfalls der einzige Bereich, wo es für Frauen geradezu verstörend ist, dass der Bundeskanzler konservativ und weiblich ist. Denn über Fehl- und Totgeburten und ihre Folgen redet man nicht. Es ist ein Tabu. Man redet auch nicht darüber, dass man die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen muss, weil man auf »normalem Weg« keine Kinder bekommen kann. Das alles sind »Frauensachen«, die umgehend »weggesteckt« werden müssen, das haben andere doch auch geschafft.

Angela Merkel hat sich nun ausgesprochen für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der Embryonen nach der künstlichen Befruchtung auf genetisch bedingte Krankheiten untersucht werden. Teile der SPD und der Grünen wollen sich der Kanzlerin anschließen. Dies bedeutet ganz einfach, dass gewisse Frauen per Gesetz dazu gezwungen werden, vorhersehbare Fehlgeburten und Spätabtreibungen zu erleiden. Dass gewisse Eltern ihre neun Monate lang getragenen, geborenen, aber dann nicht lebensfähigen Kinder sterben sehen müssen. Dass sie vielleicht nie ein gesundes Kind bekommen.

Obwohl das nicht sein müsste.

Es wird behauptet, dass der Gesetzgeber zwischen schweren und nicht so schweren Krankheiten entscheiden müsste, selbst wenn er nur die engste Form der PID, also ausschließlich für genetisch schwer vorbelastete Paare, erlauben würde. Doch darum geht es nicht. Es geht auch nicht darum, Herr über Leben und Tod zu spielen, wie manche Konservative mit ganz unchristlich selbstgefälligen Mundwinkeln sagen und sich dabei ihrem Platz im Paradies gewiss schon nahe fühlen.

Es ginge schlicht und einfach darum, sich innerhalb der bereits bestehenden Gesetzeslage verhältnismäßig und rational zu verhalten. Um etwas Sinnvolles zum Thema PID sagen und entscheiden zu können, muss man das ganze Bild in Augenschein nehmen, alles, was in diesem heiklen Bereich erlaubt und was verboten ist, von der Zeugung bis zur Geburt.

Die Verhältnisse sind nämlich so: Jede Frau in Deutschland kann jedes gesunde Kind, das sie nicht haben möchte, bis zur zwölften Lebenswoche abtreiben lassen. Das ist ein Recht, das die Frauenbewegung, besonders unterstützt von den Grünen, vor Jahrzehnten durchgekämpft hat, auf das sie stolz ist und das nicht zurückgenommen werden kann und darf.

Zweitens: In den letzten Jahren hat die vorgeburtliche Diagnostik große Fortschritte gemacht. Man darf und will die ungeborenen Kinder im Mutterleib auf alles Mögliche untersuchen. Es ist natürlich schön zu erfahren, dass das Ungeborene gesund ist. In einer ängstlichen Gesellschaft lassen Frauen heute aber wahrscheinlich zu vieles zu. Sie wollen die Gewissheit, dass alles in Ordnung ist. In der Regel haben sie sich vorher nicht gefragt, wie sie mit einer schlechten Nachricht umgehen würden. Diese schlechte Nachricht, oder nur die schlechte Prognose (und was gibt es in diesem Bereich oft für Fehldiagnosen, wo auch gesunde Kinder als krank angekündigt werden!), stürzt werdende Eltern in kaum aushaltbare Konflikte. Was für ein Kind bin ich bereit zu ertragen, obwohl ich es noch nicht einmal gesehen und im Arm gehalten habe?

Die absurde Angst vor dem Down-Syndrom zum Beispiel ist ja nur entstanden, weil man das ungeborene Kind zweifelsfrei darauf testen kann. Sie führt dazu, dass erheblich mehr gesunde Babys verloren gehen als überhaupt Down-Syndrom-Babys entdeckt werden. Denn die Entnahme des Fruchtwassers – in dem man eben nichts anderes als das Down-Syndrom und andere, extrem seltene Chromosomenanomalien sowie Neuralrohrdefekte feststellen kann – ist ein Eingriff, der die Schwangerschaft jeder hundertsten Frau beendet. Und trotzdem empfehlen manche Ärzte ihn nicht nur, sondern üben – angeblich aus Angst vor Schadenersatzforderungen – sogar Druck auf die Frauen aus, besonders, wenn diese über fünfunddreißig sind. Einer Freundin, die nach mehreren Fehlgeburten endlich »richtig« schwanger war und diese Untersuchung gut aufgeklärt verweigerte, wurde mit schwerem Geschütz zugesetzt: »Ein behindertes Kind bürden Sie nicht nur sich, sondern auch der Gesellschaft auf!«

Was aber, wenn die Untersuchung durchgeführt und die Nachricht schlecht, wirklich schlecht ist und die Eltern ein schwer- oder schwerstbehindertes Kind auf gar keinen Fall bekommen wollen? Für diese zum Glück extrem seltenen Fälle gibt es die Spätabtreibung, zu jedem Zeitpunkt vor Einsetzen der Wehen, also bis unmittelbar vor der natürlichen Geburt.

»Spätabtreibung« aber ist ein Euphemismus für einen der grässlichsten Vorgänge, die in Deutschland gesetzlich erlaubt sind. Es bedeutet: Das Ungeborene wird mit einer Spritze ins Herz, durch die Bauchdecke der Mutter, getötet, dann werden die Wehen eingeleitet, und das Kind wird auf normalem Wege geboren. Das dauert so lange, wie es eben dauert, eine »normale Geburt«, viele Stunden, um ein krankes, bereits totes Kind loszuwerden. Würde man das Kind ohne Giftspritze einfach zu früh zur Welt kommen lassen und es lebte, hätten die Ärzte nämlich die Pflicht, alles für sein Weiterleben zu tun, so wie sie es ja auch für die Frühchen tun. Deshalb muss man es vorher totspritzen. Jene Frauen, die das in einer Panikreaktion nach einer niederschmetternden Diagnose machen ließen, werden diesen Schatten auf ihrer Seele meist bis an ihr Lebensende nicht mehr los.

Es war ein richtiger Schritt der letzten Regierung, die Abläufe in diesen wenigen, tragischen Fällen etwas besser zu regeln. Es gibt jetzt eine Bedenkzeit, die eingehalten werden muss, und eine Pflicht zur umfassenden Beratung.

Aber angesichts solcher Fälle, und angesichts von hundertzehntausend ganz normalen deutschen Abtreibungen pro Jahr, ist jeglicher »Embryonenschutz« in der ersten Woche nach der Befruchtung eine vollkommen irrationale, menschenverachtende Groteske.

Gefragt wird: Wann beginnt das Leben? In Deutschland streitet man erbittert über einen Zeitkorridor von vierundzwanzig Stunden nach der Befruchtung. Wegen dieser Haarspaltereien müssen in der deutschen Reproduktionsmedizin befruchtete Eizellen im »Vorkernstadium« eingefroren werden, also noch bevor sich die Kerne von Ei- und Samenzelle vollständig vereinigt haben. Und wenn sie sich vereinigt haben, müssen alle Embryonen in den Körper der Mutter eingesetzt werden. Obwohl es oft gute Gründe gäbe, nur ausgewählte zurückzusetzen.

Doch ein wenige Tage alter Embryo ist – bei höchstem Respekt vor dem menschlichen Leben! – kein Mensch. Es ist ein Zellhaufen mit Menschpotenzial. Deswegen stellen die Juden, ein ebenso familienfreundliches wie ethisch geschultes Volk, schon die Ausgangsfrage anders: Sie fragen, wann etwas »beseelt« ist. Ein Embryo in der ersten Lebenswoche ist es dieser Auffassung nach nicht. Deshalb kann man ihn sowohl untersuchen wie verwerfen; deshalb ist Israel eines der Länder mit der freizügigsten Reproduktionsmedizin.

Die Natur sortiert missglückte, kranke Embryonen im Normalfall in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft aus. Hier liegt auch die Grenze für den legalen Schwangerschaftsabbruch, deshalb sind die Spirale und die »Pille danach« erlaubt, die beide – in einem viel früheren Stadium – befruchtete Eizellen zum Abort zwingen. Aber hier weiß es unser Gesetzgeber besser als selbst die Natur und schützt den Zellhaufen sogar noch früher.

Alle diese bizarren Details wissen nur Betroffene. Sie schweigen still, denn sie schämen sich für ihr Unvermögen, auf normalem Wege Kinder zu bekommen. Sie lassen es unwidersprochen zu, dass man ihnen den Wunsch nach »Designerbabys« unterstellt oder dass sie »Gott spielen« wollten. In Österreich hat mir ein hochrangiger Politiker der Grünen einmal gesagt, man solle Kinderlosigkeit als Schicksal annehmen. Natürlich war es ein Mann, natürlich ein Katholik, und natürlich hat er selbst Kinder. Und gewiss würde er einen Blinddarmdurchbruch oder eine verengte Herzarterie nicht als Schicksal annehmen, sondern zum Arzt gehen.

Eine PID brauchen Paare, deren auf normalem Weg gezeugte Kinder ein erhebliches Risiko haben, genetisch schwer geschädigt zu sein. Das wissen diese Paare nicht von Anfang an; im Normalfall haben sie von diesem Schicksal erst durch ihr erstes,...

Erscheint lt. Verlag 9.2.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 2 Erzählungen • Autoren • Beobachtungen • Der Holocaust vor Gericht • Deutsche • Essays • Eva Menasse • Journalistin • Kritik • Kulturkorrespondentin • Lässliche Todsünden • Literatur • Literatur-Kritik • Österreicher • Politik • Publizistin • Quasikristalle • Redakteurin • Reden • Vienna
ISBN-10 3-462-30899-8 / 3462308998
ISBN-13 978-3-462-30899-0 / 9783462308990
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