Die Fäden der Zeit (eBook)

Roman

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
384 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-15831-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Fäden der Zeit -  Lori Lee
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Nur wenn sie ihr Geheimnis aufs Spiel setzt, kann sie ihren Bruder retten!
Das Labyrinth, wie die Bewohner die Slums von Ninurta bezeichnen, ist düster und steckt voller Geheimnisse. Eines davon hütet die 17-jährige Kai - sie kann die Fäden der Zeit sehen und manipulieren. Gemeinsam mit ihrem Bruder Reev lebt sie daher unauffällig, mit dem Ziel, eines Tages das Elend des Labyrinths hinter sich zu lassen.
Doch dann verschwindet Reev. Zusammen mit Avan, ihrem einzigen Freund, setzt Kai alles daran, ihren Bruder zu finden. Selbst wenn sie dafür ihr Geheimnis aufs Spiel setzen und die schützenden Mauern der Stadt hinter sich lassen muss ...

Lori M. Lee wurde in den Bergen von Laos geboren und verbrachte einige Jahre in einem Flüchtlingscamp in Thailand, bevor sie mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte. Derzeit lebt sie mit ihrem Ehemann in Wisconsin und arbeitet als Internetexpertin für eine große Zeitschrift. Außerdem schreibt sie einen Blog und twittert, wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Roman arbeitet.

KAPITEL 1

Der Tod lebte in einem Glasturm in der Mitte des Weißen Hofes. Man konnte den Turm von jedem Punkt der Stadt aus sehen. Der Tod – er hatte wahrscheinlich auch einen richtigen Namen – war Kahl Ninus rechte Hand und sein Henker. Es kursierte das Gerücht, dass er eine Frau war. Mir persönlich war eigentlich egal, was man sich über ihn erzählte, solange nicht mein Kopf auf seinem Henkersblock landete.

Die Tatsache, dass der Scharfrichter des Kahls im eindrucksvollsten Gebäude der Stadt lebte, war nicht der einzige Grund, warum ich den Weißen Hof mied. Ich drang nie tiefer in das Viertel vor als bis zu den Baracken, die sich an der inneren Mauer entlangzogen. Doch selbst dort konnte ich sehen, wie die aufwändig gearbeiteten Grautiere des Weißen Hofes über die gepflasterten Straßen sausten, manche in der Form von Monstern, ihre hoch aufragenden Körper groß genug, um drei Reiter zu tragen.

Der Riemen meiner Botentasche schnitt in meine Schulter. Ich rückte ihn gerade, als ich nach rechts abbog, Richtung Tor. Sechs Meter hohe Mauern trennten den Weißen Hof vom Rest der Stadt. Nur Personen mit Zulassungspapieren durften passieren.

»Bis morgen, Kai.« Der Wachmann winkte mich durch.

Als Briefträgerin wurde mir während meiner Arbeitszeit Zutritt zum Weißen Hof gewährt.

Ich entspannte mich, sobald ich das Tor hinter mir gelassen hatte. Das Nordviertel – von manchen liebevoll Allee genannt, von anderen nicht so liebevoll Fegefeuer – unterschied sich vollkommen von der Stadt hinter den Mauern. Die Gebäude waren aus einfachen Steinen und Ziegeln erbaut, hässlich und braun, beinahe schon beruhigend in ihrer Eintönigkeit.

Ich trat über den Randstein in die Abflussrinne, um einer Stelle auf dem Bürgersteig auszuweichen, auf der Scherben glitzerten. Direkt über der Pfütze aus Glas gähnte in der bröckelnden Wand des Gebäudes ein zerbrochenes Fenster, aus dessen Rahmen noch vereinzelte spitze Kanten ragten. Ich bog um die Ecke und warf einen Blick auf das Poster, das an einem verbeulten Laternenmast hing. Es war eines von gerade mal einem halben Dutzend Plakaten in dieser Gegend – es ergab einfach keinen Sinn, bei Leuten zu werben, die keine Punkte auf ihrem Konto hatten.

Das Poster zeigte ein halbnacktes Paar, das die Leute dazu verführen sollte, das Vergnügungsviertel unten an den Docks zu besuchen. Letzte Woche war es noch irgendein Mist über die wundersame Stadt Ninurta gewesen, in der wir lebten. Wer auch immer hier plakatierte, war nicht gerade die hellste Leuchte. Wen wollte er damit eigentlich ansprechen?

Eine Schulter rammte mich, als ich auf den Gehweg zurücktrat. Ich machte mir nicht die Mühe, im Weitergehen meine Taschen zu kontrollieren. Sie waren bereits leer. Manchmal steckte ich auf dem Nachhauseweg kleine Zettel hinein, die einen Taschendieb vielleicht amüsieren könnten: »Versuch es morgen nochmal, heute hatte ich meine Diamanten vergessen!« oder »Bei dem Kerl da drüben könntest du mehr Glück haben!« neben einem Pfeil, der in eine beliebige Richtung zeigte.

Naja, mich amüsierten diese Nachrichten auf jeden Fall.

Der Gehsteig wurde noch schmaler. Ein paar Jungs, die ich aus der Schule kannte, lungerten an der Ecke herum, ihre lauten Stimmen hallten über das aufgebrochene Pflaster. Einer von ihnen nahm einen letzten Bissen von seinem Apfel und warf den Rest dann auf ein vorbeiwanderndes Grautier, das die stolze Form eines Hirsches mit gebogenem Geweih aufwies. Der Graue, wie sie auch genannt wurden, war auf dem Weg zum Weißen Hof. Er war, wie seine Artgenossen, leicht von den Allee-Grautieren zu unterscheiden, denn die waren dreckig und verrostet.

Der Hirsch riss den Kopf hoch, als der Apfel ihn traf, und der Reiter schrie etwas, doch das Gelächter der Jungen übertönte seine Worte.

Ich vermied jeden Augenkontakt und drückte die Botentasche enger an meinen Körper. Rechts von mir war eine Ladenzeile. Gestreifte Markisen hingen über hölzernen Stützpfeilern, die Fenster waren verklebt mit Werbeplakaten für die neuesten Untergrundclubs – die Art von Läden, von denen mein Bruder gar nichts hielt.

Ich stieg über eine schlammige braune Pfütze hinweg und bog in eine enge Gasse ab, um den Weg zur Nordviertel-Postzentrale abzukürzen. Wäsche hing an den Ziegelwänden links und rechts, während sich verrostete Rohre an den Mauern wie Adern nach oben schlängelten. Ich hielt mich in der Mitte der Gasse; die Wände waren mit einem feuchten grünen Schleim überzogen, der sich wahrscheinlich jederzeit in Bewegung setzen konnte.

Vor mir lehnte eine junge Frau mit einem schwarz-weiß gestreiften Irokesenschnitt an den Sprossen einer kaputten Feuerleiter. Die alten Scharniere knirschten unter ihrem Gewicht. Sie starrte auf ihre grauen Stiefel hinunter, die Hände in den Taschen ihres Sweatshirts vergraben.

Ich bewegte mich mit eiligen Schritten voran. Als ich auf ihrer Höhe war, nickte ich dem Mädchen zu – nur um höflich zu sein. Reev erklärte immer, man solle höflich sein, auch wenn sich niemand die Mühe machte, diese Geste zu erwidern.

Das Mädchen sprang urplötzlich vor und rammte mich gegen die Wand auf der anderen Seite der engen Gasse. Ich keuchte, als wir gegen die Steine knallten, auch wenn meine Tasche den Aufprall abfing, und riss den Arm hoch, um sie abzuwehren, doch sie schlug ihn einfach zur Seite.

Dreckige, aber starke Finger schlossen sich um meine Kehle. Eine feuchte Hand landete auf meinem Schlüsselbein, und etwas Scharfes bohrte sich mir auf Höhe der Rippen in die Haut.

Sollte meine Tunika reißen, würde ich sie vermöbeln. Mein Hemd war dunkelgrau, mit fast durchgescheuerten Ellbogen und sich lösenden Fäden am Saum – nichts Besonderes, bis auf die Tatsache, dass Reev es für mich gemacht hatte.

»Ein bisschen weit weg vom Weißen Hof, oder?«, höhnte das Mädchen. Ihre Lippen waren leuchtend rot. »Was glaubst du, wie viel würde jemand zahlen, um dich zurückzubekommen?«

Ich hörte auf mich zu wehren. Was? Ein Lachen stieg aus meiner Kehle auf. Okay, das war mal was Neues.

Der Griff an meinem Hals lockerte sich, und das Mädchen zuckte leicht zusammen. »Was ist daran so witzig?«

»Ich lebe im Labyrinth«, erklärte ich ausdruckslos.

Wenn das Nordviertel das Fegefeuer war, dann war das Labyrinth die Hölle. Labyrinth war der Name, den wir dem Ostquartier gegeben hatten, wegen des Irrgartens aus aufgestapelten Frachtcontainern, die in Wohnungen verwandelt worden waren. Sie standen so dicht neben- und aneinander, dass sie quasi eine Stadt innerhalb der Stadt bildeten. Im Labyrinth gab es ganz eigene Gesetze, und wer dort wohnte, befand sich am unteren Ende der sozialen Nahrungskette – was in Ninurta wirklich etwas heißen wollte.

»Niemand wird auch nur einen Punkt für mich zahlen«, sagte ich.

Das war eine Lüge. Reev würde alles hergeben, was wir gespart hatten, um den tropfenden Metallwänden und der bedrückenden Enge des Labyrinths zu entkommen, und für mich hätte er sogar noch mehr aufgegeben. Doch das durfte ich auf keinen Fall zulassen.

»Ich habe gesehen, dass du aus dem Weißen Hof gekommen bist«, sagte das Mädchen.

Ihre verschwitzte Hand bewegte sich unruhig auf meiner Haut. Die Nervosität, die von ihr ausging, war besorgniserregend – dadurch wurde sie nur noch unberechenbarer.

»Schau genauer hin«, sagte ich und warf einen Blick zu dem Riemen der Botentasche auf meiner Schulter.

Ich schob meine langen dunklen Haare zur Seite, und das Mädchen konzentrierte sich auf den gelben Vogel, der in den alten Stoff des Tragegurts gestickt war. Der fliegende Vogel war das Logo der Postzentrale – ein Symbol der Freiheit, was wirklich kurios war. Ich versuchte die meiste Zeit, nicht über die Ironie der Bedeutung nachzudenken, weil ich sonst die Augen so sehr verdreht hätte, dass ich selbst von hier aus die Einöde gesehen hätte.

In dem Moment, in dem das Mädchen begriff, was es da sah, wurde ihr Körper starr und ihr bereits fahles Gesicht noch bleicher.

»Nun«, setzte sie an, »du … ich …« Sie stieß einen Fluch aus und drückte ihre Waffe fester gegen meine Rippen. Dann fluchte sie noch einmal.

»Sind wir bald fertig?«

Irgendwie tat sie mir leid. Sie konnte kaum älter sein als ich, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Allerdings hatten die meisten Geschöpfe dieser Gegend schon mit fünf ihren ersten Ladeneinbruch hinter sich. Ich hatte keine Ahnung, ob das auch für mich galt – ich konnte mich an nichts erinnern, was vor meinem achten Lebensjahr geschehen war.

Ich musste weiter, oder ich würde meine Tasche zu spät in der NPZ abgeben. Meine Tour unterlag einem strengen Zeitplan, und ich konnte es mir nicht leisten, Punkte zu verlieren.

Das Mädchen umfasste meinen Hals wieder fester. »Du bist hübsch«, sagte sie, während ihr Blick mein Gesicht absuchte. »Diese Augen sind etwas ganz Besonderes.«

Ich stöhnte. Jetzt ging es los.

»Ich wette, du würdest an den Docks gutes Geld einbringen.«

Ich hatte genug gehört.

Ich streckte meinen Geist und tastete nach den Fäden der Zeit, die um uns herumflossen. Sie waren überall – wenn man sie denn sehen konnte. Sie verbanden die Leute, die verwitterten Gebäude, die Steine unter meinen Füßen. Die Fäden drängten alles in gleichmäßiger Geschwindigkeit voran. Immer weiter. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie meine Finger an den Fasern zogen, bis sich der Fluss der Zeit verlangsamte.

Die Zeit stoppte niemals ganz. Den Fluss der Zeit...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2015
Übersetzer Vanessa Lamatsch
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Gates of Thread and Stone 1
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Abenteuer • All Age • eBooks • Fantasy • Heroische Fantasy • High Fantasy • Magie • Magie, Abenteuer, weiblich • Weiblich
ISBN-10 3-641-15831-1 / 3641158311
ISBN-13 978-3-641-15831-6 / 9783641158316
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