Der Schatten des Folterers (eBook)

Das Buch der Neuen Sonne, Band 1 - Roman

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
Heyne (Verlag)
978-3-641-12639-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Schatten des Folterers -  Gene Wolfe
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Aufbruch in eine ungewisse Zukunft
Eine Million Jahre in der Zukunft: Die Technik ist bis auf wenige Rest verschwunden. Die Menschheit fiel kulturell ins Mittelalter zurück und harrt der Ankunft der neuen Sonne, die ein neues Zeitalter herbeiführen soll. Dies ist die Geschichte Severians, eines Waisenjungen, der in der Zunft der Folterer aufwächst und dieses Handwerk erlernt. Doch als er eines Tages aus Mitleid einer Frau den Selbstmord gestattet, wird er aus dieser Zunft ausgestoßen. Doch anstatt selbst gefoltert und hingerichtet zu werden, schickt die Gilde ihn nach Thrax, einer weit entfernten Stadt, die einen Henker braucht. Severian macht sich auf eine Reise, die sein Leben für immer verändern wird ...

Gene Wolfe wurde 1931 in New York City geboren. Schon während seiner Studienzeit veröffentlichte er seine erste Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten. Doch er dauerte noch, bis er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete: Jahrelang arbeitete er als Ingenieur und entwarf unter anderem die Maschine, die Pringles-Chips ihre Form gibt. Vor allem mit seinem Zyklus 'Das Buch der Neuen Sonne' erlangte Gene Wolfe große Bekanntheit; die einzelnen Romane wurden mehrfach ausgezeichnet. Wolfe lebt in Peoria, Illinois.

I. Tod und Auferstehung


 

Vielleicht ist das bereits ein Omen für meine Zukunft gewesen. Das verschlossene, rostige Tor vor uns, durch dessen Gitterstäbe sich Nebelfetzen vom Fluss schlängeln, bleibt in meiner Vorstellung das Symbol für mein Exil. Deshalb beginne ich meine Erzählung mit den Nachwirkungen unseres Bades im Fluss, wobei ich, der Folterlehrling Severian, beinahe ertrunken wäre.

»Der Wächter ist nicht mehr da.« So sprach mein Freund Roche zu Drotte, der das selbst schon bemerkt hatte.

Unsicher schlug der Knabe Eata vor, außen herum zu gehen. Sein schmächtiger, sommersprossiger Arm zeigte zur abertausend Schritt langen Mauer, die sich durch das Elendsviertel bahnte, hinauf über den Berg stieg und schließlich in die hohe Ringmauer der Zitadelle mündete. Das war ein Weg, den ich viel später gehen würde.

»Ohne Geleitbrief durch das Außenwerk? Man würde uns Meister Gurloes melden.«

»Wie kommt's, dass der Wächter nicht da ist?«

»Egal.« Drotte rüttelte am Tor. »Eata, versuch, zwischen den Stäben durchzukommen.«

Da Drotte unser Anführer war, schob Eata einen Arm und ein Bein durch das Eisengitter, aber wie sich sofort herausstellte, war es aussichtslos sich ganz hindurchzuzwängen.

»Es kommt jemand«, flüsterte Roche. Drotte zog Eata heraus.

Ich blickte die Straße hinunter. Laternen schaukelten dort inmitten von Schritten und Stimmen, die der Nebel halb verschluckte. Ich hätte mich versteckt, doch Roche hielt mich fest. »Warte, ich sehe Piken!«

»Ob das die zurückkehrende Wache ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Sind zu viele.«

»Mindestens ein Dutzend«, sagte Drotte.

Wir warteten, immer noch nass vom Wasser des Gyoll. In meiner Vorstellung sehe ich uns noch jetzt zitternd dort stehen. Genau wie alles, was ewig scheint, dem Untergang zustrebt, so leben solche Augenblicke, die seinerzeit am schnellsten verflogen sind, wieder auf – nicht nur in meiner Erinnerung (die sich als lückenlos erweist, wenn ich Rückschau halte), sondern auch als Herzklopfen und Kribbeln auf der Haut; sie erneuern sich, genau wie unsere Republik sich mit jedem morgendlichen Weckruf hellklingender Trompeten neu festigt.

Die Männer trugen keine Rüstungen, wie ich im schwachen, gelben Schein der Laternen sehen konnte; aber sie hatten Piken, wie Drotte festgestellt hatte, und Knüttel und Streitäxte. Dem Anführer hing ein langer, zweischneidiger Dolch am Bauchgurt. Mir wichtiger war, dass an seinem Hals an einer Schnur ein schwerer Schlüssel baumelte; der Form nach hätte er in das Schloss des Tores passen können.

Der kleine Eata zappelte vor Aufregung, als der Anführer uns sah und die Laterne über den Kopf hob. »Wir warten darauf, eingelassen zu werden«, rief Drotte dem Mann zu. Er war der größere, aber in sein dunkles Gesicht trat respektvolle Bescheidenheit.

»Nicht vor Sonnenaufgang«, entgegnete der Anführer barsch. »Geht lieber heim, Burschen!«

»Der Wächter sollte uns einlassen, aber er ist nicht mehr da.«

»Heut' Abend kommt ihr nicht mehr rein.« Der Anführer hatte die Hand ans Heft seines Dolches gelegt, ehe er einen Schritt näherkam. Für einen Moment befürchtete ich, er habe uns erkannt.

Drotte wich zurück, und wir übrigen blieben hinter ihm. »Wer bist du? Ihr seid keine Soldaten.«

»Wir sind die Freiwilligen«, antwortete einer der anderen. »Wir bewachen unsere Toten.«

»Dann könnt ihr uns reinlassen.«

Der Anführer hatte sich abgewandt. »Keiner außer uns kommt rein.« Sein Schlüssel knirschte im Schloss, und quietschend ging das Tor auf. Bevor man ihn daran hindern konnte, war Eata hineingeflitzt. Jemand fluchte, und der Anführer rannte mitsamt zwei anderen hinter Eata her, aber dieser war zu flink. Wir sahen seinen flachsblonden Haarschopf und sein Hemd voller Flicken im Zickzack zwischen den eingesunkenen Gräbern armer Leute sausen und weiter oben in einem Statuenwald verschwinden. Drotte wollte ihm folgen, aber zwei Männer packten ihn an den Armen.

»Wir müssen ihn finden. Wir wollen keine Leichen rauben.«

»Weshalb wollt ihr überhaupt rein?«, fragte einer der Freiwilligen.

»Zum Kräutersammeln«, belehrte ihn Drotte. »Wir sind Apothekergehilfen. Wollt ihr denn nicht, dass die Kranken gesund werden?«

Der Freiwillige sah ihn erstaunt an. Der Mann mit dem Schlüssel hatte seine Laterne fallengelassen, als er Eata nachsetzte, so dass nur mehr zwei übrig waren. In ihrem schwachen Licht sah ich das dumme, unbedarfte Gesicht des Freiwilligen, der vermutlich irgendein Arbeiter war.

Drotte fuhr fort: »Ihr müsst wissen, dass bestimmte Heilpflanzen ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn sie von Graberde bei Mondschein geerntet werden. Bald kommt der erste Frost, der alles zerstört, aber zuvor brauchen unsere Meister ihren Wintervorrat. Die drei Herren erwirkten, dass man uns heute Abend hier einlässt, und ich lieh mir zum Helfen diesen Knaben von seinem Vater.«

»Ihr habt nichts bei euch zum Kräutersammeln.«

Noch immer bewundere ich Drotte dafür, was er als nächstes getan hat. Er sagte: »Wir sollen sie zum Trocknen in Büschel binden«, und zog ohne jegliches Zögern ein Stück gewöhnlicher Schnur aus der Tasche.

»Ich verstehe«, antwortete der Freiwillige. Es war offensichtlich, dass er nichts verstand. Roche und ich rückten langsam näher zum Tor.

Drotte indes trat ein Stück zurück. »Wenn ihr uns die Kräuter nicht sammeln lasst, gehen wir lieber wieder. Ich glaube nicht, dass wir den Knaben jetzt noch dort drinnen finden können.«

»Nein, ihr geht nicht! Er muss raus!«

»Also gut«, erwiderte Drotte unwillig, und wir gingen hinein, gefolgt von den Freiwilligen. In bestimmten Mythen wird behauptet, die wirkliche Welt sei vom menschlichen Verstand geschaffen, da unsere Wege von den künstlichen Kategorien gelenkt werden, in die wir eigentlich unterschiedslos Dinge packen – Dinge, die schwächer sind als unsere Wörter dafür. Intuitiv verstand ich diesen Grundsatz in jener Nacht, als ich den letzten Freiwilligen hinter uns das Tor schließen hörte.

Einer, der bis jetzt stumm gewesen war, sagte: »Ich werd' bei meiner Mutter Wache halten. Wir haben schon viel Zeit verloren. Inzwischen könnten sie sie meilenweit verschleppt haben.«

Murmelnd pflichteten einige der übrigen Männer ihm bei, und die Gruppe zerstreute sich allmählich, wobei eine Laterne nach links, die andere nach rechts wanderte. Wir gingen über den Mittelweg (den wir immer nahmen, wenn wir zum eingestürzten Stück der Zitadellenmauer zurückkehrten), begleitet von den restlichen Freiwilligen.

Es ist meine Art, meine Freude und mein Fluch, nichts zu vergessen. Jedes Kettenrasseln, jeden heulenden Windstoß, jeden Anblick, jeden Geruch und Geschmack behalte ich unverändert in Erinnerung, und wiewohl ich weiß, dass es nicht jedermann so ergeht, kann ich mir nicht vorstellen, wie es anders wäre; als ob man geschlafen hätte, obschon das Erlebnis lediglich weit zurückliegt. Jene paar Schritte auf dem fahlen Pfad leben nun wieder bildhaft vor mir auf: Kalt war's, und es wurde noch kälter; wir hatten kein Licht, und allen Ernstes rollten nun vom Gyoll her die Nebelschwaden an. Ein paar Vögel flatterten, einen Schlafplatz in den Pinien und Zypressen suchend, aufgeregt von Baum zu Baum. Wie es sich anfühlte, als ich mir mit den Händen die Arme rieb; wie die Laternen ein Stück weit entfernt zwischen den Grabsäulen schaukelten; wie der Nebel den Geruch des Flusswassers aus meinem Hemd herausholte und die Würze der in einer neuen Umdrehung liegenden Erde zutage treten ließ: an all das erinnere ich mich. Ich wäre an diesem Tag beinahe gestorben, im Wurzelgewirr erstickt; diese Nacht sollte den Beginn meines Mannseins markieren.

Dann fiel ein Schuss, der erste, den ich erlebt hatte; der violette Energieblitz spaltete die Dunkelheit wie ein Keil und endete mit einem Donnerschlag. Irgendwo stürzte tosend ein Monument ein. Daraufhin wieder Stille … in der sich alles um mich herum aufzulösen schien. Wir fingen zu laufen an. Männerstimmen, weit weg. Ich hörte das Klirren von Stahl auf Stein, als hätte jemand mit einer Hellebarde eine Gedenktafel getroffen. Ich rannte einen Pfad entlang, der mir (zumindest meinte ich das damals) völlig unbekannt war; diese mit Knochen geschotterte Wegzeile, die so schmal war, dass nur zwei nebeneinander darauf passten, führte in ein kleines Tal hinab. Im Nebel konnte ich nichts außer den dunklen Grabsteinhaufen zu beiden Seiten erkennen. Ganz plötzlich, als hätte man mich gepackt und an eine andere Stelle gesetzt, war der Pfad unter meinen Füßen verschwunden – vermutlich hatte ich eine Kurve übersehen. Ich wandte mich jäh seitwärts, um einer Statue auszuweichen, die plötzlich vor mir auftauchte, und stieß mit voller Wucht gegen einen Mann in einem schwarzen Umhang.

Er war hart wie eine Mauer; beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und bekam keine Luft mehr. Ich hörte ihn Verwünschungen knurren, dann ein Zischen, als er seine Waffe schwang. Eine andere Stimme rief: »Was war das?«

»Jemand ist gegen mich gelaufen. Schon wieder weg, wer immer es gewesen sein mag.«

Ich lag still.

Eine Frau befahl: »Die Lampe an!« Ihre Stimme klang wie ein Taubenruf, aber mit einem dringlichen Unterton.

Der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, erwiderte: »Dann würden sie über uns herfallen wie eine Meute von Bluthunden, Madame.«

»Das werden sie sowieso bald – Vodalus hat gefeuert. Du musst es gehört haben.«

»Wird sie eher zurückscheuchen.«

Mit einem Tonfall, den ich in meiner Unbedarftheit nicht als den Akzent eines Beglückten erkannte, sagte der...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2015
Reihe/Serie Das Buch der Neuen Sonne-Reihe
Übersetzer Reinhard Heinz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Shadow of the Torturer
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Das Buch der Neuen Sonne • Das Buch der Neuen Sonne, Gene Wolfe, Science Fantasy, diezukunft.de • diezukunft.de • eBooks • Fantasy • Gene Wolfe • Science Fantasy
ISBN-10 3-641-12639-8 / 3641126398
ISBN-13 978-3-641-12639-1 / 9783641126391
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