Doktor Shiwago (eBook)
704 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403235-1 (ISBN)
Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 ?Doktor Shiwago? abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. a. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau.
Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 ›Doktor Shiwago‹ abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. a. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau. Thomas Reschke, 1932 in Danzig geboren, ist einer der profiliertesten Übersetzer aus dem Russischen und übertrug neben vielen zeitgenössischen Autoren Klassiker wie Michail Bulgakow, Maxim Gorki, Nikolaj Gogol und den Dichter und Liedermacher Bulat Okudschawa.
Monumentales Zeitgemälde und wunderbare Liebesgeschichte
Erstes Buch
Erster Teil Der Fünf-Uhr-Schnellzug
1
Sie gingen und gingen und sangen das »Ewige Gedenken«, und jedesmal, wenn sie innehielten, schienen die Füße, die Pferdehufe, die Windstöße den Gesang harmonisch fortzusetzen.
Die Passanten ließen den Trauerzug vorüber, zählten die Kränze, bekreuzigten sich. Neugierige folgten der Prozession, fragten: »Wer wird beerdigt?« Sie bekamen zur Antwort: »Shiwago.« Aha. Verstehe. »Doch nicht er. Seine Frau.« Dennoch. Gott schenke ihr das Himmelreich. Ein reiches Begräbnis.
Die letzten Minuten verflogen, gezählt, unwiederbringlich. »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist; der Erdboden und was darauf wohnt.« Der Geistliche warf mit kreuzschlagender Geste eine Handvoll Erde auf Maria Nikolajewna Shiwago. »Im Geiste der Gerechten« wurde angestimmt. Dann hatten es alle schrecklich eilig. Der Sarg wurde geschlossen, zugenagelt, hinabgesenkt. Ein Regen von Erdklumpen prasselte auf ihn herab, vier Spaten schaufelten hastig das Grab zu. Darauf wuchs ein Hügelchen. Auf dieses stieg ein zehnjähriger Junge.
Nur im Zustand der Abgestumpftheit und Fühllosigkeit, der am Ende großer Beerdigungen einzutreten pflegt, konnte man den Eindruck gewinnen, daß der Junge auf dem Grab seiner Mutter eine Rede halten wollte.
Er hob den Kopf und ließ von seinem erhöhten Standpunkt aus abwesend den Blick über die herbstlichen Weiten und die Kuppeln des Klosters gleiten. Sein stupsnasiges Gesicht verzerrte sich. Sein Hals reckte sich hoch. Bei einem Wolfsjungen würde man an dieser Bewegung erkannt haben, daß es losheulen wollte. Der Junge hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte. Eine auf ihn zufliegende Wolke peitschte ihm mit den nassen Ruten eines kalten Platzregens Gesicht und Hände. An das Grab trat ein Mann in Schwarz mit eng anliegenden faltenziehenden Ärmeln. Es war der Bruder der Verstorbenen und der Onkel des weinenden Jungen, der auf eigenen Wunsch aus dem Priesterstand ausgeschiedene Nikolai Nikolajewitsch Wedenjapin. Er nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn vom Friedhof.
2
Sie übernachteten in einem der Klosterräume, der Wedenjapin als altem Bekannten zugewiesen wurde. Tags darauf, an Mariä Schutz und Fürbitte, sollten Onkel und Neffe eine weite Reise in den Süden antreten, in eine der Gouvernementsstädte im Wolgaland, wo Vater Nikolai in einem Verlag arbeitete, der die progressive Zeitung der Region herausgab. Die Fahrkarten waren gekauft, die Sachen gepackt, sie standen in der Klosterzelle. Vom nahen Bahnhof trug der Wind die weinerlichen Pfeifkonzerte der dort rangierenden Lokomotiven herüber.
Gegen Abend wurde es sehr kalt. Die beiden ebenerdigen Fenster blickten in einen Winkel des kümmerlichen Gartens mit gelben Akazienbüschen, auf die gefrorenen Pfützen der Landstraße und auf den Teil des Friedhofs, wo Maria Shiwago am Tage beigesetzt worden war. Der Garten war leer bis auf ein paar Reihen Kohl, der in der Kälte bläulich schimmerte. Die fast kahlen Akazienbüsche schwankten bei jedem Windstoß wie Besessene und legten sich auf die Straße.
In der Nacht erwachte Jura von einem Klopfen ans Fenster. Die dunkle Zelle war überirdisch erleuchtet von weißem Flackerlicht. Jura lief im Nachthemd zum Fenster und drückte das Gesicht an die kalte Scheibe.
Draußen gab es weder die Straße noch den Friedhof, auch nicht den Garten. Ein Schneesturm tobte, die Luft rauchte von Schneestaub. Man konnte denken, der Sturm hätte Jura bemerkt und genösse im Bewußtsein seiner Schrecklichkeit den Eindruck, den er auf den Jungen machte. Er pfiff und heulte und trachtete mit allen Mitteln, Juras Aufmerksamkeit zu erregen. Vom Himmel senkte sich Bahn um Bahn ein endloses weißes Gewebe auf die Erde herab und hüllte sie in Leichentücher. Der Schneesturm war ganz allein auf der Welt, und nichts konnte es mit ihm aufnehmen.
Jura stieg vom Fensterbrett herunter. Am liebsten hätte er sich angezogen und wäre hinausgelaufen, um etwas zu tun. Vielleicht erschreckte ihn, daß der Kohl des Klosters ungeerntet zugeweht wurde, vielleicht auch, daß es seine Mutter zuschneite, daß sie wehrlos war und sie noch tiefer, weiter weg von ihm, in die Erde sank.
Wieder kamen ihm die Tränen. Der Onkel wachte auf, sprach zu ihm von Christus und tröstete ihn. Dann gähnte er, trat ans Fenster und überlegte. Sie zogen sich an. Es tagte.
3
Als Juras Mutter noch lebte, hatte er nicht gewußt, daß der Vater längst von ihnen weggegangen war, die Städte Sibiriens und das Ausland bereiste, ein zügelloses Säuferleben führte und ihr Millionenvermögen längst durchgebracht und verschleudert hatte. Man hatte Jura immer gesagt, der Vater wäre bald in Petersburg, bald auf einer Handelsmesse, zumeist in Irbit.
Dann brach bei der Mutter, die schon immer kränklich gewesen war, die Schwindsucht aus. Sie unternahm nun Reisen nach Südfrankreich und Oberitalien, um wieder gesund zu werden, und Jura durfte sie zweimal begleiten. In solcher Unordnung und voller Rätsel verlief seine Kindheit, oft bei fremden Menschen, die ständig wechselten. Er gewöhnte sich an diese Veränderungen, und in dem ewigen Hin und Her vermißte er den Vater nicht.
Als kleiner Junge hatte er noch die Zeit erlebt, als der Name, den er trug, viele ganz verschiedene Dinge bezeichnete.
Es gab die Shiwago-Manufaktur, die Shiwago-Bank, die Shiwago-Häuser, es gab die Shiwago-Methode, einem Krawattenknoten mit einer Nadel festen Halt zu verleihen, und es gab sogar einen süßen Rumkuchen mit dem Namen Shiwago, und man konnte eine Zeitlang in Moskau dem Kutscher zurufen »zu Shiwago!« wie dahin, wo sich die Füchse gute Nacht sagen!, dann fuhr er einen mit dem Schlitten über sieben Berge in ein Märchenreich. Man war von einem stillen Park umgeben. Auf die herunterhängenden Tannenzweige setzten sich, den Reif abschüttelnd, Krähen. Ihr Krächzen hallte lange nach wie das Knacken eines Astes. Von den Neubauten jenseits der Schneise kamen Rassehunde gelaufen. Dort wurden die Lichter angezündet. Es war Abend.
Mit einemmal zerstob das alles. Sie waren arm.
4
Im Sommer neunzehnhundertdrei fuhren Jura und sein Onkel in einem zweispännigen Reisewagen durch die Felder nach Dupljanka, auf das Gut des Seidenfabrikanten und Kunstmäzens Kologriwow, um den Pädagogen und Popularisator nützlicher Kenntnisse Iwan Woskoboinikow zu besuchen.
Es war um das Fest der Gottesmutter von Kasan, und die Ernte war in vollem Gange. Wegen der Mittagszeit oder des Festes aber war keine Menschenseele auf den Feldern. Die Sonne brannte auf die stehengebliebenen Getreidestreifen, die an halbrasierte Zuchthäuslerköpfe erinnerten. Über den Feldern kreisten Vögel. Der Weizen stand mit geneigten Ähren stramm angetreten in vollkommener Windstille oder ragte in Puppen fern der Straße, und man konnte, wenn man lange hinsah, den Eindruck gewinnen, als ob sich dort am Horizont Gestalten bewegten, Landmesser, die etwas notierten.
»Diese Felder«, erkundigte sich Wedenjapin bei Pawel, dem Arbeiter und Wächter des Buchverlags, der seitlich, krumm auf dem Bock saß, ein Bein übers andere geschlagen, zum Zeichen, daß er von Haus aus kein Kutscher sei und die Pferde nicht von Berufs wegen lenke, »diese Felder, gehören sie Gutsbesitzern oder Bauern?«
»Herrenland ist das«, antwortete Pawel und brannte sich umständlich eine Zigarette an, »und die da«, er machte ein paar Züge, dann zeigte er mit dem Peitschenstiel zur anderen Seite, »die sind unsere. He, schlaft ihr?« rief er immer wieder den Pferden zu, deren Schweife und Kruppen er ständig im Auge behielt wie ein Lokführer seine Manometer.
Aber die Pferde zogen wie alle Pferde auf der Welt, das heißt, das Gabelpferd mit der angeborenen Geradheit seiner schlichten Natur, das Beipferd hingegen hätte einem, der nichts davon verstand, als ausgemachter Faulpelz erscheinen können, der nur das eine im Sinn hatte, den Hals zu biegen wie ein Schwan und zu tänzeln beim Klang der Schellen, den es mit seinen Sprüngen selbst hervorbrachte.
Wedenjapin hatte für Woskoboinikow die Korrekturfahnen von dessen Buch über die Agrarfrage bei sich, die wegen des zunehmenden Drucks der Zensur auf den Verlag nochmals durchgesehen werden sollten.
»Das Volk im Kreis schlägt über die Stränge«, sagte Wedenjapin. »Im Landkreis Pankowskaja haben sie einen Kaufmann erstochen, und dem Landhauptmann haben sie das Gestüt angezündet. Was hältst du davon? Was sagen die Leute bei euch im Dorf?«
Es zeigte sich, daß Pawel die Dinge noch düsterer sah als selbst der Zensor, der Woskoboinikows Leidenschaft in der Agrarfrage zügeln wollte.
»Was sollen sie sagen? Das Volk ist von der Leine. Verwöhnt ist es, sagen sie. Bei unsereins ist alles drin. Gib den Mushiks Freiheit, dann murksen sie sich gegenseitig ab, wahrhaftigen Gottes. He, schlaft ihr?«
Es war die zweite Reise des Onkels und seines Neffen nach Dupljanka. Jura glaubte, den Weg in Erinnerung zu haben, und jedesmal, wenn sich die Fluren weiteten und nur noch von Waldstreifen gesäumt waren, kam es ihm so vor, als erkenne er die Stelle, wo die Straße nach rechts abbiegen und in der Kurve das zehn Werst breite Panorama von Kologriwows Besitz mit dem in der Ferne blinkenden Fluß und der dahinter verlaufenden Eisenbahnstrecke für einen Moment in Sicht kommen und gleich wieder verschwinden mußte. Aber er täuschte sich jedesmal. Den Feldern folgten weitere Felder, wieder und wieder von Wald eingefaßt. Dieser Wechsel der Räume hob die Stimmung. Man bekam Lust, zu träumen und an...
Erscheint lt. Verlag | 11.12.2014 |
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Nachwort | Ulrich Schmid |
Übersetzer | Thomas Reschke |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Anspruchsvolle Literatur • Arme Teufel • Auszeichnung • Iwinskaja • Krieg • Liebe • Nobelpreisträger • Publikation • Russland • Traumpaare • zwanzigstes |
ISBN-10 | 3-10-403235-1 / 3104032351 |
ISBN-13 | 978-3-10-403235-1 / 9783104032351 |
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