Als New Yorker Anwältin hat es Samantha Kofer binnen weniger Jahre zu Erfolg gebracht. Mit der Finanzkrise ändert sich alles. Samantha wird gefeuert. Doch für ein Jahr Pro-Bono-Engagement bekommt sie ihren Job zurück. Samantha geht nach Brady, Virginia, einem 2000-Seelen-Ort, der sie vor große Herausforderungen stellt. Denn anders als ihre New Yorker Klienten, denen es um Macht und Geld ging, kämpfen die Einwohner Bradys um ihr Leben. Ein Kampf, den Samantha bald zu ihrem eigenen macht und der sie das Leben kosten könnte.
Samantha Kofer, ambitionierte Anwältin bei einer der größten Kanzleien in New York, wird kurz nach dem Untergang der US-Investmentbank Lehman Brothers von ihrem Job freigestellt. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen, die von einem auf den anderen Tag auf der Straße stehen, bietet man ihr einen Deal an: Wenn sie für ein Jahr ohne Gehalt bei einer Non-Profit-Organisation arbeitet, behält sie ihren Job. So verschlägt es Samantha nach Brady, einem kleinen Ort in den Bergen Virginias, wo sie bei einer Beratungsstelle für kostenlosen Rechtsbeistand anheuert. Anfangs noch etwas unbeholfen in der ungewohnten Umgebung, entwickelt Samantha bald ein Gespür für die Nöte der Einwohner Bradys. Menschen, die auf den umliegenden Kohlefeldern jahrelang Schwerstarbeit geleistet haben und nun, ausgebrannt oder erkrankt, von den Kohleunternehmen im Stich gelassen werden. Der tragische Fall eines Arbeiters, der von Elend und Krankheit so gezeichnet ist, dass ihm nur noch wenige Monate zu leben bleiben, lässt Samantha schließlich über sich hinauswachsen. Gemeinsam mit einem befreundeten Anwalt nimmt sie den Kampf gegen die Kohlemagnaten auf und schreckt auch dann nicht zurück, als ihr Leben akut bedroht wird.
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 37/2016) — Platz 17
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1
Das Schlimmste war das Warten. Die Ungewissheit, die schlaflosen Nächte, die Magengeschwüre. Kollegen gingen einander aus dem Weg und verriegelten ihre Bürotüren. Sekretärinnen und Rechtsassistenten verbreiteten unter vorgehaltener Hand Gerüchte. Die Stimmung war gereizt, und jeder fragte sich, wen es als Nächsten treffen würde. Die Partner aus der obersten Führungsetage wirkten wie gelähmt und mieden jeden Kontakt mit ihren Untergebenen. Wer wusste schon, wem man bald das Messer in die Brust rammen musste.
Die Gerüchteküche brodelte. In der Abteilung Zivilprozesse habe es zehn Mitarbeiter erwischt – fast richtig, tatsächlich waren es nur sieben. Die Nachlassabteilung sei komplett aufgelöst worden, mitsamt der Leitung – das stimmte. Acht Partner aus der Kartellabteilung hätten sich zu einer anderen Kanzlei gerettet – falsch, zumindest bislang.
Die Atmosphäre war so vergiftet, dass Samantha das Büro möglichst oft verließ, um sich mit ihrem Laptop in ein Café in Lower Manhattan zu setzen und dort zu arbeiten. Einmal saß sie bei schönem Wetter auf einer Parkbank – es war Tag zehn nach dem Kollaps von Lehman Brothers – und betrachtete das hohe Gebäude weiter unten in der Broad Street mit der Hausnummer 110. Die gesamte obere Hälfte war von Scully & Pershing gemietet, der größten Anwaltskanzlei, die die Welt je gesehen hatte und die ihr Arbeitgeber war. Noch, zumindest, denn die Zukunft war alles andere als gewiss. Zweitausend Anwälte waren bei der Großkanzlei beschäftigt, in zwanzig Ländern, die Hälfte davon in New York, tausend Juristen zwischen der dreißigsten und der fünfundsechzigsten Etage. Wie viele von ihnen würden am liebsten aus dem Fenster springen? Samantha konnte es nicht einschätzen, aber sie war sicher nicht die Einzige. Die größte Kanzlei der Welt schnurrte zusammen wie ein Luftballon, nicht anders als die Konkurrenz. Die Welt der Großkanzleien war genauso in Panik wie die Hedgefonds, Investmentbanken, Endverbraucherbanken, Versicherungsgesellschaften, die Regierung in Washington und die Einzelhändler in der Main Street.
Tag zehn verging ohne Gemetzel, ebenso Tag elf. Am zwölften Tag kam ein Funke Optimismus auf, als Ben, einer von Samanthas Kollegen, das Gerücht mitbrachte, die Londoner Kreditmärkte lockerten angeblich ein wenig die Zügel, sodass unter Umständen bald wieder Gelder zu haben seien. Am späten Nachmittag jedoch war klar, dass an diesem Gerücht nichts dran war. Und so warteten sie weiter.
Zwei Partner leiteten bei Scully & Pershing die Abteilung Gewerbliche Immobilien. Der eine stand kurz vor dem Rentenalter und war bereits vor die Tür gesetzt worden. Der andere war Andy Grubman, vierzig, Bürohengst. Er hatte noch nie einen Gerichtssaal von innen gesehen. Als Partner bewohnte er ein schönes Büro mit Fernblick auf den Hudson, dessen Wasser er jedoch seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Auf einem Regal hinter seinem Schreibtisch stand zwischen Diplomen und Auszeichnungen eine Sammlung Hochhausmodelle, die er »meine Türme« nannte. Sobald eines seiner Objekte fertiggestellt war, beauftragte er einen Bildhauer, eine Miniatur davon anzufertigen. Eine noch kleinere Version davon schenkte er dann den Mitgliedern »meines Teams«. In den drei Jahren, die sie für S&P arbeitete, hatte Samantha sechs »Türme« gesammelt. Mehr würden es nicht werden.
»Setzen Sie sich«, ordnete er an und schloss die Tür. Samantha nahm neben Ben und Izabelle Platz. Die drei Angestellten blickten beim Warten starr auf ihre Füße. Samantha verspürte den Drang, Bens Hand zu ergreifen, in Panik wie eine Gefangene vor einem Erschießungskommando. Grubman sank auf seinen Stuhl. Ohne sie anzusehen, bedacht, die Sache möglichst rasch hinter sich zu bringen, begann er, den Schlamassel darzulegen, in dem sie sich befanden.
»Wie Sie wissen, ist Lehman Brothers vor vierzehn Tagen kollabiert.«
Ach tatsächlich, Mr. Grubman! Finanzkrise und Kreditcrash haben die Welt an den Rand einer Katastrophe gebracht. Das weiß jeder. Aber wann haben Sie schon mal etwas Originelles von sich gegeben?
»Wir arbeiten an fünf Projekten, die alle von Lehman finanziert werden. Ich habe mit den Investoren gesprochen, sie werden alle Mittel abziehen. Drei weitere Aufträge waren in der Pipeline, zwei mit Lehman, einer mit Lloyd’s, aber, nun ja, alle Kredite liegen auf Eis. Die Banker haben sich verschanzt und trauen sich keinen Penny mehr herauszugeben.«
Ja, Mr. Grubman, auch das wissen wir. Das steht auf den Titelseiten der Zeitungen. Jetzt machen Sie schon, sonst springen wir.
»Der Vorstand hat sich gestern zusammengesetzt und einige Kürzungen beschlossen. Dreißig im letzten Jahr neu eingestellte Mitarbeiter werden freigestellt, manche davon fristlos gekündigt. Alle Neuen bleiben bis auf Weiteres in der Warteschleife. Die Nachlassabteilung wurde aufgelöst. Und, nun ja, es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber auch unsere gesamte Abteilung wird aufgelöst, rausgekürzt, eliminiert. Wer weiß, wann wieder gebaut wird, wenn überhaupt jemals. Die Kanzlei ist nicht bereit, Sie weiter zu beschäftigen, solange die Welt auf Kreditangebote wartet. Verdammt, wir könnten auf eine schlimme Depression zusteuern. Das ist wahrscheinlich nur die erste Runde von Kürzungen. Tut mir leid für Sie. Tut mir wirklich leid.«
Ben sprach als Erster. »Dann sind wir fristlos entlassen?«
»Nein. Ich habe mich natürlich für Sie eingesetzt. Zunächst wollten die Sie umstandslos vor die Tür setzen. Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass wir die kleinste Abteilung der Kanzlei sind und es uns im Moment wahrscheinlich am härtesten trifft. Ich konnte ihnen ein Arrangement abringen, das man als Beurlaubung bezeichnen kann. Sie gehen jetzt, kommen aber später vielleicht wieder.«
»Vielleicht?«, fragte Samantha. Izabelle wischte sich eine Träne ab, behielt jedoch die Fassung.
»Ja, ein dickes, fettes Vielleicht. Im Moment ist eben nichts sicher, Samantha. Wir tun, was wir können. In sechs Monaten könnten wir alle an der Suppenküche stehen. Sie kennen die Fotos von 1929.«
Ach, Mr. Grubman, die Suppenküche, ernsthaft? Als Partner haben Sie letztes Jahr 2,8 Millionen Dollar netto verdient, das war ein Durchschnittsgehalt bei S&P, die damit beim Nettoeinkommen pro Partner auf Platz vier der Rangliste rangierten. Was natürlich nicht gut genug war, jedenfalls nicht, bis Lehman die Luft ausging, Bear Stearns zusammenbrach und die Hypothekenblase platzte. Plötzlich sah der vierte Rang ziemlich gut aus, zumindest für den einen oder anderen.
»Was ist unter Beurlaubung zu verstehen?«, fragte Ben.
»Der Deal sieht so aus: Die Kanzlei behält Sie für die nächsten zwölf Monate unter Vertrag, aber Sie bekommen kein Gehalt.«
»Wie nett«, murmelte Izabelle.
Ohne auf sie einzugehen, fuhr Grubman fort: »Sie behalten Ihre Krankenversicherung, aber nur, wenn Sie für eine von uns ausgewählte gemeinnützige Organisation ehrenamtlich tätig werden. Die Personalabteilung stellt eine Liste geeigneter Vereine zusammen. Sie gehen jetzt, tun ein bisschen was Gutes, retten die Welt, in der Hoffnung, dass die Wirtschaft sich erholt, dann steigen Sie in einem Jahr wieder ein, ohne an Seniorität verloren zu haben. Sie werden zwar nicht mehr gewerbliche Immobilien betreuen, aber die Kanzlei wird eine Stelle für Sie finden.«
»Sind unsere Jobs denn nach der Beurlaubung garantiert?«, wollte Samantha wissen.
»Garantiert ist gar nichts. Ehrlich gesagt, niemand kann vorhersagen, wo wir in einem Jahr sein werden. Präsidentschaftswahlen stehen vor der Tür, Europa steuert auf den Abgrund zu, die Chinesen drehen durch, Banken kollabieren, Märkte brechen ein, niemand baut oder kauft. Das Ende der Welt ist nah.«
Einen Augenblick lang verharrten die vier stumm in der düsteren Stille von Grubmans Büro, gelähmt vom Gedanken an den bevorstehenden Weltuntergang. Schließlich erkundigte sich Ben: »Sie auch, Mr. Grubman?«
»Nein. Ich wurde versetzt. In die Steuerabteilung. Können Sie sich das vorstellen? Ich hasse Steuer. Aber es gab nur die Wahl zwischen Steuer oder Taxifahren. Immerhin habe ich Steuerrecht studiert, da dachten sie wohl, sie könnten mich verschonen.«
»Glückwunsch«, sagte Ben.
»Es tut mir so leid für Sie.«
»Nein, ich meine es ernst. Ich freue mich für Sie.«
»In einem Monat könnte ich auch auf der Straße stehen. Wer weiß?«
»Wann sollen wir gehen?«, fragte Izabelle.
»Sofort. Sie werden zuerst eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnen, dann packen Sie Ihre Sachen und gehen. Die Personalabteilung wird Ihnen eine Liste von gemeinnützigen Organisationen samt den erforderlichen Unterlagen mailen. Es tut mir so leid.«
»Hören Sie auf, das zu sagen«, sagte Samantha. »Nichts, was Sie sagen, kann uns helfen.«
»Das stimmt, aber es könnte noch schlimmer sein. Die meisten in Ihrer Situation haben keine Beurlaubung angeboten bekommen. Sie wurden einfach so gefeuert.«
»Verzeihen Sie, Mr. Grubman«, bat Samantha. »Ich bin ziemlich durcheinander.«
»Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das. Sie haben jedes Recht, wütend und aufgebracht zu sein. Ich meine, Sie alle haben an Eliteuniversitäten studiert, und jetzt werden Sie abgeführt wie Einbrecher. Entlassen wie Fabrikarbeiter. Es ist schrecklich, einfach...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2015 |
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Übersetzer | Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter, Imke Walsh-Araya |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Gray Mountain |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Agententhriller • Anwältin • Anwältin, Spannung, Umweltzerstörung, Virginia, Finanzcrash, Appalachen, Kohleförderung, Ausbeutung, Justizthriller • Appalachen • Ausbeutung • eBooks • Finanzcrash • Justizthriller • Kohleförderung • Politthriller • Spannung • Thriller • Umweltzerstörung • Virginia |
ISBN-10 | 3-641-16469-9 / 3641164699 |
ISBN-13 | 978-3-641-16469-0 / 9783641164690 |
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