Marias letzter Tag (eBook)

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2015
cbt (Verlag)
978-3-641-15073-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Marias letzter Tag - Alexandra Kui
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Der Sommer ohne Angst
Jeder hat Angst: vor der Euro-Krise, dem steigenden Flusspegel, dem Notendurchschnitt. Lous beste Freundin Maria hat Angst, wie ihre Mutter an Krebs zu erkranken. Als sie von einem Zug erfasst wird und nur knapp überlebt, sprechen alle von versuchtem Selbstmord. Daraufhin ruft Lou den Sommer ohne Angst aus. Ihr Plan: zu leben, als sei es ihr letzter Tag. Tun, wovor sie sich immer gefürchtet hat. Sich fühlen, wie Maria sich gefühlt hat. Ihre selbstgedrehten Videos postet Lou auf ihrem YouTube-Channel, dem sie den Titel »Marias letzter Tag« gibt. Rasant steigt die Zahl der Klicks, es entsteht eine Bewegung der Angstverweigerer. Die Mitschüler, Freunde und Fans übertrumpfen sich mit immer gefährlicheren Aktionen. Und irgendwann verliert Lou die Kontrolle ...

Alexandra Kui wurde 1973 in Buxtehude geboren. Sie studierte Soziologie in Hamburg und arbeitete für verschiedene Tageszeitungen, bevor sie anfing, Bücher zu schreiben. Nach den Krimis »Blaufeuer«, verfilmt fürs ZDF unter dem Titel »Der Tote im Watt«, und »Wiedergänger« veröffentlichte die Autorin, die auf der Geest bei Hamburg lebt, mehrere Jugendthriller sowie literarische Jugendromane bei cbj.

Schlaflos

Nacht über der Titanic. Das Schwarz ist vollkommen, kein Mond, keine Sterne. Die schlimmste Etappe der Nacht, die letzten Stunden vor der Dämmerung, die Dunkelheit drückt gegen die Fenster, will rein, denn kälter als jetzt wird es nicht mehr. Egal ob Sommer oder Winter, Plus- oder Minusgrade, immer und immer wieder, weit nach Mitternacht, gibt es diesen Tiefpunkt. Ein Eisberg, der gerammt werden will, jede Nacht.

Ich höre den Regen aufs Dach prasseln, Tropfen hart wie Kiesel, der Fernseher muss lauter, sonst kommt er gegen die Nacht nicht an. Die Fernbedienung ein Tropf mit überlebenswichtiger Medizin in meiner linken Hand. Die Gewissheit, dass die Welt da draußen noch pulsiert. Dass ich ein Teil von ihr bin – und am Leben.

Ich werde sterben.

Lautstärke zehn, elf, zwölf. Immer noch zu leise, aber mehr ist nicht drin. Im ersten Stock, direkt unter mir, brauchen meine Eltern ihren Schlaf. Ich schalte um. Ein dicklicher Engländer, der schnell redet, kocht ein schnelles Essen. Auf einem anderen Sender marschieren schlanke Soldaten in Schwarz-Weiß schweigend und langsam los, um einen Weltkrieg zu verlieren. Der NDR zeigt Amerika in HD, Grand Canyon von oben, die Stimme des Sprechers ist ein langer, ruhiger Fluss ohne Stromschnellen, anders als der Colorado, der am Grund der Schlucht fließt. Der sie überhaupt erst geformt hat. Der Colorado ist wild und wütend. Wie unbezwingbar Wasser sein kann, das weiß bei uns jedes Kind. Eine neue Erkenntnis: Colorado heißt roter Schlamm. Hier im Norden, im nassen Dreieck, ist Schlamm immer schlammfarben.

Wenn mich einer zum Einschlafen bringen kann, dann dieser Amerika-Märchenonkel mit seinem sonoren Bass. Er bekommt seine Chance, aber er nutzt sie nicht. Ich nutze sie nicht, denn ich bin wach. Wacher. Hellwach. So wach, wie ich tagsüber in der Schule sein müsste. Wach wie das Kaninchen vor der Schlange. Wie Frederick Fleet (der Matrose im Ausguck der berühmteren Titanic) im Angesicht des Eisbergs.

Der Regen wird lauter, die Dunkelheit drückt härter, mit aller Kraft. Nur die Nacht ist noch wacher als ich. Meine Beine und Arme kribbeln, ich setze mich auf, möchte schreien und lasse es bleiben, lege mich wieder hin.

Als die Türklinke sich bewegt, schließe ich die Augen, nehme eine für mich typische Schlafhaltung ein, Seitenlage, Beine angewinkelt, Kopf tief in der Armbeuge vergraben. Meine Mutter schleicht ins Zimmer, ich spüre einen schwachen Windhauch, dann ihren Blick, wie er mich von oben bis unten abtastet. Das Kribbeln ist kaum auszuhalten. Als würden die Muskeln für die Stimme das Schreien übernehmen. Jetzt bloß nicht blinzeln.

»Bist du wieder vorm Fernseher eingeschlafen?«

Nein, ich bin wieder vor dem Fernseher nicht eingeschlafen. Tröste mich!

Über meine Lippen kommt kein Wort, ich liege schlaff und reglos da wie eine Puppe, nur das Zittern meiner Lider bleibt unkontrollierbar und macht mich verdächtig.

Mama weiß Bescheid, weil sie meine Mutter ist, eine Rolle, die sie ganz gut beherrscht, wie ich finde, nicht perfekt, aber für eine unperfekte Tochter wie mich muss es reichen. Mehr Kinder hat sie nie gewollt und auch nicht gekriegt.

»Du kannst nicht die ganze Nacht fernsehen, Lou. Das geht nicht.«

Sie hat es so kommen sehen, war strikt dagegen, den Fernseher für mein Zimmer zu kaufen. Zu groß, zu ungesund, Geldverschwendung. Reicht denn nicht der Computer? Das lächerlich überteuerte iPhone? Das Getippe und Gebrabbel und Gedaddel tagein, tagaus? Nein, nein und nochmals nein! Am Ende stand es zwei zu eins gegen sie. Auf meinen Vater ist in solchen Dingen Verlass. Der Rubel muss rollen, ist seine Devise. Kaufen oder sich verkauft fühlen. Wofür geht er schließlich arbeiten!

Ein Schatten über meinem Gesicht, Mamas Duft, derselbe wie früher beim Gutenachtgeschichten-Vorlesen. Zimt und Honig. Meine Lieblingsgeschichte war Nils Holgersson (der mit den Wildgänsen davonfliegt). Nicht um ihre Hand auf meine Stirn zu legen, beugt sie sich über mich (das ist schon okay, ich bin schließlich kein Kleinkind mehr), sie hat es auf die Fernbedienung abgesehen. Ich umklammere das längliche Stück Plastik, so fest es geht.

»Der Fernseher bleibt an.«

»Lou!«

»Lass los. Der Fernseher bleibt an.«

»Du musst jetzt schlafen. Morgen ist Schule.«

»Ich kann aber besser schlafen, wenn der Fernseher an ist.«

Was keineswegs gelogen ist. Besser heißt ja nicht automatisch gut.

Mama gibt die Fernbedienung frei, verlegt sich aufs Reden. Thema Schule. Es geht um Leistungsfähigkeit, gesunden Schlaf, schädliches blaues Licht und wie es irgend so ein hochwichtiges Schlafhormon ausbremst. Dass meine Augen Schaden nehmen könnten. Dass Elektrogeräte nicht ans Bett gehören. Sie weiß, wovon sie spricht. Meine Mutter liest viel über Krankheiten und merkt sich alles genau, als könnte jederzeit jemand vorbeikommen und sie abfragen, an ihr ist eine Ärztin verloren gegangen.

Ich fühle mich angemessen kunstlichtverstrahlt und schlafhormonell unterversorgt und richte meine Konzentration auf die Stimme aus dem Fernseher, die so viel ruhiger und tiefer ist als ihre. Die Hoover-Talsperre staut den Colorado zu einem See und erzeugt jährlich vier Milliarden Kilowattstunden Strom. Die Flussmündung liegt in Mexiko, dort kommt nur noch ganz wenig Wasser an, und das auch nur unterirdisch. Bei uns gibt es keine Stauseen, sondern Sperrwerke. Wasser nie zu wenig, oft zu viel. Große und kleine Flüsse, meterhoch eingedeicht, Bäche, Fleete, Kanäle, Gräben, Fischteiche, Pfützen, Moore. Gespeist durch unterirdische Quellen, aufsteigendes Grundwasser, aber vor allem durch den Regen. Regen in allen erdenklichen Variationen. Keine Großwetterlage fühlt sich hier so zu Hause wie die atlantischen Tiefausläufer. Wind meistens stramm aus Nordwest.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«

Sehe ich so aus?

»Ich schalte gleich ab, versprochen. Nur noch fünf Minuten, okay?«

Mama seufzt. »Dann stell wenigstens den Ton leiser. Papa muss ganz früh raus.«

Muss er immer. Und die Titanic, auf der ich zu Hause bin, ist leider sehr hellhörig. Von außen Backstein auf Backstein, von innen alles Pappe.

Ich reduziere die Lautstärke auf neun. »So?«

»Okay.« Sie tritt den Rückzug an. »Aber nur noch fünf Minuten. Sei vernünftig. Denk an die Schule.«

Unentwegt. Denkt überhaupt irgendjemand mal einen halben Tag lang nicht an die Schule? Niemand, den ich kenne.

Noten Klausur Abschlussarbeit Referat Druck Freunde Hausmeister

Lieblingslehrer Schulbus Handyverbot Turnhalle Mief

Hausaufgaben Mobbing Schule verliebt Lästern Quatsch

Klassenfahrt Clique Loser Beautyqueen Klassenclown Angst Selbstmord

Opfer Einsamkeit

#mariasletztertag, 3 Videos, 45 Sekunden insgesamt, gepostet auf Instagram von nobody_is_unperfect

Ein Klassenzimmer wie tausend andere. Stühle und Tische in U-Form, Plastik und Resopal. Handys verboten, Reden sowieso. Lachen unter Umständen erlaubt, aber nur bei bestimmten Witzen. Die Lehrerin: keine Stilikone (Überraschung!), Kurzhaarschnitt in Grau meliert, bequeme Schuhe, Nägel nicht gemacht. Wie der Raum und sein Mobiliar sieht sie aus, als würde sie den Job schon ein paar Jahre machen. Eher ein paar zu viel. Sonst würde sie nicht so schreien.

Wie kann sie so schreien? Nicht, dass man es hören würde – Nobody_is_unperfect hat gnädigerweise die Tonspur ausgetauscht –, das ist auch nicht nötig, wir alle wissen genau, wie es klingt, angeschrien zu werden, weil wir unser Handy benutzt, geredet oder uns untereinander angeschrien haben, was wir andauernd tun, zugegeben. Aber Lehrer sollten nicht schreien, oder? Sie stellen diese ganzen Regeln auf, also müssten sie die Ersten sein, die sie befolgen. Mit gutem Beispiel voran. Diese Lehrerin jedenfalls schreit sich den Frust aus dem Leib, in ihrem ungeschminkten Mausgesicht steht die Überzeugung, dass die Schüler früher besser waren. Besser erzogen. Besser angezogen. Besser gezeugt von besseren Eltern.

Lehrer – auch nur Menschen, schon klar. Manche haben etwas Heldenhaftes an sich. Aber wie viele von ihnen sind eigentlich nur deswegen Lehrer geworden, weil es für etwas anderes nicht gereicht hat? Zu viele, ganz sicher. Diese Lehrer mögen uns nicht, was wir spüren, daher mögen wir sie auch nicht. Ihre offensichtliche Hilflosigkeit. Ihre Arroganz. Eingeständnis der Niederlage, den Absprung in das Leben, von dem sie als Schüler träumten, nicht geschafft zu haben. Sie denken wahrscheinlich, ihre Wutausbrüche würden an uns abprallen, sind wir doch selbst meistens viel zu laut, aber leider irren sie sich. Etwas bleibt hängen. Etwas Verdorbenes.

Auf dem Video also Musik statt Geschrei, ein richtig cooler Stinkefinger-Song von der Art, we are young, ihr...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Abitur • Beste Freundin • Coming of Age • Coming of Age, beste Freundin, Mutproben, Videoblog, Liebe , Krebs, Sommer ohne Angst, Der Gleichmut der Unendlichkeit, Abitur, Janne Teller • Der Gleichmut der Unendlichkeit • eBooks • Janne Teller • Jugendbuch • Jugendbücher • Krebs • Liebe • Mutproben • Sommer ohne Angst • Videoblog • Young Adult
ISBN-10 3-641-15073-6 / 3641150736
ISBN-13 978-3-641-15073-0 / 9783641150730
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